Internationale Organisationen warnen vor Zuspitzung der globalen Hungerkrise durch den Ukraine-Krieg und die westlichen Sanktionen. Bereits jetzt nimmt der Hunger vor allem in Afrika zu.

Mehrere internationale Organisationen warnen mit Nachdruck vor einer weiteren Zuspitzung der globalen Hungerkrise durch den Ukraine-Krieg und die westlichen Sanktionen. Schon jetzt seien in Ostafrika rund 20 Millionen Menschen durch eklatanten Mangel an Nahrungsmitteln „lebensbedrohlich geschwächt“, berichtet die Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgiewa. Ursache ist, dass Getreidelieferungen aus der Ukraine und Russland ausbleiben – wegen kriegsbedingter Blockaden und sanktionsbedingt entfallender Transportmöglichkeiten. Wegen des Mangels geht die Weltbank von einem Anstieg der Nahrungsmittelpreise um 37 Prozent aus; dies werde zahlreiche ärmere Länder in eine Schuldenkrise treiben, urteilt Weltbankpräsident David Malpass. Beobachter warnen, Hunger und Armut drohten in politische Instabilität umzuschlagen und soziale Unruhen hervorzurufen. Während die Bundesregierung an einer „Getreidebrücke“ arbeitet, die ukrainisches Getreide über Nordsee- und Adriahäfen verschiffen soll, fordert Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, den Hunger mit einer Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine zu bekämpfen.

Die „Getreidebrücke“

Deutschland ist derzeit bestrebt, große Mengen an Getreide aus der Ukraine zu schaffen. Berichten zufolge arbeitet die Bundesregierung an der Einrichtung einer sogenannten „Getreidebrücke“, mit der 20 Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine in die EU befördert werden sollen. Ziel sei es, eine „Welthunger-Katastrophe abzuwenden“, erklärt der Schienenverkehrsbeauftragte im Bundesverkehrsministerium, Michael Theurer.[1] Insgesamt sollen 20.000 Züge eingesetzt werden, um die ukrainische Getreideernte aus dem Kriegsland zu exportieren. Hintergrund ist die kriegsbedingte Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen, die einen Export des ukrainischen Getreides unmöglich macht. Russland und die Ukraine zählen zu den weltweit wichtigsten Produzenten von Nahrungsmitteln; sie sorgten vor dem Krieg für 20 Prozent der Mais- und sogar 30 Prozent der Weizenexporte weltweit. Laut den Plänen der Bundesregierung und der Bahn-Tochterfirma DB Cargo soll das Getreide in Häfen an der Adria oder an der Nordsee transportiert werden, um es in Länder wie Äthiopien, den Libanon oder Indonesien zu verschiffen, die „auf Getreide aus der Ukraine angewiesen“ seien. Im Zusammenhang damit seien noch Fragen der „Wettbewerbsneutralität“ zu klären, heißt es. Berlin habe für die „Getreidebrücke“ bereits 430 Millionen Euro veranschlagt; involviert seien auch die Bahnkonzerne Polens, Tschechiens, der Slowakei und Rumäniens. Als Voraussetzung gilt, dass die russischen Streitkräfte das ukrainische Schienennetz auch weiterhin nicht substanziell zerstören. Geplant ist zugleich, „landwirtschaftliches Gerät“ inklusive Ersatzteile in die Ukraine zu exportieren.

Mit Waffen gegen Hunger

Anlässlich einer Tagung der Weltbank in Washington plädierte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) Mitte April darüber hinaus für ein weltweites „Bündnis für globale Ernährungssicherheit“, das „Millionen Menschen vor dem Hungertod … bewahren“ solle.[2] Vorbild solle die in Reaktion auf die Covid-19-Pandemie gegründete Covax-Initiative sein, die einen „gerechten Zugang zu Coronaimpfstoffen“ gewährleiste. Laut Schulze soll das „Bündnis für Ernährungssicherheit“ auf den Erfahrungen mit Covax aufbauen und diese auf den „Einsatz gegen die Ernährungskrise“ übertragen. Nach Ansicht von Kritikern ist die Covax-Initative allerdings weitgehend gescheitert [3] – unter anderem an der Weigerung Berlins [4], die Impfpatente freizugeben. Derweil fordern weitere Mitglieder der Bundesregierung, im Kampf gegen den Hunger der Ukraine mehr Waffen zu liefern. Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir dringt Berichten zufolge auf eine „Ausweitung der Waffenlieferungen in die Ukraine“, um dadurch „eine globale Hungerkatastrophe abzuwenden“.[5] Laut Özdemir zerstören die russischen Streitkräfte „gezielt auch landwirtschaftliche Infrastruktur und Lieferketten“; Moskau wolle weltweit Konflikte schüren, indem er den „Hunger verstärke“. Von der russischen „Strategie des Aushungerns“ seien vor allem die Länder Afrikas betroffen. Deutschland müsse die Ukraine deshalb „mit weiteren wirkungsvolleren Waffen“ beliefern.

