Dieser Artikel ist Teil der Serie „50 Jahre danach: Es lebe die Nelkenrevolution„, die PRESSENZA im März und April 2024 auf Portugiesisch veröffentlicht. Die „Nelkenrevolution“ von 1974-1975 brachte den Portugiesen nach 48 Jahren Faschismus die Freiheit und den portugiesischen Kolonien in Afrika nach 500 Jahren imperialer Herrschaft die Unabhängigkeit.

(Bild vom Blog https://medium.com/@cmatosgomes46)

Carlos Matos Gomes ist einer der angesehensten Militärs und Historiker des Kolonialkriegs. Er wurde 1946 in Ribatejo, Portugal geboren. Seine militärische Laufbahn begann 1963. Er diente während der Kolonialkriege (1961-1974) in Mosambik, Angola und Guinea-Bissau in den Spezialtruppen der Kommandos. In Guinea gehörte er zu den Gründern der Bewegung der Hauptleute und war Mitglied des ersten Koordinierungsausschusses der Bewegung der Streitkräfte (MFA). Bis 2003 war er aktiver Offizier, heute ist er Oberst der Reserve. Seit 1982 hat er auch eine literarische Karriere unter dem Pseudonym Carlos Vale Ferraz verfolgt. Matos Gomes schreibt regelmäßig in diesem Blog.

Im vorliegenden Interview, das er Pressenza am 28. März 2024 über Zoom gab, schätzte ich sein fundiertes Wissen über den 25. April und die Nelkenrevolution sowie die ruhige und diplomatische Art, mit der er selbst die schwierigsten und kontroversesten Themen angeht und Hintergründe erklärt.

Der nachstehende Text des Interviews wurde an einigen Stellen leicht gekürzt. Das vollständige Interview kann im Original auf Portugiesisch als Video hier oder am Ende dieses Artikels angesehen werden.

Die koloniale Frage stand im Mittelpunkt des Militärputsches vom 25. April 1974

Pressenza: Die Kolonialfrage stand im Mittelpunkt des militärischen Staatsstreichs vom 25. April 1974 gegen das faschistische Regime in Portugal, denn die Militärs wussten doch am besten, dass sie die Kriege gegen die Befreiungsbewegungen in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau nicht gewinnen konnten.

Unter unseren Lesern gibt es viele Humanisten und Pazifisten. Ich selbst bin Ende der 1960er Jahre als Kriegsdienstverweigerer aus Portugal geflohen, weil ich mich weigerte, den portugiesischen Kolonialismus in Afrika mit Waffen zu verteidigen.

Frage: Wie konnte ein Militär wie Sie, ein Oberst der damals noch als Hauptmann in Guinea kämpfte, von heute auf morgen „ins andere Lager“ wechseln und von der Verteidigung zum Widerstand gegen den Kolonialismus übergehen, indem er an der Vorbereitung und Durchführung des Staatsstreichs vom 25. April mitgewirkt hat und Mitglied der MFA wurde (Bewegung der Streitkräfte, die den Staatsstreich durchführte und das Land mehrere Jahre lang regierte)?

Matos Gomes: Vielen Dank für die Gelegenheit, über den 25. April zu sprechen, und auch über die damaligen großen politischen, strategischen und sozialen Veränderungen sowohl in Portugal als auch in der Welt infolge dieses Staatsstreichs der portugiesischen Kapitäne.

