Valérie G. Topf liefert einen Bericht aus erster Hand über den Israel-Iran-Krieg. Sie sieht sich als Spielfigur in einem brutalen Spiel von: Wer hat den größeren?

00:21 Uhr Ich werde aus dem Schlaf gerissen, als der Alarm auf meinem Telefon schrillt: „In den nächsten Minuten werden in Ihrer Gegend Einschläge erwartet.“ Mein Körper reagiert instinktiv: Handy schnappen. Sicherstellen, dass die Familie die Warnung gehört hat. Toilette.

Vor sechs Monaten bin ich nach Israel eingewandert. Jetzt erlebe ich das Weltuntergangsszenario, mit dem jeder Israeli (jeder Jude?) aufgewachsen ist: ein Mehrfrontenkrieg mit dem Iran und seinen Stellvertretern.

Familie und Freunde im Ausland fragen, wie es ist. Ich gebe ihnen einen kurzen Abriss. Sie sind entsetzt – das wird in ihren Nachrichten nicht dargestellt. Hier also ein Bericht aus erster Hand von einem Tag während des Israel-Iran-Krieges:

00:24 Uhr Sirenen heulen draußen und mein Telefon zeigt an: „Eingehende Raketenangriffe in Ihrer Gegend.” Anderthalb Minuten, um zum Luftschutzbunker zu gelangen – los, los, los!
Ich biete meine Erfahrung mit Zurückhaltung an, da ich insgesamt privilegiert bin: Ich bin französisch-israelische Staatsbürgerin und lebe in Israel. Ich bin weder Iranerin im Iran, noch Palästinenserin in Palästina. Ich bleibe in einem Haus mit einem privaten Luftschutzbunker, habe keine Angehörigen zu versorgen, keine körperlichen Behinderungen und verfüge über finanzielle Rücklagen. Selbst die meisten meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger haben nicht so ein Glück.

Mein Onkel, meine Tante, meine kleine Cousine und ich sitzen auf dem Bunkerboden, grelles Neonlicht strahlt auf uns herab. Ich mache mir Sorgen, ob meine Oma, die alleine ein paar Häuser weiter wohnt, sicher in ihrem Bunker ist. Zum Glück muss sie nicht, wie viele Israelis, zu öffentlichen Bunkern ihrer Wohnhäuser rennen oder in spezielle öffentliche Parkgaragen und ähnliches sprinten. Andere haben natürlich gar keinen sicheren Unterschlupf: Beduinen, Menschen im Iran oder in Palästina.

Der Klang explodierender Raketen umgibt uns. Unbeschreiblich furchterregend. Ich dissoziiere von meinem Körper und beginne, mich in Gedanken woandershin zu versetzen. Mein Onkel holt mich zurück ins Hier und Jetzt, als er erklärt, dass iranische ballistische Raketen so groß wie Busse sind, aus dem Weltraum fallen und jeweils 700 kg TNT tragen. Ich weiß nicht, wie ich diese Informationen verarbeiten soll.

Das Radio knistert: Mehrere Raketen sind im Großraum Tel Aviv eingeschlagen. „Aus Sicherheitsgründen können wir die genauen Standorte nicht nennen und auch Sie sollten dies nicht, da der Iran die israelische Korrespondenz ausspioniert.” Keine bestätigten Opfer – bislang.

Ich frage mich: Steht unser Haus noch? Ist meine Oma sicher? Wurden Verwandte oder Freunde getroffen? Existiert meine Wohnung in Tel Aviv noch, in der alles ist, was ich in dieser Welt besitze? Ich versuche, tief durchzuatmen, aber es gelingt mir nicht. Wer möchte schon in solch einem Moment ganz anwesend sein? Ich überlasse meinen Körper sich selbst und ziehe mich wieder in meine Gedankenwelt zurück.

Meine Verwandten sind alle durch viele Kriege abgehärtet, aber ab und zu, wenn eine Explosion besonders ohrenbetäubend ist, die Nachricht von einem Raketeneinschlag in unserer Gegend veröffentlicht wird oder Tote und Verletzte gemeldet werden, zerbricht ihre Maske und ihre Gesichter verraten kurz tiefen Schmerz, Leid und Furcht.

00:45 Uhr Uns wird gesagt, dass wir den Bunker verlassen können. Ein Seufzer der Erleichterung. Ich schreibe meinen Angehörigen, dass uns nichts passiert ist und frage sie, ob sie auch sicher sind. Einige antworten nicht. Sollte ich mir Sorgen machen?

Mein Herz schmerzt bei dem Gedanken an die Israelis, die in den letzten 21 Minuten (und die Tage davor und danach) ihr Leben, ihre Angehörigen, ihre Gesundheit und ihr Zuhause verloren haben. Die zufällige Lotterie des Raketenbeschusses.

Ich stecke mittendrin, fühle mich, als ob ich außerhalb von Raum und Zeit existiere. Alles, was über mein unmittelbares Umfeld hinausgeht, ist in einem weiten Meer aus Dunkelheit verloren.
03:27 Uhr Ich schrecke aus einem unruhigen, alptraumgeplagten Schlaf auf: „In den nächsten Minuten werden Einschläge erwartet.“ Verdammt. Wie spät ist es? Wo bin ich? Habe ich überhaupt geschlafen?

