Willkommen zum Zweiten einer Reihe von Interviews, in denen wir auf den Nahen Osten schauen und versuchen besser zu verstehen, was dort vor sich geht. Aus Sicht des Westens ist es eine Region voller Gewalt und Gefahren. Im Jemen ist nach wie vor Krieg und es gibt einige andere Länder, die an der Schwelle zum Krieg zu stehen scheinen. Es gibt erhebliche Menschenrechtsverletzungen und es gibt gescheiterte Staaten. Anders betrachtet jedoch ist diese Region die Wiege der westlichen Zivilisation: Mesopotanien, Persien, Ägypten, Syrien, Palästina und Arabien sind Stätten von Mythen und Legenden. Große Mystiker, Mathematiker, Übersetzer und Geschichtenerzähler kommen von dort. Bedeutende Religionen haben dort ihre heiligsten Stätten. Die westliche Kunst, Musik, Wissenschaft und Nahrung unterliegen dem Einfluss dieser Region.

In dieser Interviewreihe, die wir The Roots of Violence (Die Wurzeln der Gewalt) nennen, werden wir versuchen zu verstehen, wo die Ursachen der Gewalt liegen und wer dafür verantwortlich ist. Wir versuchen nicht, physische Gewalt zu rechtfertigen, doch sie entsteht nicht aus dem Nichts. Physische Gewalt ist die Explosion, die nach einer langen Phase ökonomischer und psychologischer Gewalt ausbricht.

In unserem zweiten Interview sprechen wir erneut mit Emad Kiyaei. Emad ist Iraner. Er ist Direktor der Middle East Treaty Organization, einer zivilgesellschaftlichen Kampagne die zum Ziel hat, durch innovative Politik, Interessenvertretung und Bildungsprogramme alle Massenvernichtungswaffen aus dem Nahen Osten zu entfernen. Er ist Co-Autor des Buches „Weapons of Mass Destruction: a New Approach to Non-proliferation“ (Massenvernichtungswaffen: Ein neuer Ansatz zu Nichtverbreitung) und studierte an der Princeton und Columbia Universität in den USA.

Pressenza: Willkommen zurück zu unserem Interview. Einer Reihe von Gesprächen, in der wir versuchen wollen, die aktuelle Situation im Nahen Osten zu betrachten und zu verstehen wo die physische Gewalt herrührt. Wir versuchen zu verstehen, was zu den Kriegen und der Gewalt geführt hat, die sich offenbar in der Region festgesetzt haben.

Die Leser von Pressenza wissen, dass physische Gewalt das letzte Mittel der Hoffnungslosen ist, die zuvor alle Arten wirtschaftlicher und psychiologischer Gewalt erfahren mussten. Wenn wir deshalb die Möglichkeit haben, die Ursachen der physischen Gewalt zu ergründen, haben wir vielleicht die Chance, sie an ihren Wurzeln zu behandeln und eine gewaltfreie Lösung zu finden.

Unser Gesprächspartner ist erneut Emad Kiyaei, Direktor der Middle East Treaty Organization. Und bevor ich ihn mit weiteren Fragen bestürme, werde ich eine kurze Zusammenfassung des vorherigen Interviews geben.

1952 wählt also der Iran eine Regierung, die versucht, einen Plan zur Nationalisierung der Ölindustrie umzusetzen, damit die Profite aus der Ölgewinnung dem einfachen iranischen Volk und nicht den Ölkonzernen zu gute kommen. Die Geheimdienste der USA und Großbritanniens, CIA und MI6, arbeiten zusammen, um diese Regierung zu stürzen und ihren Marionettenkönig an die Macht zu bringen: den Schah des Iran. Dieser bleibt 25 Jahre an der Macht und unterdrückt in dieser Zeit jegliche Opposition, was die Menschen ohne Hoffnung zurücklässt.

Doch trotzdem verschwindet die Opposition nicht. Marxisten, Islamisten, Akademiker, Studenten und andere unterdrückte Gruppen warten auf ihren Moment. 1978 schließlich wird die Situation untragbar und Protestierende gehen auf die Straßen. Der 8. September 1978 geht in Teheran als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte ein, als die Armee das Feuer auf die Menge eröffnete und mehr als 100 Menschen tötete. Dadurch wird eine Kettenreaktion ausgelöst, die den Schah im Januar 1979 sehr schnell außer Landes zwingt, während Ayatollah Khomeini heimkehrt und damit die Gründung der islamischen Republik besiegelt ist. Als Studenten in Teheran die US-Botschaft stürmen und dort Dokumente entdecken, die auf die Planung eines weiteren Staatsstreichs durch die USA hinweisen, eskaliert die Lage und führt zu einer Hängepartie, in der 52 US-Diplomaten und -Bürger 444 Tage lang als Geiseln gehalten werden.

