Die dritte Sommeruniversität des Universalistischen Humanismus fand vom 12. bis 14. September im Studien- und Reflektionspark von Toledo statt. Sie begann mit einem Vortrag über restaurative Gerechtigkeit als Weg zu einer Kultur, in der Ressentiments und Rache überwunden und Versöhnung sowie der Abbau von Gewalt ermöglicht werden können. Dieser Vortrag wurde von der italienischen Humanistin und Juristin Loredana Cici gehalten.
Das anwesende Publikum beteiligte sich anschließend mit zahlreichen Beiträgen, was zu einer reichhaltigen Debatte führte, die dazu beitrug, ein nach wie vor weitgehend unbekanntes Thema zu vertiefen.
Im Folgenden veröffentlichen wir den vollständigen Vortrag von Loredana Cici.
Vorab möchten wir klarstellen, dass sich das Wort „Gerechtigkeit”, über das wir sprechen werden, nicht auf ein philosophisches Konzept von Gerechtigkeit, auf Gerechtigkeit als moralisches Prinzip oder auf Gerechtigkeit im großen Stil bezieht. Wir sprechen hier von Gerechtigkeit im Kontext aktueller Strafrechtssysteme und prüfen, ob die sogenannte restaurative Gerechtigkeit ein interessanter Schritt im Sinne einer Transformation des Strafrechts ist. Dieses basiert kurz gesagt auf der Strafe als Vergeltung für den dem Opfer zugefügten Schaden, also auf Rache, die durch den Staat entsprechend dem Ausmaß des Schadens vollzogen wird.
Warum sprechen wir hier von restaurativer Gerechtigkeit? Die unausgesprochene Prämisse ist, dass die erste Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen ich leben möchte, in der heutigen Zeit lautet: Ich möchte in einer Welt ohne Kriege leben, in einer Welt ohne Gewalt, in der Rache nicht mehr der Maßstab für die Reaktion auf von anderen ausgeübte Gewalt ist, sei es auf sozialer oder persönlicher Ebene.
Um zu prüfen, ob die restaurative Justiz als neuer Ansatz der Strafjustiz dazu beitragen kann, Rache zu überwinden, werden wir zunächst versuchen, den Begriff der restaurativen Justiz zu definieren und ihre vergleichsweise junge Verbreitung kurz zu beschreiben. Dabei werden wir besonders auf das spanische Strafrechtssystem eingehen. Anschließend werden wir klären, inwiefern die restaurative Justiz dazu beitragen kann, Rache zu überwinden.
Dies wird uns zu einer tieferen Reflexion über Rache führen – nicht nur in Bezug auf das Strafrecht, sondern auch mit Blick auf die Grundlagen unserer Kultur bis hin zur individuellen Erfahrung.
Anhand einiger Beispiele werden wir die tiefen Wurzeln der Rache, insbesondere in der westlichen Kultur, aufzeigen und schließlich nach einer positiven Perspektive für die Überwindung der Rache suchen.
Die restaurative Justiz, auch bekannt als Wiedergutmachung, Reparative Justice, Compassionate Justice oder Strafrechtsmediation, ist ein Ansatz der Justiz, bei dem es darum geht, den durch eine Straftat verursachten Schaden zu beheben, statt den Täter zu bestrafen.
In diesem Modell arbeiten Opfer, Täter und die Gemeinschaft (bestehend aus Familienangehörigen, Nachbarn usw.) zusammen, um die Folgen der Straftat zu bewältigen und den Schaden zu beheben. Dies kann Treffen zwischen Opfern und Tätern beinhalten, bei denen Emotionen zum Ausdruck gebracht, die Folgen diskutiert und Wege zur Wiedergutmachung des Schadens gefunden werden. Mögliche Maßnahmen sind beispielsweise Entschuldigungen, Entschädigungen oder andere Formen der Wiedergutmachung. Das Ziel besteht darin, die Heilung aller Beteiligten zu fördern und ein besseres Verständnis sowie Versöhnung zu begünstigen.
Der Begriff „Strafmediation” bezieht sich auf die Tätigkeit eines neutralen Dritten, der einen Konflikt zwischen zwei Parteien durch Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer oder durch Versöhnung zwischen Opfer und Täter beizulegen versucht.
Diese Methode verbreitete sich in den 1970er Jahren in Nordamerika, Australien und Neuseeland und erst in den 1980er Jahren in Europa, insbesondere in Frankreich und Großbritannien.
