Es gibt Abende, an denen die Hoffnung schwer ist – und trotzdem leuchtet. Die Verleihung des Seán MacBride Friedenspreises des Internationalen Peace Bureau (IPB) am 10. November in Berlin war ein solcher Abend. Ein Abend, an dem Menschen, die das tiefste Leid erlebt haben, die leise, aber unerschütterliche Sprache der Menschlichkeit sprachen. Und ein Abend, an dem deutlich wurde: Frieden entsteht nicht durch Machthaber, sondern durch jene, die trotz allem weiter an ihn glauben.

Ein Preis mit Geschichte – und ein seltener Moment der Glaubwürdigkeit

Der Seán MacBride Preis ist benannt nach einem Mann, der selbst lernte, was Gewalt aus Menschen macht. Als 15-Jähriger trat MacBride der IRA bei, als Erwachsener wurde er zu einer der moralischen Instanzen für Abrüstung, Menschenrechte und internationale Gerechtigkeit. Sein entscheidender Satz – „We the peoples, not we the governments“ (Wir, die Menschen, nicht wir, die Regierungen) – hing an diesem Abend unsichtbar über den Köpfen der Anwesenden.

Zwischen Kriegstreibern und Friedenspreisen – endlich wieder ein würdiger Preisträger

In den vergangenen Monaten schien es fast zu einer eigenen politischen Kunstform geworden zu sein, Friedenspreise an Menschen oder Institutionen zu verleihen, die mit Frieden so wenig zu tun haben wie ein Streichholz mit Brandschutz.

  • Ein Friedensnobelpreis an die venezolanische Politikerin Maria Corina Machado, die sich für tödliche Sanktionen gegen ihr Land und eine Invasion stark macht.
  • Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Karl Schlögel, dessen Sprache eher konfrontiert als versöhnt und die Eskalation des Krieges in der Ukraine befürwortet.
  • Der Westfälische Friedenspreis an die NATO – eine Allianz, die für Aufrüstung und Krieg steht.

Umso befreiender, ja fast erleichternd, war dieser Abend in Berlin: Endlich ein Friedenspreis, der den Namen verdient. Einer, der nicht geopolitische Loyalitäten belohnt, sondern Mut, Verletzlichkeit und die Sehnsucht nach einer Zukunft ohne Tote.

Die Preisträger 2025: Eltern, die das Undenkbare tun – und Zivilgesellschaft, die Brücken baut

Das International Peace Bureau zeichnet in diesem Jahr zwei Organisationen mit dem Seán-MacBride-Friedenspreis aus: den Parent Circle – Families Forum (PCFF) und die Alliance for Middle East Peace (ALLMEP). Der Parent Circle ist ein einzigartiger Zusammenschluss von mehr als 700 israelischen und palästinensischen Familien, die ihre Liebsten im Konflikt verloren haben und dennoch entschieden haben, dass ihr Schmerz nicht in neuen Schmerz für andere verwandelt werden darf. Die beiden Co-CEOs Ayelet Harel und Nadine Quomsieh nahmen den Preis stellvertretend für die Mitglieder entgegen.

ALLMEP wiederum ist ein Netzwerk von über 180 Organisationen aus der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft, die auf vielfältige Weise lokale Friedensarbeit leisten – durch Bildungsprojekte, Jugenddialoge, politische Advocacy-Arbeit oder Unterstützung bei der Traumabewältigung. Die Allianz setzt sich zudem für die Schaffung eines internationalen Fonds für israelisch-palästinensischen Frieden ein, inspiriert von einem Modell, das in Nordirland maßgeblich zum Erfolg des Good-Friday-Abkommens beigetragen hat. Beide Organisationen verbindet die grundlegende Überzeugung, dass Frieden von unten wächst.

Die Reden – Stimmen, die Schmerz und Hoffnung zugleich tragen

IPB-Geschäftsführer Sean Conner: „Wir müssen die Menschen hören, nicht die Regierungen“

IPB Executive Director Sean Conner eröffnete die Preisvergabe mit der eindringlichen Erinnerung daran, weshalb Seán MacBride – Gründer des IPB und Mitgründer von Amnesty International – selbst ein so ungewöhnlicher Friedenspreisträger war: weil er wusste, wie Gewalt riecht. Conner betonte, dass MacBride ein Lebenswerk hinterlassen habe, das uns bis heute lehrt, dass dieser Preis jenen gehört, „die den wahren menschlichen Preis des Krieges kennen“.