Von diesem Ereignis werden sich die Beziehungen zwischen Teheran und Washington nie erholen und der Irak wird angestachelt und finanziert, einen Krieg gegen seinen Nachbarn zu beginnen. Dieser Krieg dauert acht Jahre und bringt Tod und Verletzung hunderttausender Menschen mit sich. In diesem Krieg setzt der Irak chemische Waffen gegen seinen Nachbarn und die eigene Opposition im Land ein. Schließlich geschieht eine weitere unerwartete Wendung in der Geschichte und Saddam Hussein beschließt die Invasion Kuwaits, seiner früheren Provinz. Der Rolle des Lieblingsfeindes des Westens wird nun vom Iran an den Irak weitergereicht und er erste Golfkrieg nimmt seinen Lauf. Der Iran versucht die Situation dafür zu nutzen, um zu sich zu kommen und sich als Nation neu zu erschaffen.

Also Emad, ich hoffe ich habe hier eine mehr oder weniger akzeptable Zusammenfassung gegeben. In den späten 1990er Jahren fangen wir an, mehr und mehr über einen nichtstaatlichen Akteur zu hören: Al-Qaida. Bevor wir also zum Iran zurückkehren möchte ich Dich bitten, uns etwas zur Situation in der Region zu sagen, die schließlich zum 11. September 2001 geführt hat.

Emad Kiyaei: Vielen Dank für die Zusammenfassung Tony. Es war die Quintessenz und ich habe dem nichts weiter hinzuzufügen. Aber da stehen wir nun, wie Du schon gesagt hast, mit nichtstaatlichen Akteuren, insbesondere Al-Qaida. Die Wurzeln von Al-Qaida liegen tatsächlich im Kampf gegen den Kommunismus und der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan, das wiederum an den Iran grenzt. In diesem Konflikt zwischen Afghanistan und der Sowjetunion und dem Widerstand gegen diese sowjetische Invasion ist es die Ironie der Geschichte, dass die Gruppe, aus der später Al-Qaida wurde, von den USA finanziert, ausgebildet und ausgerüstet wurde, denn sie sahen den Kampf gegen die kommunistische Sowjetunion als Teil der umfassenderen Feindseligkeit des Kalten Krieges zwischen den beiden Ländern.

Wenn wir also auf den Führer von Al-Qaida, den saudischen Staatsbürger Bin Laden schauen und auf die Beteiligung seiner ursprünglich als Mudschahedin bekannten Gruppe am Widerstand gegen die Sowjetunion, dann sehen wir, dass auch in diesem Konflikt die Vereinigten Staaten ihre Finger hatten. Dann wendet sich das Blatt der Ereignisse und wir beginnen, erstmalig von Al-Qaida zu hören – mit der Bombardierung der US-Botschaften in Ostafrika. Das war das erste Ereignis dieser Art und Bin Laden wird zum Widersacher der Präsenz der Vereinigten Staaten im Nahen Osten, besonders im Rückblick auf den ersten Golfkrieg von 1991 und das dann andauernde und stärker werdende Eingreifen der USA in der Region.

Erstmals stehen US-Truppen im „Heiligen Land“ des Islam, wie Bin Laden es nennen würde: in Saudi-Arabien. Es ist das erste Mal, dass die USA ihren militärischen Fußabdruck durch die Errichtung von Militärstützpunkten in der gesamten Region hinterlassen. Das Phänomen Al-Qaida, das später als Täter von 9/11 in die Geschichte eingehen wird, bezieht sich also in seinem Ursprung und seiner Rechtfertigung für diese Gewalt gegen die Vereinigten Staaten auf drei Hauptgründe.