Weltbank: „Menschliche Katastrophe“

Tatsächlich droht der Krieg in der Ukraine laut Einschätzung der Weltbank den globalen Hunger, der schon im Gefolge der Pandemie stark zugenommen hat, zu einer umfassenden „menschlichen Katastrophe“ auszuweiten.[6] Die Weltbank geht demnach von einem Anstieg der Nahrungsmittelpreise um 37 Prozent aus; das werde die Ernährungslage von „Hunderten von Millionen Menschen“ verschlechtern. Der breite und anhaltende Preisauftrieb betreffe Grundnahrungsmittel aller Art – „Öle, Getreide und andere Nutzpflanzen wie Mais“, warnt Weltbankpräsident David Malpass. Es gebe zwar noch große Vorräte und trotz des Krieges „genug Essen auf der Welt, um alle zu ernähren“; doch müssten die Nahrungsreserven auch „geteilt oder verkauft“ werden, um die Nahrung „dort zu bringen, wo sie benötigt wird“. Überdies warnt die Weltbank vor einer „Krise in der Krise“: Viele „Entwicklungsländer“ seien nicht in der Lage, ihre wachsenden Schuldenberge zu bedienen, und drohten unter diesen zusammenzubrechen. Demnach befinden sich „60 Prozent der ärmsten Länder“ in oder am Rande einer Schuldenkrise.

Ernährungsunsicherheit und Instabilität

Wie die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgiewa, warnt, kann der rasch zunehmende Hunger im globalen Süden überdies zu politischer Instabilität und sozialen Unruhen führen.[7] Die schlechte Nahrungsversorgung von Menschen in Entwicklungsländern gebe „Anlass zu großer Sorge“; die Staatenwelt müsse unverzüglich handeln, da ansonsten mehr Hunger, Armut und soziale Unruhen drohten – eine „schreckliche“ Alternative. Dies sei insbesondere in Ländern der Fall, die sich „seit Jahren bemüht haben, Instabilität und Konflikte hinter sich zu lassen“, erläuterte Georgiewa. Besonders gefährdet seien Äthiopien, Somalia und Kenia. Am Horn von Afrika seien inzwischen „rund 20 Millionen Menschen“ durch Mangelernährung und Hunger „lebensbedrohlich geschwächt“. Schon vor Ausbruch des Krieges hätten „283 Millionen Afrikaner“ nicht genug zu essen gehabt, warnte die Welternährungsorganisation (FAO); nun dürften es allerdings noch „sehr viel mehr“ werden, da „fast alle Länder Afrikas Weizen aus der europäischen Krisenregion“ bezogen.[8] Besonders krass sei die Abhängigkeit in Ostafrika, wo die Ernährungslage für 81 Millionen Menschen „unsicher“ sei.

Hunger in der arabischen Welt

Ähnlich verhält es sich in der arabischen Welt. In Ägypten und Tunesien bestehen ebenfalls enorme Probleme bei der Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln; der Staatspräsident Tunesiens, Kaïs Saïed, sprach jüngst von einer Gefährdung des sozialen Friedens in dem Land, in dem Ende 2010 die arabischen Revolten ihren Ursprung hatten. Tunesien deckt die Hälfte seines Weizenbedarfs durch Importe aus Russland und der Ukraine. Besonders dramatisch gestaltet sich die Lage im Libanon, wo eine Wirtschafts- und Finanzkrise ohnehin zu einem raschen Anstieg der Armut und Unterernährung geführt hat.[9] Das krisengeplagte Land, in dem inzwischen 80 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze vegetieren und sich kaum Grundnahrungsmittel leisten können, hat vor dem Krieg rund 80 Prozent seines Weizenbedarfs mit Einfuhren aus Russland und der Ukraine gedeckt. Im Jahr 2020 exportierte die Ukraine als fünftgrößter Weizenproduzent weltweit das Grundnahrungsmittel nach Ägypten (im Wert von 1,2 Milliarden US-Dollar), Indonesien (554 Millionen US-Dollar), Pakistan (496 Millionen US-Dollar), Bangladesch (295 Millionen US-Dollar) und in den Libanon (239 Millionen US-Dollar).

