Jedes Jahr am 4. Mai erinnern in vielen Ländern Menschen an die erste öffentliche Rede des argentinischen Denkers, Mystikers und Visionärs Mario Rodriguez Cobos (Silo), die er unter widrigsten Umständen, nach mehreren Verboten der Militärdiktatur, letztendlich an einem verlassenen Platz hoch in den Anden hielt. Sie verstehen dies als Signale, seinem großen, außerordentlichen und tiefgründigen Werk Aufmerksamkeit und Interesse zu schenken. [Einleitung des Übersetzers]
Silo erklärt durch eine Allegorie den gegenwärtigen Moment der Gewalt, in dem wir leben. Diese Allegorie enthält den Keim seiner Lehre – eines neuen Mythos – und zeigt einen Weg auf, wie man ihn überwinden kann: einen Weg, den der Mensch heute braucht, um so viel Schmerz und Leid zu überwinden und damit einen qualitativen Sprung zu vollziehen, wie nie zuvor.
Heute will ich mich mit meinem Zeugnis und meiner persönlichen Interpretation der „Arenga de la Curación del Sufrimiento“ (Rede über die Heilung des Leidens) anschließen, die Silo am 4. Mai 1969 in Punta de Vacas gehalten hat, einem abgelegenen Ort in den Anden, wo ihm die damalige Militärdiktatur erlaubte, „zu den Steinen“ zu sprechen, und wo sich heute der gleichnamige Studien- und Reflexionspark befindet.
Wenn jemand sich für die Lehre und das Werk von Silo interessiert, ist es meiner Meinung nach am besten, sich erst mal „Die Heilung des Leidens“ anzuhören oder zu lesen. Danach kann man sich mit seinen Werken beschäftigen, seine weltweite Bedeutung erforschen und sich entschließen, die Lehre auszuprobieren, wenn sie einem zusagt… Oder vielleicht ist es besser, erst mal mit der Erfahrung anzufangen und dann das Studium zu vertiefen…
Ein paar Anmerkungen zu: „Die Ansprache zur Heilung des Leidens“
Von Anfang an macht Silo klar, dass die Antworten auf die großen Fragen, die den Menschen schon immer beschäftigt haben, tief in seinem Bewusstsein und in seinem Herzen liegen – nicht in äußeren Figuren oder Geboten. Und er sagt es so …
Wenn du gekommen bist, um einen Menschen anzuhören, von dem man behauptet, er vermittle die Weisheit, so hast du den falschen Weg gewählt; denn wirkliche Weisheit lässt sich nicht durch Bücher oder Reden vermitteln. Die wirkliche Weisheit liegt in der Tiefe deines Bewusstseins, so wie die wahre Liebe in der Tiefe deines Herzens ruht.
Im nächsten Absatz erklärt er seine Position und verdeutlicht die Haltung, die einer gültigen Handlung entspricht; einem Handeln, das er selbst meiner Meinung nach in jenem Moment mit der Darlegung seiner Lehre umgesetzt hat…
Wenn du gekommen bist, aufgestachelt von Verleumdern und Heuchlern, um diesen Menschen anzuhören, nur damit dir das, was du hörst, später als Argument gegen ihn dienen kann, so hast du den falschen Weg gewählt. Denn dieser Mensch ist weder hier, um irgendetwas von dir zu verlangen, noch, um dich auszunutzen, denn er braucht dich nicht.
Manche mögen hinter diesen Worten einen hochmütigen Menschen sehen. Ich finde das nicht. Was er gleich mitteilen wird, setzt er als moralische Handlung um, aus Liebe zu anderen, aus Liebe zur Menschheit, aus innerer Kohärenz und Freiheit heraus, ohne etwas zu erwarten, als eine große „gültige Handlung“, wie er sagte.
Anschließend stellt er dies in den Kontext des Schmerzes und Leidens, in dem die Menschen heute leben. Er unterscheidet zwischen körperlichem Schmerz und seelischem Leiden und weist auf die Gewalt als Quelle des Leidens und das Verlangen als Wurzel der Gewalt hin…
Es gibt eine Art von Leiden, das weder aufgrund des Fortschritts der Wissenschaft noch aufgrund des Fortschritts der Gerechtigkeit zurückgehen kann. Diese Art von Leiden, das ausschließlich in deinem Geist ist, geht aufgrund des Glaubens zurück, aufgrund der Lebensfreude, aufgrund der Liebe. Du musst wissen, dass dieses Leiden immer aus der Gewalt stammt, die es in deinem eigenen Bewusstsein gibt. Du leidest, weil du das zu verlieren fürchtest, was du besitzt, oder weil du bereits etwas verloren hast oder weil du etwas verzweifelt zu erreichen suchst. Du leidest, weil du etwas nicht haben kannst oder weil du ganz allgemein Angst hast … Das sind die großen Feinde des Menschen: die Angst vor der Krankheit, die Angst vor der Armut, die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Einsamkeit. All das sind Leiden deines Geistes selbst. Sie alle verraten die innere Gewalt, die Gewalt, die in deinem Geist vorhanden ist. Beachte, dass sich diese Gewalt immer aus dem Verlangen herleitet. Je gewalttätiger ein Mensch ist, desto niedriger ist sein Verlangen.