Zum einen sind hier die Hegemonieansprüche der USA im Nahen Osten genannt, ihre Unterstützung von Diktaturen und despotischen Regimes, was sich bekanntermaßen immer stärker als Auseinandersetzung zwischen dem Islam und dem Westen herauskristallisierte. Diese Art Krieg findet gewissermaßen zwischen den Zivilisationen statt – als „Clash of Civilizations“. Zum anderen bringt die Verstrickung der USA im Nahen Osten eine wachsende Zahl tausender militärischer Kräfte mit sich, die nun auf islamischem Boden stationiert sind, auf dem Boden muslimischer Staaten, besonders in Saudi-Arabien. Und drittens schließlich wurde es als das Blut von Muslimen beklagt, das im Ergebnis zahlreicher Gemetzel und der Unterstützung des Tötens durch die USA und der Ausweitung und Verlängerung der Kriege in der Region vergossen wurde, wobei mal der eine und mal der andere Beteiligte unterstützt wurde, was zu noch mehr Blutvergießen geführt hat.

So fand der Aufstieg von Al-Qaida im Zuge des Anti-Amerikanismus und der Überzeugung statt, dass die USA in der Region im Prinzip einen Kreuzzug gegen die islamische Welt führen. Dabei muss hier noch einmal betont werden, dass Osama Bin Laden, der Mastermind der Angriffe des 11. September, saudischer Staatsbürger war. Als Al-Qaida in Afghanistan unter dem Schutz der damals dort herrschenden Taliban seinen sicheren Unterschlupf hatte, wurde Afghanistan nur von drei Ländern anerkannt. Die Taliban standen ziemlich weit rechts im Spektrum des islamischen Glaubens und herrschten mit eiserner Faust über das Land.

Ich betone das, weil Al-Qaida nicht in einem Vakuum operierte, sondern vielmehr durch das Taliban Regime in Afghanistan in einem Land und unter einer Herrschaft, die Al-Qaida erblühen ließ. Und dieses Taliban Regime wurde von den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudia Arabien, und … ich komme nicht gleich auf das dritte … Pakistan anerkannt. Diese drei Länder erkannten die Taliban an und in der Konsequenz unterstützten also diese drei Länder direkt oder indirekt den Aufstieg Al-Qaidas und seine Fähigkeit, Operationen wie diese zu planen, die schließlich zu den Angriffen auf amerikanischen Boden führten.

Gut, dann erzähle mir bitte etwas mehr von Al-Qaida, denn es scheint so, dass diese Gruppe in einem Moment gegen die Kommunisten kämpft und dann gegen die Amerikaner ab dem Moment, da diese in der Region ihre Präsenz erheblich ausbauen. Und wir haben drei Länder, die Al-Qaida unterstützen: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Pakistan. Welche Rolle spielt Saudi-Arabien in dieser Situation?

Nun, jeder nichtstaatliche Akteur ist in der Lage, seine Ideen und Ideologien im Wesentlichen mit Hilfe von fünf Faktoren zu verbreiten. Lass mich das erklären und dann komme ich auf Saudi-Arabien zurück.

Erstens: Es muss eine ideologische Grundlage geben. Was denkt die Gruppe, was ist ihre ideologische Basis? In vielen Fällen sind diese Ideologien stärker durch ihre religiöse Zugehörigkeit oder ihren religiösen Glauben entstanden und gefestigt worden. Wir werden darauf gleich zurückkommen. Zweitens geht es ums Geld, hab ich recht? Man braucht eine Finanzierung, man muss Leute bezahlen und rekrutieren können. Das führt uns zu unserem dritten Faktor, die menschlichen Ressourcen. Man braucht also Leute, die an diese Ideologie glauben und die in der Lage sind, die Message aufzunehmen, um dann für die Sache einzutreten, was immer auch die Sache sein mag. Viertens: Man braucht eine Führung oder eine Struktur, die die Richtung für diese Organisation oder diese Gruppe als nichtstaatlichen Akteur vorgibt. Was ist das Ziel? Wer ist der Anführer?

Und schließlich fünftens: Man braucht Unterstützer. Man braucht Staaten oder sehr einflussreiche Strukturen, um agieren zu können und um dem Druck standhalten zu können, wenn man diesem durch Widerstand oder durch den Feind ausgesetzt ist.

Nehmen wir also diese fünf Säulen. Und nehmen wir einen nichtstaatlichen Akteur und konkret Al-Qaida als Beispiel und schauen, wo deren ideologische Basis liegt.