Der Krieg als Beschleuniger

Bei alledem ist der Krieg gewissermaßen nur ein Beschleuniger der Hungerkrise: Mangelernährung und Hunger waren bereits vor Kriegsbeginn weltweit auf dem Vormarsch. Im Jahr 2020 stieg die Anzahl der Menschen, die keinen „adäquaten Zugang zu Lebensmitteln“ haben, um 320 Millionen auf 2,37 Milliarden.[10]

Von Südamerika bis zur Ukraine

Da Russland und Belarus zu den wichtigsten Exporteuren von Düngemitteln zählen, leiden auch viele Agrarsektoren in anderen Ländern – etwa in Brasilien oder Peru –, in denen aufgrund der kriegs- und sanktionsbedingt explodierenden Preise für Düngemittel die Ernte gefährdet und soziale Unruhen drohen.[11] In Ecuador wiederum kollabiert aufgrund der Sanktionen der für das Land ungemein wichtige Bananenexport: Russland war für das südamerikanische Land ein wichtiges Exportziel; die Sanktionen verhindern nun die Lieferungen. Während die Südfrüchte tonnenweise Containern verrotteten, hätten bereits 6.000 Beschäftigte ihre Arbeit verloren, wird berichtet. Der Bananenanbau generierte in dem Andenstaat 50.000 Arbeitsplätze; indirekt schuf ersogar 250.000 Jobs.[12] Nicht zuletzt trifft der Hunger auch die Ukraine selbst, wo Millionen Menschen unter den direkten Folgen des Krieges oder dessen sozialem und wirtschaftlichem Fallout leiden.[13] Laut Schätzungen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen sind rund 20 Prozent der ukrainischen Bevölkerung von Mangelernährung betroffen; sie müssen weniger Nahrung zu sich nehmen oder auf einzelne Mahlzeiten ganz verzichten. Gegen Mundraub verzweifelter Menschen wiederum gehen die ultrarechten ukrainischen Milizen, die in Nationalgarde und Streitkräfte integriert wurden, rigoros vor: Menschen, denen Diebstahl vorgeworfen wird, werden zur Abschreckung teilweise entkleidet, mit Farbe beschmiert und öffentlich an Laternenpfähle gefesselt.[14]


[1] Ukraine-Krieg: Bundesregierung plant „Getreidebrücke“. handelsblatt.de 25.04.2022.
[2] Deutschland will Bündnis gegen Hunger schmieden. spiegel.de 20.04.2022.
[3] Vergebliches Warten auf Corona-Impfstoff. deutschlandfunknova.de 15.09.2021.
[4] Will Habeck Impfpatente noch freigeben? zdf.de, 03.02.2022.
[5] Özdemir fordert mehr Waffen für Ukraine. n-tv.de 17.04.2022.
[6] Ukraine war: World Bank warns of ‘human catastrophe’ food crisis. bbc.com 21.04.2022.
[7] Hunger und soziale Unruhen – was der Ukraine-Krieg für Afrika bedeutet. manager-magazin.de 22.04.2022.
[8] Krieg, Schulden, Mangel, Hunger. tagesschau.de 23.04.2022.
[9] Ukraine-Krieg verschärft Hunger im Libanon. dw.com 25.04.2022.
[10] Global wheat production: How will the Russia-Ukraine war impact food exports? en.as.com 25.04.2022.
[11] Rice for Millions Put at Risk as Fertilizer Prices Hammer Peru. bloomberg.com 06.04.2022.
[12] How has the Russia-Ukraine war devastated Ecuador’s banana industry? euronews.com 06.04.2022.
[13] „Im ganzen Land spielt sich eine nie dagewesene Katastrophe ab“. tagesspiegel.de 22.04.2022.
[14] Gerrard Kaonga: Ukraine Citizens Tie Alleged Looter to Pole With Pants Down as Punishment. newsweek.com 08.03.2022.

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