Am 01. Juni gab Boric seine erste Regierungserklärung vor dem Nationalkongress ab, der aus der Abgeordnetenkammer und dem Senat besteht. Dabei setzte er den Prozess historischer Handlungen der letzten Zeit fort, indem er wirtschafts- und sicherheitspolitische Maßnahmen sowie Steuer- und Rentenreformen ankündigte.

Seine Rede basierte auf fünf Schwerpunkten: soziale Rechte, mehr Demokratie, Gerechtigkeit und Sicherheit, integratives Wachstum und Umweltschutz.

Seine gut formulierte Rede dauerte zwei Stunden und zwanzig Minuten und enthielt auch eine kurze Referenz auf den aktuell andauernden Prozess, eine neue Verfassung auszuarbeiten. „Wir wollen unsere Gegensätze durch mehr und nicht weniger Demokratie überwinden“, sagte er.

Bei der Beschreibung der Rentenreform versicherte er, dass Ersparnisse von Einzelpersonen außen vor bleiben würden. Ebenso sprach er von der Streichung der CAE- und Bildungsschulden, die nach der Steuerreform vorgenommen werden soll. [Anm. d. Ü.: CAE bedeutet Carga Anual Equivalente und ist ein Index zum Vergleich von Kreditangeboten in Chile.)

Angesichts des Konflikts mit militanten Gruppen der indigenen Mapuche im Süden des Landes wiederholte Gabriel Boric seine auf Dialog, Respekt und Rechtsstaatlichkeit beruhende Formel für die Wiederherstellung des Friedens.

Zum Thema Menschenrechte versprach er unter großem Beifall „die Suche nach den Verschwunde­nen [der Militärdiktatur zwischen 1973 und 1990, Anm. d. Ü.] unermüdlich fortzusetzen“. Auch rief er einen Runden Tisch mit der Senatorin Fabiola Campillai als Koordinatorin in Leben, der die Opfer der sozialen Unruhen entschädigen soll, die dem Prozess eine neue Verfassung auszuarbeiten, vorausgegangen waren. [Anm. d. Ü.: Fabiola Campillai ist eine parteiunabhängige Aktivistin, die 2019 durch den Einsatz einer Tränengasgranate vollständig erblindete.]

Hinsichtlich der Sicherheitsthematik verkündete der Präsident sein Projekt für ein „totales Verbot von Waffenbesitz“ voranzutreiben. „Ich spüre eine historische Verantwortung, den Prozess des Wandels friedlich voranzubringen“, schloss Boric.

An dieser Stelle geben wir einige der denkwürdigsten Stellen der Rede wortwörtlich wieder:

„Wir haben es mit einer historischen Gelegenheit zu tun. Und ich bin mir sicher, dass wir diese Aufgabe erfüllen werden. Lang lebe unser Volk, lang lebe Chile!” waren die Worte, mit denen er seine Rede beendete.

„Ich werde mein Bestes geben, um am Ende meiner Amtszeit sagen zu können, dass Chile ein gerechteres, würdigeres und glücklicheres Land ist”.

„Bei dieser, meiner ersten Rede vor dem gesamten Kongress verspüre ich ein starkes und unweigerliches Gefühl der historischen Verantwortung, den Prozess des Wandels in Frieden und Ruhe zu stärken. Es gibt zu viele Ungerechtigkeiten und Missstände, die wir hinter uns lassen müssen. Aber da ist auch viel Hoffnung, viel Potential und viele Möglichkeiten.“

„Unsere Außenpolitik wird türkis sein, mit einem ‚grünen‘ Schwerpunkt auf dem Schutz der Biodiversität und einem ‚blauen‘ Schwerpunkt auf dem Schutz der Ozeane.“

„Wasser muss ein öffentliches Gut sein und kein Geschäft, von dem einige wenige profitieren.“

„Eine der Säulen unseres Regierungsprogramms war die Gründung einer staatlichen Lithiumgesellschaft. Diese Verpflichtung beteuern wir erneut. Wir werden eine staatliche Lithiumgesellschaft gründen“ [Anm. d. Ü.: Chile besitzt eines der größten Lithiumvorkommen der Welt].