In diesem Fall nun ist es die vorherrschende Ideologie der Regierung in Saudi-Arabien, basierend auf einer strengen Auslegung des Islam, dem äußeren rechten Flügel, der auch als die Anhänger von al-Wahhab bekannt ist. Ich möchte hier nicht näher auf die Geschichte der al-Wahhab eingehen, es genügt zu sagen, dass sie den Islam wortgetreu auslegen. Sie nehmen ihn beim Wort und glauben, dass sie sich damit nach der reinsten Form des Islam richten. Das ist natürlich sehr eng gefasst und sehr extrem und die Anhänger des Wahhabismus bzw. Salafismus sind in der islamischen Welt eine Minderheit. Zu ihnen gehören jedoch wohlhabende Schlüsselstaaten am Persischen Golf, wie eben zum Beispiel Saudi-Arabien, das der wichtigste Unterstützer ist.

Al-Qaidas ideologischer Unterbau ist also eine eng gefasste Interpretation des Islam, bekannt als die Gefolgschaft von al-Wahhab. Zweitens – die Finanzierung. Woher bekommen sie das Geld, um zu ihren Taten in der Lage zu sein? Die Finanzierung erfolgt in großem Umfang wiederum durch wohlhabende Golf-Staaten, allen voran Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate und später in einem gewissen Umfang auch Qatar. Da kam also das Geld her. Drittens – ihre personellen Mittel. Da sie in der Lage waren, diesen Kampf zwischen dem Islam und dem Westen zu propagieren, konnten sie Islamisten rekrutieren bzw. Menschen, die die anhaltenden Kriege im Nahen Osten und die wachsende Präsenz der Vereinigten Staaten vor Augen hatten. Wenn ich von wachsender Präsenz spreche, meine ich damit, dass 1991 beim ersten Golfkrieg 550,000 US-Soldaten gleichzeitig in Saudi-Arabien, dem heiligsten Land des Islam stationiert waren. Man kann sich also denken, dass es mit Bildern wie diesen in allen Nachrichtenkanälen einfach war, diejenigen für sich zu gewinnen, die darin einen Krieg gegen den Islam sehen. Al-Qaida rekrutierte also weltweit für ihre Sache gegen die Vereinigten Staaten.

Kann ich kurz eine Frage stellen, Emad?

Nur zu.

Zum einen kommt ja viel Unterstützung von Saudi-Arabien, doch es war ja die saudische Regierung, die den Amerikanern erlaubt hat, all die Stützpunkte zu errichten. Wie also passen diese beiden Aspekte zueinander?

Das ist etwas komplizierter. Es war nicht die saudische Regierung, die Geld direkt an Al-Qaida überwiesen hat. Nein, sie nutzte vielmehr ein Geflecht anderer Mechanismen, um Al-Qaida und ihre Operationen zu unterstützen. Und wenn ich sage, dass Saudi-Arabien zu den wenigen Ländern zählte, die das Regime der Taliban in Afghanistan anerkannten, war das einer der Wege, um Al-Qaidas Operationen zu unterstützen.

Denn die saudische Regierung achtete einerseits darauf, dass Saddam in Kuwait nicht siegreich wird, denn, wie wir nicht vergessen dürfen, grenzt Kuwait an Saudi-Arabien. So war die Invasion Saddam Husseins in Kuwait in den Augen der saudischen Sicherheitskräfte eine Bedrohung ihrer eigenen nationalen Sicherheit, und so brachten sie die USA ins Spiel, um ihre Ressourcen zu schützen. Andererseits fiel dieser ideologische Krieg, den Al-Qaida propagierte, in den Bereich des regionalen Konflikts zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Hier geht es jetzt um etwas mehr, um die konfessionelle Natur dieser regionalen Kriege, um die Auseinandersetzung verschiedener Strömungen des Islam, Schiiten gegen Sunniten, also um die theologische Teilung innerhalb des Islam. Und Al-Qaida ist der Vollstrecker der saudischen Expansion der Ideologie, die auf dem Wahhabismus und der salafistischen Theologie beruht.

Dazu hätte ich noch eine Frage….

Ich wollte damit sagen, dass das eine das andere nicht ausschließt. Eine Regierung wie die Saudi-Arabiens kann die USA um Schutz bitten und gleichzeitig für seine anderen Zwecke und Vorhaben Al-Qaida und andere nichtstaatliche Akteure, wie die Taliban unterstützen, indem es auf regionaler Ebene seine eigene Agenda voranbringt.