Aus dieser Haltung heraus richtete Conner den Fokus konsequent auf die Menschen, nicht auf politische Akteure: „Wir müssen die Menschen hören, nicht die Regierungen.“ Er machte deutlich, dass PCFF und ALLMEP genau die Arbeit leisten, die Regierungen meist erst dann würdigen, wenn es längst zu spät ist. Sein zentrales Bild war eine Umkehrung der Machtlogiken: „Es sind nicht Staaten, die Frieden schließen. Es sind Menschen, die Frieden möglich machen.“

Conner warnte zugleich: „Die Zukunft bleibt gefährdet, wenn die Zivilgesellschaft nicht einbezogen wird.“ Doch er fand ebenso Worte der Ermutigung: „Die Hoffnung, die wir heute hören, zeigt, dass eine Zukunft möglich ist – eine Zukunft auf der Basis von Sicherheit, Würde und Freiheit für alle.“

Zum Abschluss wandte er sich direkt an die Ausgezeichneten und stellte ihren Mut in den Mittelpunkt: „Ihr habt die Courage, gesehen zu werden. Wir sind heute hier, um euch zu sehen und euch zuzuhören.“ In diesem Moment klang der Satz „Euer Mut wird gesehen“ wie eine Botschaft aus einer besseren Zukunft – eine Zukunft, die jenen gehört, die die Wunde kennen.

Ayelet Harel: Wenn Schmerz zu einer Brücke wird

Als Ayelet Harel, israelische Co-Direktorin von PCFF, ans Mikrofon trat, wirkte der Raum plötzlich fragiler. Sie sprach ruhig, aber mit der Art von Emotion, die sich nicht verstecken lässt. Sie erzählte von ihrem Bruder, der im ersten Libanonkrieg starb, und davon, dass der Verlust eines Menschen fürs Leben bleibt – aber sich verwandeln kann in ein Engagement für Frieden und Versöhnung: Es war kein rhetorischer Satz, sondern ein Bekenntnis.

Sie sprach davon, wie ihr Herz angesichts des 7. Oktober schmerzt – und gleichzeitig angesichts der „unvorstellbaren Zerstörung“ in Gaza. Dann folgte der Satz, der sich durch den ganzen Abend ziehen sollte wie ein gemeinsamer Nenner aller Reden:

„Nein, es ist keine symmetrische Realität. Aber es ist eine gemeinsame Menschlichkeit.“

Und gerade weil diese Realität nicht symmetrisch sei, müsse man die moralische Verantwortung doppelt ernst nehmen. Ihr Appell an Deutschland war klar und eindringlich:

„Bitte wählt nicht zwischen den Seiten. Nutzt eure Geschichte und eure moralische Stimme, um Gleichwürdigkeit und Frieden zu fördern.“

Es war einer dieser Momente, in denen eine spürbare Stille entstand – eine Stille, in der alle Anwesenden empfanden, was auf dem Spiel steht.

Nadine Quomsieh: „Es gibt keinen Wettbewerb des Schmerzes“

Nadine Quomsieh, die palästinensische Co-Direktorin des Parent Circle, setzte dort an, wo Ayelet aufgehört hatte – und führte die Zuhörer tiefer hinein in die brutale Gegenwart.

Sie beschrieb Gaza mit Worten, die keinen Raum für Beschönigung ließen: zerstörte Viertel, Kinder, die Worte wie „Drohnenangriff, Trümmer, Waisenkind“ lernen, bevor sie lesen lernen. Frauen, die in Zelten gebären. Menschen, die Nacht für Nacht nicht wissen, ob sie noch einen Sonnenaufgang erleben werden. Doch gleichzeitig sprach sie von israelischen Familien, deren Leben nach dem 7. Oktober nie wieder dasselbe sein wird.

Und dann kam der Satz, der den gesamten Abend auf den Punkt brachte – ein Satz, der sich wie eine moralische Leitlinie gegen die globale Verrohung stellte:

„Es gibt keinen Wettbewerb des Schmerzes. Es gibt nur Verlust.“

Sie sprach von dem Unvorstellbaren: dass PCFF seit Oktober 125 neue trauernde Familien aufgenommen hat – Israelis und Palästinenser gleichermaßen.

Ihre Stimme brach nicht – sie vibrierte.

„Sich nach einem Verlust zu begegnen, nach einem Trauma miteinander zu sprechen, den Hass abzulehnen – selbst dann, wenn von uns erwartet wurde, dass wir hassen. Menschen, die ihre Angehörigen begraben haben. Und dennoch weigern sie sich, ihre eigene Trauer als Waffe zu benutzen oder mit ihr die Trauer einer anderen Familie zu rechtfertigen. Das hat nichts mit Koexistenz zu tun. Es geht um Mitmenschlichkeit.“

Es war einer der klarsten Sätze des Abends, eine Art stilles Manifest.