Die koloniale Frage ist seit dem 19. Jahrhundert ein zentrales Thema in der portugiesischen Politik, insbesondere seit dem Abschluss der Verträge der Berliner Konferenz 1884-85 [auf der ganz Afrika unter den europäischen Mächten aufgeteilt wurde]. Der Kolonialismus stand von da an bis zum Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der europäischen Politik. Die Dekolonisierung fand erst nach der Niederlage Europas in diesem Weltkrieg statt. Portugal war damals die einzige Kolonialmacht, die nicht auch eine Industriemacht war, und nutzte deswegen die Kolonien nur als Tauschwerte, als „Rohstoffe“ in seinen internationalen Beziehungen, insbesondere in schwierigen Zeiten. Unser Regime hatte das Bedürfnis, die Kolonien zu behalten, aber auf der anderen Seite gab es das allgemeine Recht der Völker – das nach dem Zweiten Weltkrieg anerkannt wurde – über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Die Erkenntnisse meiner Generation und der Kapitäne des Aprils waren ein ständiger Lernprozess, der eng mit den Erkenntnissen der Gesellschaft im Allgemeinen verbunden war. Mehr als 1 Million junger Portugiesen sind damals vor dem Kolonialkrieg geflohen, das hat uns klar vor Augen geführt, wie sinnlos dieser Krieg war.

Das zeigt, dass Menschen nicht nur gut oder schlecht sind, sondern auch lernfähig sind. Aber war dieser Gesinnungswandel der April-Militärs eher etwas Rationales, weil sie das Gefühl hatten, die Kolonialkriege nicht gewinnen zu können, oder auch etwas Emotionales, weil sie sich mit den für die Unabhängigkeit kämpfenden Befreiungsbewegungen solidarisch zeigen wollten?

Es war vor allem eine rationale Einsicht. Wenn das Militär in den Krieg zieht, trifft es seine Entscheidungen rational. Auch die Entscheidung der April-Kapitäne, das Regime zu stürzen, und die Vorbereitungen für diesen Sturz, waren rational. Nur die Haltung des Regimes war irrational.

Aber hatten die Kapitäne bereits vor, den Kolonien die Unabhängigkeit zu geben, oder wollten sie nur das Problem des Krieges lösen, d.h. den Krieg irgendwie beenden, eine Art Kompromiss finden?

Die militärische Bewegung, die den Staatsstreich auslöste, war in ihren Zielen und Aktionen keine einheitliche Bewegung. Sie war Ergebnis des Zusammenschlusses von zwei unterschiedlichen Visionen: einerseits die der Gruppe, die ich als „Spinolisten“ bezeichnen würde (um den General António Spínola und sein Buch „Portugal und die Zukunft“), die in Bezug auf die koloniale Frage eine Gemeinschaft portugiesisch-sprachiger Staaten anstrebten; und anderseits die der Kapitänsbewegung, die Portugal in die bereits von den anderen europäischen Kolonialmächten unternommene Dekolonisierung einbinden wollte, was natürlich die Anerkennung der Unabhängigkeit von Guinea-Bissau (dessen Unabhängigkeit bereits 1973 erklärt worden war) und Verhandlungen mit den bewaffneten Guerillabewegungen aus Angola (MPLA, FNLA, UNITA) und Mosambik (FRELIMO) über deren Unabhängigkeit einschloss.

Als Hauptmann, der gerade in Guinea stationiert war: warum haben Sie, nach der Unabhängigkeitserklärung von Guinea-Bissau, weiterhin für den Erhalt dieser Kolonie durch die Portugiesen gekämpft?

Zu dieser Zeit kämpften die Truppen in Guinea nicht, um den Krieg zu gewinnen, sondern um ihn nicht zu verlieren. Mit anderen Worten: um Zeit zu gewinnen, damit die politische Macht eine Lösung für den Krieg finden konnte. Dass ein solcher Krieg nicht gewonnen werden konnte, war bereits Teil der portugiesischen Militärdoktrin. Im Handbuch über subversive Kriege, das auf den Erfahrungen der Franzosen und Briten basierte, wurden subversive Kriege als unmittelbar politisch definiert. Deshalb mussten auch die Maßnahmen zu ihrer Beilegung politisch sein. Der Bruch zwischen den Militärs und der politischen Macht in Portugal kam nur zustande, weil letztere nicht in der Lage war, Lösungen zu finden.

Könnte man also sagen, dass diese „vorzeitige“ Unabhängigkeit Guineas im Jahr 1973 in gewisser Weise den Staatsstreich vom 25. April 1974 in Portugal beschleunigte?