Wir hören also sehr oft, dass Konflikte durch religiöse Differenzen entstehen. Doch oft erkennt man dann aber, wenn man etwas tiefer in die Problematik eindringt, dass es überhaupt nicht um Religion geht, sondern um die Kontrolle über die Ressourcen. Sprechen wir also wirklich über diesen wahhabitischen Flügel des Islam? Sagen wir wirklich damit, dass es sich dabei um eine religiöse Strömung handelt, die offen Krieg und Gewalt propagiert? Denn so sind Religionen normalerweise nicht. Wird also die Religion hier nur als Vorwand für einen Konflikt benutzt oder geht es vielmehr um die uralte Quelle von Krieg und Gewalt – nämlich die Kontrolle über die Ressourcen?

Tony, ich bin kein Theologe, deshalb möchte ich nicht behaupten, dass ich alle Perspektiven und Ideen innerhalb irgendeiner Religion in Gänze verstehe. Was ich aber weiß ist, dass Religion ein mächtiger Unterbau ist, der durch diejenigen, die die Religion als Kulisse betrachten, benutzt werden kann, um politische, soziale und wirtschaftliche Ziele voranzubringen. Und in diesem Fall ist es sozusagen ziemlich plausibel, dass es Teil der Kalkulation Saudi-Arabiens sowie derer ist, die einen spezifischen Flügel des Islam propagieren wollen, die Verwerfungslinien in eine andere Dimension zu bringen, und zwar nicht basierend auf einer ökonomischen, sozialen oder regionalen Dominanz, sondern eher wie wir die islamische Welt sehen, um das dann gegen den Gegner zu richten. In diesem Fall benutzte es Al-Qaida gegen die Amerikaner, aber auch gegen den Schah des Iran. Und in diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf die iranische Revolution von 79 zurückkommen, die in der Region dieses Erdbeben auslöste und ein Grund dafür war, weshalb Saudi-Arabien seit den frühen 80er Jahren damit begann, diesen Flügel des Islam, den Wahhabismus und Salafismus, auf der ganzen Welt zu propagieren. Das war eine direkte Reaktion auf die Revolution im Iran, denn sie sahen, dass der politische Islam im Iran Fuß fasste, populär wurde und so eine direkte Bedrohung ihrer Autorität über die islamische Welt wurde. Für sie spielt die Religion also eine ziemlich wichtige Rolle und sie sehen sie als eine Art niedrig hängender Frucht, um auf diesem Weg in die Herzen und Hirne der Muslime weltweit zu gelangen. Und diese Methode funktioniert. Sie funktioniert seit ewigen Zeiten, sei es im Christentum, Judentum, Buddhismus oder wo auch immer. Religion hatte und hat stets diese Wirkung, tief ins Bewusstsein der Menschen einzudringen, sei es zum Positiven oder aus anderen Gründen. In diesem Fall nun leider, um Gewalt gegen den anderen anzustacheln.

Du hast nun diese fünf Punkte erläutert: die Ideologie, die Finanzierung, die menschlichen Ressourcen, die Führung …

…und dann die Gefolgschaft. Und zwar unter der bekannten Führung. In diesem Fall war es Bin Laden als Kopf von Al-Qaida. Wir wissen, dass seine Predigten und Reden eine Menge Leute aufheizten, die leider zu Recht sahen, dass sich die USA in die Angelegenheiten der islamischen Welt einmischt und im Vordergrund all dieser Kriege steht. So war es 1991, als die USA bereits seit langem im Nahen Osten involviert waren. Und es scheint, dass die USA jedes Mal, wenn sie irgendwo mitmischen, ihr eigenes Strategiespiel von Dominanz, Extraktion und Ausbeutung spielen und durch Ausbreitung Kriege entfachen und am Leben erhalten. Ich möchte hier nicht die Taten von Al-Qaida rechtfertigen, aber ich beginne zu verstehen, weshalb Al-Qaida Leute dafür gewinnen konnte. Es basiert auf der Tatsache, dass an den Händen der Weltmächte viel Blut klebt – sei es die Sowjetunion in Afghanistan oder die USA in der gesamten Region. Und ein einfacher Muslim, der, sagen wir mal in Indonesion, dem Irak oder an einem anderen Ort der Welt lebt, sagt sich dann: „Dieser Al-Qaida Typ hat Recht. Wir werden uns wehren.“ Das ist dann der Dschihad, der heilige Krieg gegen die Zumutungen der – wie sie es nennen – Ungläubigen im Nahen Osten. Der Kampf gegen die Sowjetunion basierte anfangs auf der Tatsache, dass die Mudschahedin bzw. der Ursprung von Al-Qaida ein gottloses Imperium bekämpften – die Sowjetunion.