Aber erst in der Geschichte, die er danach erzählt, findet man den Kern der Botschaft, die er vermitteln will. Dort findet man die Allegorie eines neuen Mythos, die Essenz seiner Lehre, die Grundlage der Kultur, die die Menschheit heute braucht, um aus der scheinbaren Sackgasse herauszukommen, in der sie sich befindet; den Keim einer neuen Zivilisation, die den Weg wieder aufnimmt, der den Menschen seit jeher in seiner Befreiung geleitet hat.
Und was ist die Botschaft dieser Allegorie?
Silo erzählt von einem Reisenden, einem Pferd – das er als „Notwendigkeit“ bezeichnet – und einem Wagen, den er das „Verlangen“ nennt, dessen Räder „Genuss“ und der „Schmerz“ heißen. Der Reisende belädt den Wagen mit immer mehr Verlangen, mit immer mehr Besitztümern, bis er zu einer Last für den eigentlichen Zweck wird.
Nach reiflicher Überlegung versteht er durch ein Wiehern des Pferdes – ein Zeichen der Notwendigkeit –, dass er sich von dem trennen muss, was ihn daran hindert, seinem Ziel näher zu kommen, das ihn schon immer angetrieben hat: sich von Schmerz und Leid zu befreien. Dazu trennt er sich zuerst von allem Zierrat und später vom Wagen selbst.
Aber welche Rolle spielt der Reisende, der Reiter, in dieser Geschichte? Denn er stellt nicht die Notwendigkeit dar, sondern steigt auf ihren Rücken, erhebt sich über sie.
Silo erklärt seine Sicht auf den Menschen – weit entfernt von der zoologischen Sichtweise anderer Konzeptionen – indem er darauf hinweist, dass der Mensch ein Wesen ist, das in der Lage ist, den Blick auf sich selbst zu richten, über sich selbst und sein Handeln nachzudenken, über sein Ziel und den Weg dorthin zu meditieren.
Ein Wesen mit Absichten, mit der Fähigkeit, sich selbst und seine Umgebung zu verändern, die Bedingungen, unter denen es lebt, zu verändern; ein Wesen, das mit einem Ziel auf diese Welt kommt: Schmerz und Leid zu überwinden. Ein Wesen, das sich – mit Erfolgen und Fehlern – zunehmend befreit und sein Bewusstsein weiterentwickelt.
Später geht Silo näher auf die Wurzeln des Leidens ein und erklärt die verschiedenen Formen der Gewalt, die es hervorrufen: physische, wirtschaftliche, rassistische, religiöse Gewalt… um schließlich die Gewalt anzuprangern, die wir anderen antun, wenn wir versuchen, ihnen unsere Sichtweise aufzuzwingen…
Es gibt weitere Formen von Gewalt, die in der Philistermoral begründet sind. Du möchtest anderen deine Lebensform aufzwingen, du glaubst, anderen deine Berufung aufzwingen zu müssen … Aber wer hat dir gesagt, dass du ein Vorbild bist, dem man folgen müsse? Wer hat dir gesagt, dass du anderen eine Lebensform aufzwingen darfst, nur weil sie dir gefällt? Wo ist das Modell, wo ist das Vorbild, nach dem du es aufzwingst?
Wie könnte es anders sein, zeigt er den Ausweg, um die Gewalt zu beenden…
Die Gewalt in dir, in den anderen und in der Welt um dich herum kannst du nur durch den inneren Glauben und die innere Meditation beenden. Es gibt keinen falschen Ausweg, um die Gewalt zu beenden.
Und er beendet seine Rede mit der Ermutigung, Wege des Friedens, der Freude, der Liebe… der Hoffnung zu gehen…
Meine Geschwister, beachte einfache Gebote, die so einfach sind wie diese Steine und dieser Schnee und diese Sonne, die uns segnet. Trage Frieden in dir und trage ihn zu den anderen. Meine Geschwister, dort in der Geschichte ist der Mensch und zeigt das Gesicht des Leidens, schau dieses Gesicht des Leidens an … Aber denke daran, dass es nötig ist, voranzuschreiten, dass es nötig ist, lachen zu lernen, und dass es nötig ist, lieben zu lernen.
Dir schenke ich diese Hoffnung, diese Hoffnung auf Freude, diese Hoffnung auf Liebe, damit du dein Herz erhebst und deinen Geist erhebst und damit du nicht vergisst, deinen Körper zu erheben.
Wird der Mensch heute in der Lage sein, innezuhalten und in sich zu gehen? Vielleicht wird er es, getrieben von der Not, angesichts der schwierigen Zeit, in der wir leben. Vielleicht wird er den Blick auf sich selbst richten, aufwachen… und dann beschließen, sich von den vielen Wünschen zu lösen, die ihn verloren halten, und von der Gewalt, die diese Wünsche hervorrufen, um sich auf den Rücken der Notwendigkeit zu schwingen und den Weg wieder aufzunehmen, der ihm immer die Zukunft geöffnet hat: den Weg der Gewaltfreiheit, den Weg des Lebens… seiner Befreiung.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Luz Jahnen erstellt.