Die politische Entscheidung der PAIGC [Befreiungspartei von Guinea-Bissau und Kap Verde], die Unabhängigkeit 1973 zu erklären, verstärkte noch die militärische Position, die die PAIGC bereits vorher in 1973 in Guinea erlangen konnte, nachdem sie zwei Garnisonen, eine im Norden und eine im Süden des Landes, angegriffen und besetzt hatte. Von diesem Zeitpunkt an (Mai 1973) hatte Portugal, allein in einem sehr kleinen Land wie Guinea, schon etwa 70 tote Soldaten zu verzeichnen, was eine ungeheure Zahl darstellte und es in diesem Maße nie zuvor gegeben hatte. Es war eine sehr schwierige Situation, in der Öffentlichkeit damit umzugehen. Andererseits wurde das neue Land, nach dieser einseitigen Unabhängigkeitserklärung der PAIGC, ziemlich schnell von rund 80 Ländern der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Für das portugiesische Militär vor Ort bedeutete dies, dass wir uns in einer Situation befanden, die einer „fast sicheren Niederlage“ gleichkam, und wir wurden bereits als Besatzungstruppen in einem fremden Territorium angesehen. Dies erhöhte natürlich den Druck auf die jungen Kapitäne, eine Lösung zu erzwingen, da unser Regime dazu nicht in der Lage war.

Matos Gomes (links) in Guinea-Bissau am 10. Juni 1973 (Foto des Interviewten)

Die Nelkenrevolution durch das Volk, begann gleich am 25. April 1974

Heutzutage wird der 25. April nur noch als Befreiung des portugiesischen Volkes vom Faschismus gefeiert, dabei wird die antikoloniale Dimension des Tages ausgeblendet. Der 25. April war aber eine doppelte Befreiung! Und wir blenden auch die authentische sozialistische Dimension der Nelkenrevolution aus, die sich gleich danach entfaltete und bis zum 25. November 1975 andauerte. Wir hatten also sogar mit einer dreifachen Befreiung zu tun! Was war für Sie, kurz gesagt, die Nelkenrevolution in Portugal? War sie sozusagen die „innere Dekolonisierung“, von der Sie damals sprachen, im Gegensatz zur „äußeren Dekolonisierung“ der Kolonien?

Der 25. April stand unter dem allgemeinen Motto der drei Ds: „Dekolonisierung, Demokratisierung und Weiterentwicklung“.

Die Dekolonisierung ist von grundlegender Bedeutung und hängt mit dem allgemeinen Konzept der Freiheit zusammen. Freiheit war für die Menschen in den Kolonien wichtig, um ihr Schicksal selbst zu bestimmen, und es war auch für die Portugiesen wichtig, um sich für ein Gesellschaftsmodell zu entscheiden, in dem sie besser leben konnten als zuvor – was mit der Weiterentwicklung des Landes verbunden ist. Der 25. April fiel allerdings in eine Zeit, in der in Europa und in der Welt der Neoliberalismus auf dem Vormarsch war, und stand damit in völligem Gegensatz zu den Moden des „laissez-faire, laissez-passer“, des Individualismus, der Verringerung der Macht des Staates und auch der Rolle des Staates in der Gesellschaft. Und genau dieses Modell ist heute immer noch in Kraft und wird von den großen Denkmaschinen reproduziert, projiziert und verkauft. So dreht sich heute alles um die Frage der Freiheit. Der 25. April spielte eine entscheidende Rolle in der Frage der Würde sowohl des portugiesischen als auch der afrikanischen Völker, aber er spielte auch die große – oft vergessene – Rolle, Portugal in die Moderne geführt zu haben.

Der Faschismus, der Salazarismus, war ein frommes, rückständiges, fast mittelalterliches Regime. Doch nach dem 25. April begannen die jungen Portugiesen, sich mit den jungen Europäern auszutauschen, und die portugiesischen Arbeiter mit den Arbeitern im übrigen Europa. Der 25. April brach also mit einer 500-jährigen Tradition in Portugal – der Tradition von 500 Jahren außerhalb Europas – und führte Portugal wieder in den europäischen Kontinent zurück.