03:29 Uhr Sirenen — anderthalb Minuten, renn-renn-renn!
03:42 Uhr Entwarnung.

Ich schleppe mich die Treppe aus dem Bunker hinauf, ein Gemisch aus hypervigilantem Wachsein und tiefster Erschöpfung. Wie viele Tage halte ich noch durch? Ich denke an die Palästinenser und Palästinenserinnen sowie die Geiseln im Gazastreifen, die schon seit 620 Tagen viel Schlimmeres ertragen. Ich flüstere: „Wie, wie können wir ihnen das antun?” Es erfüllt mich mit tiefer Betroffenheit.

Die Nachrichten flimmern über den Fernsehbildschirm: Eine Kakophonie aus Videos, Bildern und Statistiken stürzt auf meine Sinne. Sie verschlagen mir den Atem. Wie kann das real sein?

Ich schreibe allen, dass ich sicher bin und prüfe, ob sie sicher sind. Einige haben immer noch nicht geantwortet. Was bedeutet das?

04:00 Uhr Ich schrecke alle 30 bis 45 Minuten auf, eine Sirene erwartend. Verschwommene Traumvignetten — zählt das als Schlaf?
08:35 Uhr Gzrr, gzrr, gzrr: „In den nächsten Minuten werden in Ihrer Gegend Einschläge erwartet.“ Schon wieder?!
08:43 Uhr Sirenen.
09:02 Uhr „Raketenangriff – das Ereignis ist beendet.” Guten Morgen.

Ich scrolle durch die Schlagzeilen: 60-jährige Frau in Bat Yam getötet. Das beschreibt eine enge Familienfreundin! Ich rufe an. Keine Antwort. Panik. Ich rufe erneut an: Kiefer zusammengebissen, Bauch verkrampft, Beine zitternd. Sie geht ran. Sie ist sicher, gerade so – eine Rakete schlug wenige Blocks entfernt ein. Zehn Tote. Fast 200 Verletzte. 75 Gebäude beschädigt.

10:00 Uhr Ich koche Tee und denke an Zivilisten in Teheran: unter israelischem Beschuss, mit unzureichendem Schutz. Wir haben 224 getötet, und werden wahrscheinlich noch mehr töten. Mein Herz schmerzt vor Mitgefühl, Trauer und Verzweiflung. Und ja, auch vor Schuldgefühlen.

Ich lese E-Mails von pro-palästinensischen NGOs, bei denen ich engagiert bin – dem New Israel Fund, Combatants for Peace, The Parents’ Circle, Standing Together und Breaking the Silence — die um dringende Hilfe bitten. Ich kann von hier aus derzeit leider nicht viel tun. Ich spende Geld und verschiebe die Mails beschämt in den „Archivieren”-Ordner.

11:00 Uhr Ich schalte auf Autopilot um, wechsle unkonzentriert zwischen Arbeitsartikeln, den Nachrichten und meinem Handy hin und her (puh, meine Freunde haben geantwortet und sind alle „okay“!).

12:00 Uhr Meine Großmutter, die 84 Jahre alt ist, ruft an: Sie braucht Lebensmittel. Ich sage, dass ich für sie einkaufen gehen werde, weil es zu gefährlich für sie alleine ist. Sie droht alleine loszugehen, wenn sie mich nicht begleiten darf. Schachmatt.

Ich fahre zu ihr, bange, dass während des kurzen Weges eine Sirene heulen könnte. Protokoll, falls eine losgeht: Bauchlage im nächsten Graben, Hände über den Kopf verschränken. Ich bete, dass meine Oma, die den Holocaust überlebt hat, das nicht mitmachen muss.

Der Supermarkt ist überfüllt. Wir schleichen von Gang zu Gang. Ich versuche unterstützend, verständnisvoll und einfühlsam zu sein, aber drehe innerlich durch: Bitte, bitte, bitte lass gerade jetzt keinen Angriff passieren!

13:00 Uhr Wir stehen mehr als eine Stunde lang an. Die Leute teilen ihre Waren miteinander, bezahlen für diejenigen, die es nicht können. Israelis sind, im Guten wie im Schlechten, eine große Familie.

Ich umarme meine Oma, streiche ihr über den Rücken und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Sie ist seit Tagen in ihrer Wohnung eingeschlossen. Wann hat sie das letzte Mal eine menschliche Berührung erlebt?

15:00 Uhr Ich biete an, auf einen siebenjährigen Jungen aufzupassen. Sein Vater ist in der Armee und seine Mutter ringt mit einer Depression, besorgt, dass sie ihren Mann beim nächsten Mal mit einer israelischen Flagge bedeckt sehen wird. Der Junge baut eine Lego-Stadt, zerstört sie mit imaginären Raketen, platziert verletzte Lego-Menschen in ein Krankenhaus und demoliert es dann. Ich bin entsetzt. Er springt an Wänden hoch, rennt wild umher, heult alarmähnliche Geräusche und schlägt auf Dinge ein. Mein Körper zieht sich in Traurigkeit zusammen.