In einer ersten Phase wurde die restaurative Justiz durch Praktiken, Experimente und Initiativen auf lokaler Ebene umgesetzt – ohne normative Maßnahmen und spezifische Strukturen. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre entstanden in Europa erste Gesetzestexte, die die Erfahrungen mit der restaurativen Justiz anerkannten, beispielsweise in Deutschland, Norwegen und Spanien.
In den 2000er Jahren machte die Institutionalisierung in ganz Europa einen entscheidenden Schritt, vor allem dank eines Rahmenbeschlusses des Europäischen Rates aus dem Jahr 2001, der 2012 durch eine europäische Richtlinie ersetzt wurde. Dies führte zu einem allgemeinen Versuch, die Gesetzgebung zumindest an die in den Maßnahmen der Europäischen Union enthaltenen Normen anzupassen.
In Spanien wurde die restaurative Justiz zunächst in Strafverfahren gegen Minderjährige eingeführt. Bereits mit dem Organgesetz 4/1992 wurde die Möglichkeit eingeführt, dass die Staatsanwaltschaft die Nichtverfolgung von Straftaten beantragen kann, wenn der Schaden wiedergutgemacht wird oder der Minderjährige sich dazu verpflichtet.
Mit dem Organgesetz 5/2000, welches die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Minderjährigen regelt, wurde die Möglichkeit der Mediation eingeführt. Diese ist jedoch auf weniger schwere Straftaten beschränkt. Die Staatsanwaltschaft kann sogar die Freisprechung des Angeklagten beantragen, wenn sich der Minderjährige beispielsweise mit dem Opfer versöhnt hat oder sich verpflichtet hat, den verursachten Schaden zu ersetzen (Art. 19, Organgesetz 5/2000).
Was das Verfahren gegen erwachsene Angeklagte betrifft, so finden sich die einzigen Hinweise zu diesem Thema im Gesetz 4 vom 27. April 2015 (dem sogenannten „Statut des Opfers einer Straftat”), mit dem die Richtlinie der Europäischen Union von 2012 umgesetzt wurde.
Gemäß Artikel 15 haben Opfer das Recht, an einem Programm der restaurativen Justiz teilzunehmen, um eine angemessene materielle und moralische Wiedergutmachung für die durch die Straftat entstandenen Schäden zu erhalten. Um das Programm zu starten, muss der Täter die wesentlichen Tatsachen, aus denen sich seine Verantwortung ergibt, anerkannt haben (Buchstabe a), und sowohl der Angeklagte als auch das Opfer müssen dem Programm zustimmen (Buchstaben b–c).
Im spanischen Rechtssystem ersetzt dieses Verfahren, ebenso wie im italienischen, nicht das Strafverfahren, sondern ergänzt es. Die Einbeziehung von Verfahren der opferorientierten Justiz in das Strafverfahren ist jedoch nicht geregelt. Die einzige diesbezügliche Bestimmung ist Artikel 5 Buchstabe k) des Gesetzes 4/2005, der das Recht des Opfers auf Information über die verfügbaren Dienste der opferorientierten Justiz anerkennt.
Dies ist nicht der Ort für eine technisch-rechtliche Analyse des Gesetzes. Wir möchten vielmehr seinen innovativen und potenziell „revolutionären” Aspekt hervorheben.
Die restaurative Justiz kann tatsächlich als kulturelle Revolution in Bezug auf unsere Auffassung von Gerechtigkeit und den Umgang mit den Folgen von Straftaten angesehen werden. Dieser Ansatz entfernt sich von der traditionellen, strafenden Sichtweise der Justiz und legt den Schwerpunkt auf Wiedergutmachung, Verantwortung und Versöhnung zwischen den beteiligten Parteien.
Die restaurative Gerechtigkeit fördert somit einen Paradigmenwechsel, indem sie den Fokus von der Bestrafung des Täters auf die Unterstützung der Opfer sowie die Suche nach Lösungen zur Wiedergutmachung des erlittenen Schadens verlagert. Dies beinhaltet die aktive Beteiligung von Opfern, Tätern und der Gemeinschaft und fördert einen Dialog, der zu einem besseren Verständnis und somit zu einer Verringerung der Rückfallquote führen kann.
Mit anderen Worten lässt sich sagen, dass die restaurative Gerechtigkeit das Konzept der Rache überwindet, das oft mit der Vergeltungsstrafe einhergeht. Während bei der Vergeltungsstrafe dem Täter als Form der Gerechtigkeit eine Strafe auferlegt wird, konzentriert sich die restaurative Justiz auf die Wiedergutmachung des Schadens und die Versöhnung zwischen den beteiligten Parteien.