Und er spielte auch eine andere wichtige Rolle, nämlich die Befreiung von zwei anderen Diktaturen, die damals noch existierten: die spanische und die griechische. Später spielte er auch eine sehr wichtige Rolle bei der Abschaffung der Apartheid in Südafrika. Und er spielte eine einzigartige Rolle, die leider absichtlich verschwiegen wird, nämlich die, dass die Streitkräfte (eins der stärksten Apparate zur sozialen Unterdrückung der Menschen) zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte von der Verteidigung der oligarchischen Gruppen, die die Staaten immer beherrscht hatten, zur Verteidigung der Volksgruppen übergingen. Niemand will heute darüber sprechen.

Das war etwas Einmaliges in der Geschichte, nicht wahr?

Absolut!

Die Einmischung ausländischer Mächte ab dem 11. März 1975

Die Nelkenrevolution war an sich eine friedliche Revolution. Ich betone das gerne, denn wir haben bei Pressenza viele Pazifisten… Bei Revolutionen kommt es oft (eigentlich fast immer) vor, dass sich ausländische Mächte einmischen. Was können Sie uns konkret über das Eingreifen der Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschlands und der damaligen Sowjetunion in diesen revolutionären Prozess in Portugal sagen?

Einer der Erfolgsfaktoren des Staatsstreichs vom 25. April war die Tatsache, dass er – untypisch für Portugal – ein rein militärischer Staatsstreich war, ohne Beteiligung ziviler Gruppen, wie es bei früheren Putschversuchen, etwa denen von Humberto Delgado oder anderen in Portugal nach dem Zweiten Weltkrieg, der Fall war. Das Aktionsprogramm wurde heimlich von einer begrenzten Gruppe von Militärs entwickelt, was eine ungestörte Durchführung der Militäraktion ermöglichte, ohne das Wissen politischer Gruppen und somit auch ohne das Wissen der ausländischen Mächte, mit denen diese eng verbunden waren. In der ersten Zeit, vom 25. April 1974 bis zum 11. März 1975, hatten wir eine große Handlungsfreiheit. Am 11. März wurden jedoch wichtige Entscheidungen getroffen: die Verstaatlichung der Banken (was in Europa regelrecht als Ketzerei galt und daher dort nicht akzeptiert werden konnte) und der Versuch einer Agrarreform in einem Land, dessen Landwirtschaft völlig ruiniert war. In diesen Bereichen sah sich Europa veranlasst, zu intervenieren und die Möglichkeiten der so genannten Volksmacht, der Basisorganisationen in den Fabriken, auf den Feldern oder in den Schulen zu beschneiden.

Dieser externe Druck gipfelte in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die im Sommer 1975 in Helsinki stattfand. Dort entschieden die Großmächte untereinander, wie die portugiesische Revolution ausgehen sollte. Dort wurde eine Überwachungsgruppe für die portugiesische Revolution eingesetzt, der Willy Brandt (Deutschland), Giscard d’Estaing (Frankreich) und James Callaghan (Großbritannien) als Vertreter der drei europäischen Großmächte angehörten, und dort wurde auch die Rolle der Sowjetunion mit Präsident Gerald Ford (USA) verhandelt. Am Ende sagten alle: „Nun, Portugal muss ein politisches Modell haben, das dem der anderen westeuropäischen Länder entspricht“. Und diese Neuordnung wurde dann durch den Staatsstreich vom 25. November 1975 umgesetzt, der uns gewissermaßen in einen „Konfektionsanzug“ zwängte. Durch die internationale Intervention wurde an diesem Tag eine neue Situation etabliert.

Es gab also eine Verschwörung zwischen den europäischen Mächten und der Sowjetunion! War die Sowjetunion wirklich der Meinung, dass Portugal in das westliche, kapitalistische und neoliberale Europa integriert werden sollte?