Religion spielt also durchaus eine Rolle. Der Glaube ist mächtig bei dieser Art Bestrebungen.

Ich habe noch eine andere Frage. Schaut man zurück beginnend mit den 80er und 90er Jahren, wie waren da die Lebensbedingungen der Menschen im Nahen Osten, denn es ist ja bekannt, dass es einen großen Reichtum in der Region gibt. Sie ist reich an Öl und die Ölpreise schaffen in der Regel einen großen Wohlstand in den ölfördernden Ländern. Andererseits haben doch aber Menschen, denen es gut geht, die Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialer Sicherheit haben, in der Regel keinen Anlass, zur Armee zu rennen, um an Kriegen teilnehmen zu können. Was sind also die sozialen Bedingungen der Menschen in der Region, die sie denken lassen, es wäre eine hoffnungsvolle Angelegenheit, in den Krieg zu ziehen?

Tony. Der Wohlstand und die Petrodollars, die in den Nahen Osten geflossen sind und speziell diese Länder mit großen Ölvorkommen, waren und sind sowohl Segen als auch Fluch. Segen in dem Sinne, dass es menschliche und natürliche Ressourcen gibt und Kapital für die Gestaltung einer Region, die in allen Facetten menschlicher Entwicklung floriert. Doch leider ist hier viel mehr im Spiel. Und zwar schon seit langer Zeit. Und wieder können wir, wenn wir über den Nahen Osten sprechen, leider die geschichtlichen Hintergründe nicht ignorieren. Denn die Rolle der verschiedenen Mächte – Kolonialmächte, egal ob Franzosen, Briten, in gewissem Maße sogar die Italiener bis hin zur USA, der einzigen Supermacht nach Ende des zweiten Weltkrieges – bei ihrem Griff nach dem Öl, also das schwarze Gold, das die Weltwirtschaft antreibt und das aus dem Nahen Osten herausgepumpt wurde, hatte ihren Preis. Es hatte seinen Preis, dass die USA und die anderen Weltmächte in der Historie traditionell in der Lage waren, durch Satellitenstaaten die Gesellschaften zu kontrollieren, von denen das Öl gewonnen wurde. Durch einen Kuhhandel, um es salopp zu sagen: „Wir sind die USA, wir liefern Euch Sicherheit und Rückhalt, wir stellen sicher, dass Ihr weiter Euer Volk regieren könnt, Ihr müsst nur hier unten unterschreiben.“ Und diese Absicherung erlaubt uns, Eure Ressourcen abzubauen und wir werden keine Fragen stellen, wie Ihr es mit den Menschenrechten haltet. Wir fragen nicht, was bei Euch im Land los ist, im Gegenteil, wir werden Euch unterstützen. Wir werden sogar Eure Polizeikräfte und Geheimdienste trainieren, wie sie dieses Aufkeimen politischen Denkens in Euren Ländern unterdrücken und ausmerzen können. Dieser Kuhhandel wurde leider von den Führern der Staaten des Nahen Ostens unterschrieben: Wenn Du die Macht über Dein Volk behalten willst, dann mach einen Deal mit einer der Weltmächte. Und so formten die Allianzen, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gebildet worden waren, den Nahen Osten. Und zwar in diejenigen, die mit der kommunistischen Sowjetunion alliiert waren und diejenigen, die sich an die Vereinigten Staaten gebunden hatten.

Und dann ist da dieser Sonderling Iran, der mit seiner Revolution 1979 entschied, weder nach Osten noch nach Westen zu gehen, sondern ein unabhängiger Staat sein zu wollen. Ein unabhängiger Staat in einer Region reich an Ölvorkommen, an der Schnittstelle von Zivilisation und Kontinenten. In dieser Region ist Unabhängigkeit eine direkte Bedrohung für die nationale Sicherheit der Weltmächte. Und deshalb wollte seit Anbeginn jede Macht, ob Römer, Griechen, Chinesen, Inder, Perser, Araber oder andere, die durch diese Region kamen, den Nahen Osten dominieren und damit die Weltpolitik. Und so ist es auch heute noch, und es wird deshalb für jede Regierung dort sehr schwer zu sagen: „Wisst Ihr was? Wir werden den Amerikanern einfach sagen ‚Danke, dass hier da wart, aber nun packt bitte Eure Sachen und geht‘.“ Das ist es, was Iran getan hat und darauf möchte ich gerne zurückkommen. Nämlich dass dieser Schritt der Revolution von 79 Konsequenzen für das Land, die Region und die gesamte Geopolitik des Nahen Ostens für die regionalen Mächte hatte. Sie wirkten über die Landesgrenzen hinaus in der gesamten Welt. Denn man kann keiner mittelgroßen Volkswirtschaft wie der des Iran erlauben, unabhängig zu werden ohne Angst zu haben, dass andere dem Beispiel folgen wollen. Und deshalb wurde es zu so einem angsteinflößenden Konzept für die Monarchen und Despoten, die im Nahen Osten herrschten. Denn würde sich diese Revolution bis zu den Grenzen ihrer Länder hin ausbreiten, würde es das Ende ihrer Herrschaft bedeuten.