„Ich möchte einen Schwerpunkt auf den Entwicklungsplan für die Nationale Eisenbahn legen, der den historisch übergreifenden Wunsch unseres Land widerspiegelt, in Chile über ein umfassendes Eisenbahnnetz zu verfügen”. „Chile verdient es, seine Eisenbahntradition wieder aufleben zu lassen“. „Von dieser Hafenstadt aus [Anm. d. Ü.: Der chilenische Nationalkongress befindet sich in der Hafenstadt Valparaíso] verkünde ich, dass ich bereits den Verkehrsminister gebeten habe, keine weiteren Diagnosen mehr abzugeben, sondern ernsthaft daran zu arbeiten, die Zugverbindung zwischen Valparaíso und Santiago in die Tat umsetzen.“

„In unserem Land werden wir Waffengewalt nicht dulden. Und darum sieht unser Programm ‚Weniger Waffen, mehr Sicherheit‘ eine rigorose Beschränkung des rechtlichen Zugangs zu Waffen vor. Ich bitte den ehrenwerten Kongress um seine volle Unterstützung bei der Verabschiedung des Gesetzes, das uns erlauben wird, einem totalen Verbot des Waffenbesitzes näher zu kommen.“ „Ich weiß, dass manche nicht applaudieren, wenn ich davon spreche, aber wir haben gesehen, was in anderen Ländern geschieht. Lassen wir es dazu in Chile nicht kommen.“

„Während der sozialen Unruhen haben wir die schlimmste Krise der Menschenrechte seit dreißig Jahren erlebt. Verschiedene in- und ausländische Institutionen haben von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen berichtet, die ein schmerzhaftes Erbe hinterlassen haben, das wir als Chilenen auf uns nehmen und entschädigen müssen.“ „Für die Opfer aus dem Kontext der sozialen Unruhen haben wir einen umfassenden Plan für Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung vorgelegt, der neu ausgearbeitete Gesundheitsprogramme für die Opfer und erhöhte Geldzahlungen umfasst.“

„Wir arbeiten daran, Journalisten und Medienschaffende zu schützen, damit wir nie wie­der das beklagen müssen, was Francisca Sandoval widerfahren ist, deren Familie wir umarmen, weil sie diejenigen sind, die die Macht herausfordern, auch wenn es manch­mal schmerzt oder Unbehagen hervorruft“ [Anm. d. Ü.: Die TV-Reporterin wurde am 01. Mai 2022 bei Plünderungen am Rande einer Demonstration von einer Zivilperson erschossen].

„Dies wird eine Regierung sein, in der Korruption, Machtmissbrauch und Missstände keinen Platz haben werden.“

Zur neuen Verfassung, über die bald in einem Referendum abgestimmt wird, sagte der Präsident, dass das Ziel „ein Wandel [sei], um das zu bewahren, was uns am wertvollsten ist: gemeinsam auf dem gleichen Weg zu sein. Darum geht es im aktuellen Verfassungsprozess“. „In diesem Verfahren ist es zu Fehltritten gekommen, Fehler wurden gemacht und Lektionen gelernt. Aber dass wir sie nun beurteilen können, liegt daran, weil wir am kritischsten Punkt unserer jüngsten Geschichte be­schließen, unsere Gegensätze durch mehr und nicht weniger Demokratie zu überwinden.“ „Am 04. September werden wir eine weitreichende Entscheidung zu fällen haben: die neue Verfassung anzunehmen oder abzulehnen. Beide Optionen sind legitim und die Regierung ist dazu verpflichtet sicherzustellen, dass die Bürger ihre Meinung an der Wahlurne frei und informiert zum Ausdruck bringen können.“

Die Übersetzung wurde aus dem Englischen von Daniel Jerke vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!