Die Sowjetunion war, wie jede Supermacht, von strategischen Überlegungen und nicht von Doktrinen geleitet. Das ist keine Frage des Glaubens, des Guten oder Schlechten, Politik lässt sich nicht mit Moral vereinbaren. Die Sowjetunion wusste ganz genau, dass Portugal die westliche Grenze Europas war, dass es eine US-Basis war. Und was 1975 ausgehandelt wurde, war ein Vertrag über Zusammenarbeit und gute Beziehungen zwischen den beiden großen Blöcken. Weder die USA noch die Sowjetunion wollten also wegen eines kleinen Landes wie Portugal eine Weltkrise riskieren. Deshalb fanden sie am 25. November einen Kompromiss nach dem Motto: „Behalten wir eine bürgerliche, neoliberale Demokratie in Portugal bei“, erschrecken wir Spanien nicht (das bereits eine mittelgroße Macht in Europa war), und halten wir Portugal sozusagen „unter einer Glocke“, um zu verhindern, dass der portugiesische „Virus“ auf Spanien und vielleicht den Rest Europas übergreift.

Oberst Matos Gomes während seines Videointerviews mit Pressenza (Bildschirmaufnahme)

Der Gegenputsch (die Verschwörung) vom 25. November 1975

Der Staatsstreich vom 25. November war „die Konterrevolution“, die die Nelkenrevolution beendete. War also das Ergebnis eines internationalen Komplotts, das den Kurs Portugals bestimmen wollte. Folglich haben die Portugiesen nicht selbst über ihr eigenes Schicksal entschieden – stimmt das?

Die neuen politischen Kräfte, die sich nach dem 25. April in Portugal entwickelt haben, kamen zusammen mit den internationalen Kräften, denen sie nahe standen. Dies wird deutlich in Bezug auf die Sozialistische Partei von Mário Soares, auf die Kommunistische Partei, aber auch auf Freitas do Amaral und Sá Carneiro, die mit den Christdemokraten und den konservativen Parteien Europas verbunden waren, welche allerdings damals in Portugal noch eine geringe Bedeutung hatten.

Die bedeutende Anstrengung, die all diese Kräfte ab dem Sommer 1975 unternommen haben, zielte darauf ab, die gesamte politische Repräsentanz in Parteistrukturen zu zwängen. Das bedeutet, alle Strukturen oder Möglichkeiten einer direkten Volksvertretung zu eliminieren und die politische Repräsentation ausschließlich durch politische Parteien zu ermöglichen, die als leichter kontrollierbare Instrumente gelten, während Volksbewegungen aufgrund ihrer Spontaneität unberechenbarer sind. Und diese Kombination setzt sich bis heute fort: bis hin zur europäischen Integration, der Vertretung Portugals in den großen internationalen Konflikten, der Teilnahme an den großen Organisationen wie den Vereinten Nationen, der NATO, und später auch der Europäischen Union.

Der 25. November wurde als Staatsstreich durchgeführt, um die extreme Linke (links von der PCP, der Portugiesischen Kommunistischen Partei) zu isolieren. Oder wurde er nur vorbereitet – wie es damals hieß –um einen anderen Staatsstreich zuvorzukommen, der angeblich von eben dieser extremen Linken geplant war, um die gesamte Macht im Staat zu übernehmen?

Wir wissen, dass es in der Politik keine Zufälle und keine Improvisationen gibt. Der Prozess, der zum 25. November führte, und die Rechtfertigungen, die gegeben wurden, sind seltsamerweise dieselben, die immer für Interventionen des Westens — in diesem Fall der USA — während des Kalten Krieges gegeben wurden. Nämlich die Praxis, alle, die nicht der offiziellen Linie entsprechen, pauschal als „kommunistisch“ oder als in den Diensten der Kommunisten stehend zu diffamieren, selbst wenn diese Behauptungen völlig falsch waren. Dies geschah zum Beispiel im Fall der Dominikanischen Republik; oder im Fall der Griechen, die mit Jugoslawien verbunden waren; oder im Fall der afrikanischen Führer wie im Kongo, die nur für die Unabhängigkeit kämpften, und deshalb ersetzt werden mussten; usw. Das „kommunistische Schreckgespenst“ ist eine Form der Propaganda, die auch hier in Portugal eingesetzt wurde und nicht neu ist. Aber wieder einmal hat es in den Mainstream-Medien funktioniert, die eigentlich als Mittel zur Gestaltung und zur Manipulation der öffentlichen Meinung dienen.