Anstatt Rache oder Bestrafung für die begangene Straftat zu suchen, fördert die restaurative Justiz einen konstruktiven Dialog zwischen Opfer und Täter. Sie ermutigt den Täter, seine Taten anzuerkennen und Verantwortung für den verursachten Schaden zu übernehmen. Dieser Ansatz zielt darauf ab, die Bedürfnisse der Opfer zu befriedigen, die Verantwortung der Täter zu fördern und Heilung und Versöhnung zu begünstigen, statt einen Kreislauf von Rache und Vergeltung aufrechtzuerhalten.
In diesem Sinne ist die restaurative Justiz perfekt geeignet, um eine gewaltfreie Gesellschaft aufzubauen, in der Rache sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene überwunden wird.
In diesem Zusammenhang ist Nietzsches Schmährede aus ‚Also sprach Zarathustra‘ gegen diejenigen, die sich hinter dem Gesetz verstecken und den Einsatz von Gewalt rechtfertigen, weil er vom Staat legitimiert ist, von Bedeutung:
„Darum reiße ich an eurem Netz, damit eure Wut euch aus eurer Lügenhöhle locke und eure Rache hinter eurem Wort ‚Gerechtigkeit‘ hervorspringe.
Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Stürmen.“ (F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zweiter Teil, Von den Taranteln).
Das heißt, ohne die Menschen und die Gesetze von der Rache zu befreien, gibt es keine Möglichkeit, eine gewaltfreie Gesellschaft zu erreichen. Der Philosoph beschreibt diese Gesellschaft als „Regenbogen nach langen Stürmen” und hebt damit die untrennbare Verbindung zwischen Rache und Gewalt hervor.
Um auf dem Weg zu einer gewaltfreien Gesellschaft voranzukommen, ist es daher notwendig, über Rache als Konnotation unserer Kultur nachzudenken. Sie durchdringt nicht nur das Strafrechtssystem, sondern auch unser Empfinden, unsere Moral und unsere mechanischen Reaktionen.
Um ihre Wurzeln zu ergründen, muss man mindestens bis zum Codex Hammurabi zurückgehen. Dieses Gesetzbuch aus dem Jahr 1754 v. Chr. markiert den Übergang von der Rechtspflege durch Rache auf privater Ebene, bei der das Opfer oder seine Angehörigen versuchten, den erlittenen Schaden durch die Zufügung von Schaden am Schuldigen wiedergutzumachen, zur Rechtspflege durch die Vermittlung einer Institution. Dies war ein Fortschritt in der sozialen Organisation. Durch die Übernahme des Prinzips „Auge um Auge, Zahn um Zahn” wurde die Rache jedoch „institutionalisiert”.
Wenn jemand einem anderen Menschen ein Auge ausstach, wurde dem Täter die gleiche Strafe auferlegt. Dieses Prinzip, auch Talionsprinzip genannt, ist ein rechtliches und moralisches Konzept, das eine Form der Vergeltungsjustiz beinhaltet. Dabei muss die dem Täter auferlegte Strafe in einem angemessenen Verhältnis zum verursachten Schaden stehen.
Obwohl das Talionsprinzip in den heutigen Rechtssystemen nicht direkt übernommen wird, ist der Gedanke der Verhältnismäßigkeit der Strafe zumindest im Westen nach wie vor präsent. Strafen werden in der Regel so konzipiert, dass sie in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Straftat stehen. Der moderne Ansatz setzt dabei eher auf Rehabilitation als auf bloße Vergeltung.
Die Erhebung der Rache zum moralischen Prinzip durchdringt jedoch unsere gesamte Kultur. Man denke nur an die zahlreichen Filme und Literaturwerke, in denen Rache eine moralische Pflicht ist, der man aus Respekt vor sich selbst oder den beleidigten Familienangehörigen nicht entkommen kann.
Dies zeigt sich von Shakespeares „Hamlet”, der über seine Kleinlichkeit nachdenkt, weil er den Mord an seinem Vater trotz dessen Bitte um Rache ungesühnt lässt, bis zu Verdis „Rigoletto”, der „Rache, schreckliche Rache” gegen den Herzog fordert, der seine Tochter entehrt hat. Der Zuschauer steht immer auf der Seite desjenigen, der die Rache ausüben muss, und teilt sein Bedürfnis zutiefst.