Sehr gut, ok. Schuld an diesem ganzen Chaos ist also 9/11. Wir alle kennen die Geschichte und wir wissen, dass sie USA die Gelegenheit genutzt haben, um ihren Krieg gegen den Terror zu beginnen, der anfangs auf Afghanistan abzielte und sich dann gegen den Irak wandte. Und der Iran steht in der Mitte des Ganzen und ist vermutlich sehr beunruhigt darüber. Was passierte in diesem Zeitabschnitt im Iran? Wie denkt die politische Führung, auch darüber, dass die USA den Iran mit ihrer „Achse des Bösen“ neben dem Irak, Syrien oder auch Nordkorea oder so in der Art miteinschließen?

Nordkorea.

Was passierte im Iran, nachdem Ihr gerade einen achtjährigen Krieg überstanden hattet? Ihr wart doch sicher sehr nervös angesichts dessen, was auf der Welt passierte.

Gut, lass uns dieses Kapitel schnell abhandeln. Wir haben 9/11, den Ersten Irakkrieg (zweiter Golfkrieg, Anm. d. Red.), die Amerikaner kommen, sie befreien Kuwait, sie zerstören Saddam Husseins Infrastruktur, behalten ihn aber, wie Du schon gesagt hast, für ein weiteres Jahrzehnt bis 2003 an der Macht. Dann durch den Zweiten Irakkrieg (dritter Golfkrieg, Anm. d. Red.) ist es für Saddam endgültig aus, das war also dann nach 9/11.

Zur Zeit von 9/11 war im Iran eine reformistische Administration unter Dr. Khatami an der Macht, der sich in seiner ersten Ansprache vor der UNO für einen Dialog zwischen den Zivilisationen aussprach. Dafür, diese Mauer zu zerschlagen, die zwischen unseren großen Zivilisationen aufgebaut wurde, in einen Dialog zu treten, miteinander zu reden, Diplomatie anzuwenden, um unsere Konflikte zu lösen. Khatamis Regierung war wirklich sehr progressiv, und nach den Anschlägen des 11. September gehörte der Iran zu den ersten Staaten, die eine Beileidsbekundung an die USA sandte. In diesem Schreiben hieß es, dass der Iran die Auswirkungen des Terrorismus auf die Bevölkerung und die Trauer nachfühlen kann, die diese Angriffe auf Zivilisten mit sich gebracht haben. Denn der Iran hat selber seit 1979 aus den verschiedensten Gründen zahlreiche terroristische Angriffe erlitten, auf die ich hier nicht weite eingehen muss. Richten wir aber nun unseren Blick auf 2001, so hat der Iran den USA den Olivenzweig gereicht und sogar Hilfe bei der Verfolgung der Verantwortlichen der Anschläge angeboten. Denn, erinnerst Du Dich, sind Al-Qaida und die Taliban wessen Todfeind? Des Iran. Denn sie sahen den Iran als ein schiitisches Land, also als „ungläubig“. Es waren Al-Qaida und die Taliban, die nur ein oder zwei Jahre vor den Anschlägen des 11. September iranische Diplomaten in Afghanistan töteten, wodurch es fast zu einem Krieg zwischen dem Iran und Afghanistan gekommen wäre. Der Iran hatte also ein eigenes Interesse daran, die Taliban und Al-Qaida zu Fall zu bringen, denn er war überzeugt, dass diese Ideologie nur zu noch mehr Spaltung führt und einen ehemals konfessionellen Konflikt in eine Größenordnung bringt, die es nicht wert ist. Der Iran reichte also den Olivenzweig und als die USA im Oktober 2001 als Vergeltung für 9/11 entschieden, in Afghanistan einzumarschieren, stellten sie sehr schnell fest, dass Informationen und Koordination vor Ort benötigt wurden. Und wer gehörte zur Opposition von Al-Qaida und den Taliban? Iranische Alliierte in Afghanistan. Die Nordallianz war eine iranische Allianz, die unter iranischer Führung stand und die Genehmigung hatte, auf allen Ebenen mit den Amerikanern zu kooperieren, damit diese die Herrschaft der Taliban und demzufolge auch den Zufluchtsort, den die Taliban Al-Qaida geboten hatte, eliminieren konnten. Gewissermaßen wäre also der Erfolg der USA ohne die Kooperation des Iran mit den Vereinigten Staaten während des Eingreifens in Afghanistan nicht möglich gewesen. Das sind die Dinge, die uns die Geschichte oftmals vergessen lassen möchte. Doch Afghanistan, also der Sieg der USA in Afghanistan wurde anfangs durch die Allianz mit dem Iran errungen. Nun, während wir hier darüber sprechen, ziehen sich die USA nach dem längsten Krieg, den sie ausgetragen haben, aktuell aus Afghanistan zurück und überlassen das Land sich selbst. Und sie waren nicht in der Lage, dieses Land zu befrieden, weder jetzt noch zu dem Zeitpunkt, als sie einmarschiert sind. Und diese Tatsache kann wiederum darauf zurückgeführt werden, wie sich die USA dem Iran gegenüber für dessen Kooperation in Afghanistan erkenntlich gezeigt haben. Weißt Du, wie sie dem Iran dafür gedankt haben?