17:00 Uhr Zurück bei meiner Tante und meinem Onkel: erleichtert, wieder da zu sein (obwohl das heutzutage relativ ist).

17:09 Uhr Gzrr, gzrr, gzrr: „In den nächsten Minuten werden in Ihrer Gegend Einschläge erwartet.” Oh, come on! Mein Körper rüstet sich auf, Minuten vergehen, keine Sirene. Sie haben unsere Gegend verschont.

Ich höre meine Verwandten durchs Haus wuseln, ihre wertvollsten Besitztümer zusammenpacken — Pässe, Geburtsurkunden, Kindheitsfotos, CDs von Bat- und Bar Mitzvahs — und in den Bunker legen. Eine Tat, die ihre sehr reale Angst, in einer dieser Nächte alles zu verlieren, klar entblößt.

18:00 Uhr Ich unterhalte mich mit meiner Tante und versuche, sie irgendwie zum Lächeln zu bringen. Ihre letzten fünf Jahre: Pandemie; Protest gegen Bibis Gesetzesreformen, die trotzdem durchgingen; der 7. Oktober; Protest gegen den Krieg mit der Hamas im Süden, der trotzdem weiterging; Krieg mit der Hisbollah im Norden; Raketenangriffe aus dem Jemen – und jetzt das. Es bewegt mich zutiefst.

Ich sehe nach meiner Cousine. Sie ist geprägt von einer Kindheit, die von Terroranschlägen, Kriegen und anderen Traumata gezeichnet ist. Sie sagt, es gehe ihr okay, aber sie gibt auch zu, dass sie ohne den Fernseher im Hintergrund nicht schlafen kann: Stille macht ihr Angst.

Wir schalten die Nachrichten wieder ein: fünf sogenannte Experten, die ihre Prognosen offensichtlich aus der Luft greifen. Aber wir können nicht aufhören, zuzuschauen.

Die iranische Regierung sendet eine Botschaft an die israelische Öffentlichkeit, dass diese Nacht schlimmer wird als die letzte, und warnt uns, uns auf das Unvorstellbare vorzubereiten. Ein besänftigendes Schlaflied.

20:00 Uhr Es wird dunkel und meine Angst intensiviert sich. Bisher sind vier Raketen in einem Umkreis von zehn Kilometern um uns herum eingeschlagen (mit vielen weiteren innerhalb von 15 Kilometern). Eine wird später nur 900 Meter von meiner Wohnung in Tel Aviv einschlagen und eine weitere wird unsere Stadt treffen, einen Kilometer die Straße hinunter.

Wir schalten die Lichter ein, die zum Luftschutzbunker führen, und bereiten uns darauf vor, dass die Angriffswellen jeden Moment beginnen könnten. Mein Körper und mein Geist schalten auf höchste Alarmbereitschaft.

Ich arbeite weiter, springe aber alle paar Minuten auf und meine, eine Sirene gehört zu haben: verdammt noch mal.

21:00 Uhr Puh, bisher nichts.

22:00 Uhr Das fühlt sich seltsam an … wann kommt es?

23:00 Uhr Ich gehe ins Bett und kuschle mich an das Stofflamm, das ich seit meiner Kindheit besitze. Ich sage meinen Lieben, dass ich sie liebe, für den Fall, dass ich nie wieder die Gelegenheit dazu habe.

Wozu schlafen gehen?

00:34 Uhr Warnung.
00:41 Uhr Sirene.
00:55 Uhr Entwarnung.
01:20 Uhr Warnung.
01:26 Uhr Sirene.
01:40 Uhr Entwarnung.

Das Schlimmste könnte hinter uns liegen. Oder noch vor uns. Die USA haben zugeschlagen – und alles ist offen. Ein fragiler Waffenstillstand ist nun in Kraft: Was er bedeutet, wie lange er halten wird … keiner von uns weiß es.

Obwohl die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, alles andere als gleich sind, bleiben wir Bürgerinnen und Bürger – aus Israel, dem Iran, aus Palästina und anderen Regionen – Spielfiguren in einem brutalen Spiel von „Wer hat den größeren?”, gespielt von einer Handvoll nahezu allmächtiger Männer, die Waffen schwingen, von denen ich kaum glauben kann, dass wir sie erfunden haben.

Dies ist kein Ende, nur eine Zwischenpause. Für diejenigen von uns, die überhaupt das Glück haben, eine zu bekommen.

Die Angriffszeiten stammen vom 17. Juni 2025, andere Fakten wurden aus verschiedenen Tagen zusammengeschnitten, um ein möglichst getreues Bild zu vermitteln.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde. Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.


Valérie G. Topf ist Philosophin mit einem Doktorat der Università degli Studi di Pavia und forscht zu Rechten von Menschen, Tieren und Pflanzen. Sie war Gastwissenschaftlerin an der New York University und an der Freien Universität Berlin und absolvierte zuvor einen Master an der Columbia University sowie einen Bachelor am University College London. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie langjährige Aktivistin, die unter anderem mit Amnesty International, Rethink und Teach Peace zusammengearbeitet hat.

Der Originalartikel kann hier besucht werden