In „Der Graf von Monte Christo” von Alexandre Dumas sucht Edmond Dantès, ein zu Unrecht inhaftierter Mann, Rache an denen, die ihn verraten haben. Sein Streben nach persönlicher Gerechtigkeit bildet den zentralen Punkt der Erzählung und macht ihn in gewisser Weise zu einem Helden.
In dem Film „The Revenant – Der Rückkehrer” aus dem Jahr 2015, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde und teilweise auf dem Roman „The Revenant: Die wahre Geschichte von Hugh Glass und seiner Rache” von Michael Punke basiert, wird der Protagonist, der Pelzjäger Hugh Glass, während einer Handelsreise entlang des Missouri River von seinen Begleitern sterbend zurückgelassen. Diese töten außerdem seinen Sohn.
Er überlebt und schwört Rache über der Leiche seines Sohnes. Er schleppt sich durch den Wald und versucht irgendwie zu überleben. Nach unzähligen Widrigkeiten wird Fitzgerald, der Verräter, von den Indianern skalpiert, ermordet und den Strömungen des Flusses überlassen. Nachdem er Gerechtigkeit erlangt hat, scheint Glass die außergewöhnlichen Kräfte, die durch Wut und Rachegelüste entstanden sind, verloren zu haben. Der Film endet damit, dass der erschöpfte und leidende Protagonist im Schnee liegt und wahrscheinlich auf sein Ende wartet, nachdem er seine Rache vollendet hat.
Wer von uns hat nicht eine innere Befriedigung empfunden, als er sich vergewisserte, dass der Schuldige die Strafe erhalten hat, die er verdient hat, auch wenn er Gewalt verurteilt und sich vor den blutigsten Szenen des Films ekelt?
Es ist nicht leicht, die tiefen Wurzeln unserer Kultur infrage zu stellen und anzuerkennen, dass das, was wir als moralische Pflicht betrachten, hinterfragt werden kann und muss, wenn wir eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft und unserer selbst anstreben.
Wie oft verbirgt sich hinter der Definition „Sieg der Gerechtigkeit” in Wirklichkeit der Wunsch nach Rache und Vergeltung, sei es auf persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene?
Ein für alle sichtbares makroskopisches Beispiel ist die Reaktion auf den blutigen Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 in Israel: Die wenigen Stimmen, die sich dagegen erhoben, kritisierten die Unverhältnismäßigkeit der Reaktion, nicht die Art der Reaktion, das heisst, sie teilten die Legitimität der Rache.
Ein symbolträchtiger Fall, der zeigt, wie tief Rache in unserer Kultur und unserem Empfinden verwurzelt ist, ist der kürzlich in Italien begangene Femizid an Giulia Cecchettin. Ihr Vater Gino reagierte mit Besonnenheit und drückte Mitgefühl für die Eltern des Freundes seiner Tochter aus, der sie getötet hatte. Er identifizierte das Patriarchat als die Kultur, die diesen und viele ähnliche Fälle von Gewalt gegen Frauen inspiriert hat. Er gründete eine Stiftung, um dagegen anzukämpfen.
Trotz dieser interessanten Antwort erklärte Gino, als der Täter zu lebenslanger Haft, also der Höchststrafe, verurteilt wurde, dass er das Urteil als Niederlage betrachtet, da der erschwerende Umstand der Grausamkeit und das Delikt der Belästigung ausgeschlossen wurden – vermutlich aus Angst vor einer Strafmilderung in der Berufungsphase. Mit anderen Worten verteidigte er die Notwendigkeit einer schweren Strafe, die der Schwere des Verbrechens angemessen ist.
Es gibt jedoch auch Beispiele aus unserem Alltag: Wenn wir eine Ungerechtigkeit erleiden, empfinden wir sofort Wut, Groll und Ärger gegenüber dem Verantwortlichen sowie den Wunsch nach Rache. Die erlittene Beleidigung zu erwidern, scheint ein Impuls zu sein, den unser Körper uns automatisch suggeriert. Dieser Impuls wird oft als „angeboren” und daher als unvermeidlich angesehen.
Es reicht schon eine kleine Beleidigung oder dass uns ein Autofahrer den Weg abschneidet, damit dieser Impuls unser Bewusstsein überflutet und uns suggeriert, „es ihm heimzuzahlen”.