Nein, das weiß ich nicht.

Präsident Bush brandmarkt den Iran als Teil der „Achse des Bösen“. Und das, nachdem der Iran logistische und personelle Unterstützung für seine Alliierten in Afghanistan zur Verfügung gestellt hat, um den USA zu helfen, die Taliban und Al-Qaida zu verdrängen. Präsident Bush stellt sich vor die UN und steckt den Iran in diese Schublade. Hast Du eine Ahnung, was das mit Khatami und seinen politischen Reformen im Iran gemacht hat? Damit wurden ihm die Hände gebunden. Sie sagten: „Da siehst Du es! Du hast den Amerikanern geholfen und wie reagieren sie? Sie haben dich zur Achse des Bösen gesteckt.“ Zwei Jahre später drangen die Amerikaner unter dem Vorwand im Irak ein, die dort vermuteten Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Heute wissen wir, dass deren Existenz eine falsche Annahme war. Doch auch hier wieder – wer denkst Du half den USA, Saddam los zu werden, und zwar schneller als irgendein anderer mit einer echten Unterstützung der amerikansichen Invasion? Es war die Opposition, die von Saddam Hussein ins Exil vertrieben worden war. Und sie lebte wo? Im Iran. Also auch hier wieder, die USA gehen nach Afghanistan und sie gehen in den Irak, um die beiden unmittelbaren Feinde des Iran zu entmachten und sie mit dessen Alliierten zu ersetzen. Und das brachte bis Ende 2003 Tel Aviv, Riad und die anderen Hauptstädte des Nahen Ostens in Bedrängnis. Sie hatten Milliarden investiert, um den Iran klein zu halten. Und dann kommen die Amerikaner, machen kurzen Prozess mit diesen beiden Gegnern und servieren sie dem Iran auf dem Silbertablett. Ich muss also den Amerikanern dafür danken.

Okay, hören wir an dieser Stelle auf, denn wir haben schon ganz schön lange gesprochen. Machen wir das nächste Mal weiter, nach dem Zweiten Irakkrieg und mit der Entwicklung des iranischen Atomprogramms, das heute ein solch großer Anlass für Auseinandersetzungen in der Weltpolitik ist. Ich danke Dir sehr, Emad.

Danke Dir und auch Danke an alle, die dieses Video angeschaut haben und die so weit bis zum Ende dieser zweiten Episode dabeigeblieben sind. In der nächsten Woche werden wir weitermachen um zu ergründen, wo die Wurzeln der Gewalt im Nahen Osten liegen. Vielen Dank.

Transkript bearbeitet von Anahita Parsa, METO. Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Silvia Sander vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Die Wurzeln der Gewalt – Episode 1 – Iran 1952 bis 2001