Vor dem 25. November war also kein Putsch der extremen Linken geplant?

Es gab weder eine Kommandozentrale noch einen Plan, geschweige dann irgendwelche Truppenbewegungen, um einen linken Putsch durchzuführen. Nichts!

Es war also etwas Erfundenes…

… alles war eindeutig inszeniert, als der Stabschef der portugiesischen Luftwaffe alle Flugzeuge auf einem einzigen NATO-Stützpunkt in Cortegaça (Ovar, zwischen Aveiro und Porto) zusammenzog und ebenso eine Verstärkung für die Kommandos (alte Kolonialkriegskämpfer, die den sichtbarsten Teil des 25. November ausführten) angeordnet wurde.

Diese Taktik wurde damals systematisch angewandt: Es gab drei ähnliche Situationen während der Revolutionszeit, in denen die Rechte – und teilweise die extreme Rechte – einen angeblich von der Linken geplanten „Staatsstreich“ erfand, um militärisch gegen die Nelkenrevolution vorzugehen: am 28. September 1974 (durch Spínola), am 11. März 1975 (wiederum durch Spínola), und am 25. November 1975 (durch den gemäßigteren Flügel der MFA und die damaligen Politiker mit den meisten internationalen Verbindungen). Stimmt das?

Ich denke, dies ist die richtige Sichtweise des politischen Prozesses in Portugal vom 25. April 1974 bis zum 25. November 1975. Seit dem 25. November 1975 gehören wir zum eher konservativen bzw. treuesten Mitläufer-Flügel der europäischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.

Und wer organisierte die Brandanschläge auf die Zentralen der PCP (Kommunistischen Partei) im ganzen Land im heißen Sommer 1975?

Das waren Aktionen einer terroristischen Bewegung wie die MDLP (Demokratische Bewegung zur Befreiung Portugals), und sie dienten alleine der Destabilisierung eines Prozesses. Intern hatten sie die Unterstützung von der katholischen Kirche und von ehemaligen Mitgliedern der kolonialistischen Nationalen Union [die Einheitspartei zur Zeit des Faschismus], welche am 25. November ebenfalls neutralisiert wurden. Diese Bewegung zeigte sich öffentlich schon ab Ende September 1974, nach dem Rücktritt von Spínola, und wurde kurioserweise sowohl von der spanischen als auch von der brasilianischen Diktatur unterstützt. Innerhalb des Landes erhielten sie ideologische, logistische und organisatorische Unterstützung von der katholischen Kirche im Norden des Landes, und in finanzieller Hinsicht von den großen portugiesischen Bankiers, insbesondere von António Champalimaud. Ziel der MDLP war die Wiederherstellung des portugiesischen Kolonialreiches und die Unterstützung der Apartheid in Südafrika.

Verpasste Alternativen

Es ist schade, dass Portugal auf diese europäische Alternative beschränkt wurde. Denn, bis zum 25. April 1974, war Portugal hauptsächlich in Richtung Übersee orientiert, es war ein maritimes Land. Es hatte immer noch seine Kolonien, aber auch Brasilien (das schon seit langem unabhängig war), und betrieb Handel mit der ganzen Welt. Mit dem 25. April implodierte Portugal buchstäblich, und anstatt der Beziehungen zu seinen ehemaligen Kolonien aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, um einen portugiesisch-sprachigen Wirtschafts- und Kulturraum in der ganzen Welt aufzubauen, kam es einfach in dieses „Altersheim“, in dem alle ehemaligen Kolonialmächte Europas auch untergebracht sind!