Nun, dieser Impuls, der durch eine typische körperliche Reaktion gekennzeichnet ist, ist das Alarmsignal einer Bewusstseinsstruktur, in der Rache und somit Gewalt tief verankert sind. Wollen wir uns damit abfinden, diesen Impuls als etwas Angeborenes und daher Unveränderliches zu betrachten? Oder wollen wir uns gegen eine Moral auflehnen, die uns in individuellen und kollektiven Verhaltensmustern gefangen hält, welche Rache und Gewalt rechtfertigen?
In diesem Zusammenhang weist Silo (alias Mario Rodríguez Cobo) auf die Möglichkeit hin, das zu überwinden, was wie eine unausweichliche Bewusstseinsstruktur erscheint. In seinen „Notizen zur Psychologie” stellt er fest:
„Es ist möglich, höher entwickelte Bewusstseinsgestaltungen in Erwähung zu ziehen, in denen jegliche Art Gewalt Ekel erregen wird, und zwar mit den entsprechenden körperlichen Begleiterscheinungen. Diese Strukturierung eines gewaltfreien Bewusstseins könnte sich möglicherweise in den Gesellschaften als eine tiefgreifende kulturelle Eroberung herausbilden. Dies würde über die in den gegenwärtigen Gesellschaften nur ansatzweise zutage tretenden Ideen oder Gefühle hinausreichen, um so zu einem Teil des psychosomatischen und psychosozialen Geflechts des Menschen zu werden.“ (Silo, Notizen zur Psychologie, Psychologie IV, Bewusstseinsstrukturen)
Silo bezieht sich dabei auf eine kinästhetische Empfindung des Ekels, die im psychosozialen Hintergrund und in der psychosomatischen Struktur des Menschen jene Empfindung des Rachedrangs (und damit der Gewalt) ersetzen würde, die wir oben zu identifizieren versucht haben.
Es würde sich um eine tiefgreifende kulturelle Errungenschaft handeln, also um das Ende eines Weges, einer Reise. Es ist kein Zufall, dass einer der ersten Vorschläge des in Silos Botschaft enthaltenen Weges genau so lautet:
„Lerne, der Gewalt zu widerstehen, die in dir und außerhalb von dir ist.”
In diesem Zusammenhang könnte man, um auf die restaurative Gerechtigkeit zurückzukommen, die diese Überlegung angeregt hat, zweifellos jene Ideen einbeziehen, die in den heutigen Gesellschaften nur ansatzweise zum Ausdruck kommen und auf die Silo in dem oben zitierten Abschnitt aus den „Notizen zur Psychologie” Bezug nimmt.
Es handelt sich um eine im Strafrecht entstandene Idee, die die Notwendigkeit deutlich gemacht hat, ihren Anwendungsbereich auf andere Bereiche der Geisteswissenschaften und vor allem auf die Erziehungswissenschaften auszuweiten.
Es gibt immer mehr Experimente an Schulen, bei denen eine auf restaurativer Gerechtigkeit basierende Erziehung zum Einsatz kommt, um Konflikte bereits im frühesten Kindesalter zu verhindern und zu lösen. Das Ziel besteht darin, die Lehre „Wenn dich jemand schlägt, schlag zurück!” – das Gesetz der Vergeltung, angewandt auf Kinder – zu überwinden, die wir Kindern noch allzu oft vermitteln.
Restaurative Gerechtigkeit präsentiert sich letztlich als Instrument zum Aufbau einer gewaltfreien Gesellschaft, da sie die Möglichkeit einer im Wesentlichen gewaltfreien Reaktion auf eine Gewalttat in unsere persönliche und kollektive Koexistenz einführt.
Je mehr sich diese Reaktion, die auf Wiedergutmachung und Versöhnung zwischen den Beteiligten basiert statt auf angemessener Bestrafung, verbreitet und praktiziert wird, desto mehr wird sie in unseren psychosozialen Hintergrund integriert, aus dem wir unsere Verhaltensmuster ableiten. Dadurch trägt sie zu deren Veränderung bei.
Wenn die restaurative Justiz also als kulturelle Revolution in der Art und Weise angesehen wird, wie das Konzept der Gerechtigkeit und die Folgen von Straftaten behandelt werden, dann ist sie ein Schritt in Richtung dieser psychologischen Revolution auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene. Eine solche Revolution ist für die Entstehung einer Gesellschaft, die frei von Rache und somit von Gewalt ist, notwendig.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!