Die Zivilgesellschaft als Fundament – nicht als Fußnote

Miro Marcus von ALLMEP stellte dann den Blickwinkel um: weg vom individuellen Schmerz, hin zu struktureller Hoffnung. Er berichtete, dass trotz Krieg, Trauma und internationaler Resignation über 60 % der Mitgliedsorganisationen ihre Arbeit fortgeführt haben – viele sogar mehr denn je.

Er erzählte von 400 Israelis und Palästinenser:innen, die sich in Paris trafen, während ihre Familien unter Raketenbeschuss standen, und die dort politische Vorschläge formulierten, die später tatsächlich in die New York Declaration eingeflossen sind.

„Frieden wird nicht nur verhandelt. Frieden wird aufgebaut. Und dafür braucht es die Menschen, die hier heute sitzen.“

Die Idee eines internationalen Friedensfonds, die er vorstellte, wirkte plötzlich nicht mehr fern, sondern wie ein Modell, das längst hätte existieren müssen.

„Liebe statt Hass“ – Dolevs Aufruf zur radikalen Menschlichkeit

Sharon Dolev, IPB Board Member und METO Executive Director, zeigte sich tief bewegt und würdigte den außergewöhnlichen Mut der Preisträger:innen. Sie erinnerte daran, dass Kriege meist nur zwei Enden kennen – „die Vernichtung einer Seite oder ein Abkommen“ – und dass es kaum vorstellbar sei, unter den aktuellen Umständen so konsequent für Frieden einzustehen.

Mit Blick auf PCFF und ALLMEP sagte sie:

„Es ist fast unmenschlich, was ihr tut – nach Verlust Liebe statt Hass zu wählen.“

Sie betonte, wie schwierig Friedensarbeit ist, wenn Menschen unter realer Bedrohung leben:

„Es ist extrem schwer, wenn Bomben fallen und Angst schreit.“

Dolev kritisierte die Erwartung eines perfekten Friedens und nannte die Ablehnung realistischer Lösungen oft eine Form von Vorurteil.

Staaten seien in ihrer Entscheidungsfähigkeit blockiert, während die Zivilgesellschaft die eigentliche Kraft zur Veränderung sei:

„Wenn Staaten und Staatsmänner im Raum sitzen, wirkt es fast, als wären sie in Anzügen aus Beton gefangen. Ihnen fehlt die Macht, die Fähigkeit und der Mut, kreativ zu sein, sich zu bewegen, ein echtes Gespräch zu führen. Diese Aufgabe liegt bei uns – der Zivilgesellschaft.“

Zum Abschluss dankte sie für die Preisvergabe und formulierte ihren Wunsch:

„Ich hoffe, eure Arbeit gibt uns das, was wir alle verdienen: Frieden im Nahen Osten.“

Ein Abend, der Schmerz nicht verharmlost – aber Hoffnung möglich macht

Was diesen Abend besonders machte, war, dass niemand versuchte, Leid gegeneinander aufzurechnen. Niemand sprach von „gleichen Opfern“, niemand relativierte. Im Gegenteil: Die Anerkennung der Differenz war Voraussetzung für die Anerkennung des Gemeinsamen.

Die Atmosphäre war dabei nicht feierlich, sondern ernst. Nicht düster, sondern klar. Nicht sentimental, sondern menschlich. Es war die Art Abend, nach dem man die Welt nicht sofort verändert – aber den eigenen Blick darauf. Eine Zukunft, die nicht unvermeidlich ist – weder in die eine noch in die andere Richtung.

Zum Abschluss blieb ein Gefühl, das selten geworden ist in politischen Räumen: die Ahnung, dass Menschen etwas verändern können, wenn sie genug Mut haben, anders zu fühlen als der Rest der Gesellschaft. Der Seán MacBride Preis 2025 ging an jene, die ihn zu teuer bezahlt haben: mit ihren Familien, ihren Kindern, ihren Geschwistern.

Sie hätten allen Grund, in Hass zu verharren. Sie tun das Gegenteil. Vielleicht ist das der größte Friedensakt, den die Gegenwart kennt.

Und vielleicht war dieser Abend in Berlin nicht nur eine Preisverleihung, sondern ein stiller Beweis dafür, dass Frieden – wie Nadine Quomsieh sagte – nicht Kapitulation ist, sondern Mut. Nicht Schwäche, sondern Entschlossenheit. Nicht Utopie, sondern eine tägliche Entscheidung. Eine Entscheidung, die an diesem Abend sichtbar wurde. Und hoffentlich ansteckend ist.