Die Furcht der portugiesischen Eliten vor der Welt, die im Grunde die Furcht dieser Eliten vor den Portugiesen selbst war, führte dazu, dass diese Eliten versuchten, die Diener der großen geopolitischen Räume zu werden, zunächst des nordamerikanischen und dann des europäischen Raums. Und das führte dazu, dass der Rest der Welt, der dieser Hierarchie nicht untergeordnet ist, zu dem Schluss kam, dass Portugal nichts Besonderes mehr repräsentiert – und so hörten sie auf, sich auf Portugal zu verlassen. Warum sollten Angola oder Brasilien eine privilegierte Beziehung zu Portugal haben, wenn unsere Außenpolitik die gleiche wie die der USA ist, insbesondere in Bezug auf große Konflikte? So war es in Serbien, im Irak oder in Libyen, so ist es heute in der Ukraine und in Gaza, und so ist es auch in Mali, wo Portugal bloß die Interessen Frankreichs und der Europäischen Union vertritt. Alle diese Länder haben direkte Verbindungen zu den Zentren der Welt, sei es in Washington oder Brüssel, und Portugal ist nur ein kleines Bauernopfer ohne besonderen Wert in den internationalen Beziehungen. Ich sage oft, dass es in Portugal zwei Ministerien gibt, die vollkommen überflüssig sind: das Außenministerium und das Verteidigungsministerium. Jeder Sekretär könnte die Angelegenheiten telefonisch klären: für außenpolitische Angelegenheiten, wenden Sie sich bitte an die USA oder Brüssel; und für Verteidigungsangelegenheiten, wenden Sie sich bitte direkt an das NATO-Hauptquartier!

Die MFA beschloss ganz bewusst die Führer des ehemaligen faschistischen „Estado Novo“ nicht zu verfolgen, zu verhaften oder strafrechtlich anzuklagen, sondern schickte sie lieber ins Exil und schwieg über ihre Verbrechen. Wir haben in Portugal auch nie eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ eingerichtet, wie es Südafrika später nach der Abschaffung der Apartheid tat… Hat dieses Unterlassen öffentlicher Diskussionen über die Vergangenheit und die Nichtbewältigung der durch den Faschismus verursachten Traumata nicht den späteren Wiederaufstieg der extremen Rechten in Portugal ohne größere Schwierigkeiten begünstigt, wie wir es bereits bei den letzten Wahlen im vergangenen Monat gesehen haben?

Ich habe damals argumentiert, dass es so ablaufen sollte, wie es ablief. Denn ich glaube nicht an die Urteile der Geschichte: Das Urteil der Geschichte ist immer das Urteil des Siegers über den Besiegten, und es ändert nichts, das heißt, es diskreditiert immer die Justiz. Die Nürnberger Prozesse waren in der Nachkriegszeit ohne Bedeutung; auch die Prozesse durch die Juden gegen die Nazis haben nichts an der Denkstruktur des Staates Israel geändert und die Gewalt nicht verringert, wie wir es gerade sehen. Es liegt in der Natur des Menschen, dass gesellschaftliche Gruppen nach ihren jeweiligen Interessen handeln. Gerechtigkeit ist immer eine Frage der momentanen Umstände. Die Justiz hängt immer von den Umständen ab. Was wir tun müssen, ist, Situationen zu untersuchen, aber in ihrem Rahmen und Kontext. Und das geschieht durch Aufklärung und durch konkrete politische Veränderungen. Ehemalige Führungspersönlichkeiten vor Gericht zu stellen, wäre für die Medien zwar sehr aufregend und profitabel, aber nicht sehr effektiv, geschweige denn von der Möglichkeit, dass diese Leute Jahre später sich auch noch als Opfer darstellen können. Das ist es, was jetzt mit diesen populistischen Bewegungen geschieht. Populistische Bewegungen entstehen nicht dadurch, dass wir nicht verstehen, was im Nationalsozialismus passiert ist: Was tatsächlich abläuft ist eine Wiederholung der Bedingungen, unter denen bestimmte soziale Gruppen in Phasen von Verzweiflung und Irrationalität geraten. Der Umgang mit diesen neuen Bewegungen ist schwierig, und die Gesellschaft der Demokraten muss sich mit ihnen auseinandersetzen – aber nicht mit der Vorstellung, dass sie nur entstanden sind, weil ihre Großeltern nicht verurteilt wurden. […] Glücklicherweise werden viele Werke über die Verbrechen der Vergangenheit veröffentlicht, es gibt genügend Material, aber leider gibt es nur sehr wenige Leser für diese Werke, wenig Interesse für sie: Nach unserer Generation entstanden gesellschaftliche Gruppen, die sich von der Geschichte abgekoppelt haben und ihre Gegenwart so leben, als ob es keine Vergangenheit gegeben hätte und es auch keine Zukunft gäbe. Das ist das Thema, das mich am meisten beunruhigt: die Kurzfristigkeit und die Unmittelbarkeit im Verhalten vieler Menschen.

Eine letzte Frage: 1975, kurz bevor die letzten portugiesischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erklärten, gab es etwa eine halbe Million „Rückkehrer“ (Menschen hauptsächlich portugiesischer Herkunft), die aus Afrika nach Portugal zurückkehrten, weil sie sich damals dafür entschieden, ihre portugiesische Staatsangehörigkeit zu behalten, anstatt eine neue afrikanische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Wie haben diese Rückkehrer später die portugiesische Gesellschaft beeinflusst, sowohl positiv als auch negativ?

Einige von ihnen waren nicht einmal Rückkehrer, sie waren vorher noch nie in Portugal gewesen…

Aber als der Krieg in Angola begann, gab es dort nur etwa 80.000 Siedler portugiesischer Herkunft, und in Mosambik etwa 35.000. Während des Kolonialkrieges stieg die Zahl der Siedler deutlich an, so dass sie meist erst seit kurzem in diesen Ländern verwurzelt waren. Als sie nach Portugal zurückkehrten, brachten sie daher die Erfahrung eines Neuanfangs mit, die sehr wichtig war: Sie kehrten zurück, um die Erfahrungen zu reproduzieren, die sie in den Kolonien gesammelt hatten. Und sie brachten neue Faktoren der politischen und sozialen Dynamik, und sogar neue Verhaltensweisen nach Portugal mit.

Und es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt, nämlich den des Ressentiments: Die späteren Rückkehrer hatten vorher gehofft, in den Kolonien ein besseres Leben zu beginnen, und diese Hoffnung wurde mit der Dekolonisierung zunichte gemacht, so dass sie dazu neigten, das neue Regime (das die Unabhängigkeit zugelassen hatte) für ihre ideellen und materiellen Verluste verantwortlich zu machen. Deshalb reagierten sie mit der Unterstützung von Bewegungen, die in gewisser Weise für den Erhalt des Kolonialismus waren. Ich glaube jedoch, dass die aktuellen Phänomene des Rechtsradikalismus in Portugal nicht auf diese Gruppen zurückzuführen sind, nicht zuletzt weil mittlerweile ein oder zwei Generationen vergangen sind. Die erste Generation der Rückkehrer hat sich tatsächlich relativ gut in die portugiesische Gesellschaft integriert.

Das gegenwärtige Aufkommen und die Entwicklung der rechtsextremen Bewegungen, ist auf die innere Situation in Europa und auch in den Vereinigten Staaten zurückzuführen. Es hat mit der Tatsache zu tun, dass es keine Hoffnung, keine Utopie mehr gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Die Menschen ziehen in sich selbst zurück und suchen Zuflucht in ihren Gemeinschaften und in dem, was sie am besten kennen, nämlich im Konservatismus: Angst vor dem Anderen, Angst vor Offenheit, Angst vor dem Risiko. Diese Bewegungen sind einfach ein Ausdruck von „Feigheit“!

Vielen Dank, Herr Oberst, für dieses interessante Interview!

Die Freude war ganz auf meiner Seite!

Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde von Vasco Esteves vom ehrenamtlichen Pressenza-Team erstellt. Wir suchen Freiwillige!

Das vollständige Interview auf Portugiesisch als Video: