Die Demonstrationen in Kolumbien wurden durch den Vorschlag einer neuen Steuerreform ausgelöst, die Geld für die wirtschaftliche Erholung sammeln sollte, welche unter der Pandemie litt. Eine Reform, die unter anderem die Besteuerung der grundlegendsten Produkte des täglichen Bedarfs in Kolumbien vorsah. Besonders trifft die Reform die Mittelschicht und die armen Bevölkerungsschichten, denen die Pandemie ohnehin bereits stark zugesetzt hat.

Der Vorschlag für eine Steuerreform inmitten der „größten Krise, mit der die Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert war“, um es mit den Worten von Angela Merkel zu sagen, war der Tropfen, der der das Fass zum Überlaufen gebrachen hat. Tausende Kolumbianer:innen schlossen sich dem am 28. April aufgerufenen nationalen Protest an, um die Steuerreform abzulehnen.

Am 2. Mai kündigte Präsident Iván Duque den Rückzug der Steuerreform an und forderte dringend die Bearbeitung eines neuen Reformprojekts, so der Präsident. „Die Reform ist keine Laune, sondern eine Notwendigkeit.“ und der neue Finanzminister José Manuel Restrepo kündigte am 4. Mai an, dass die Regierung keine 14 Milliarden Pesos (4,5 Millionen US-Dollar) mehr in 24 ursprünglich budgetierte Lockheed Martin-Kampfflugzeuge investieren werde.

Auch wenn diese Ankündigungen einen Triumph der insbesondere jungen Menschen waren, welche sich für die Proteste mobilisiert haben, sind die soziale Unzufriedenheit und die Probleme des Landes viel tiefer und erfordern systematische Veränderungen, die das kolumbianische Volk nicht erst jetzt, sondern seit Jahren fordert.

Die schwerwiegenden Repressionen, der übermäßige Einsatz von Gewalt und die systematische Verletzung der Menschenrechte bei Protesten der Nationalen Polizei und der Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD) haben den Widerstand der Demonstrierenden gegenüber der derzeitigen Regierung und ihren Institutionen verstärkt.

Die NGO „Temblores“ meldete 39 Todesfälle, 1.055 Verhaftungen, 16 Fälle von sexueller Gewalt und mehr als 350 Vermisste seit Beginn der Proteste. Wichtig sind hier jedoch nicht die Zahlen, sondern das Leben und die Träume jedes dieser jungen Menschen, die uns heute von einem uneinsichtigen Staat weggenommen wurden.

Lucas Villa, Student der Sportpädagogischen Wissenschaften an der Technologischen Universität von Pereira, stach unter den Demonstranten des friedlichen Marsches am 5. Mai in Popayán aufgrund seiner großen Energie und Haltung während der Demonstration hervor. Er wusste nicht, dass diese Nacht jene sein würde, die ihm den Traum nehmen würde, Profi zu werden. Gegen 19:00 Uhr rückten unbekannte und bewaffnete Personen an und eröffneten wahllos das Feuer. Villa bekam acht Schüsse ab. Nachdem er fünf Tage um sein Leben gekämpft hatte, starb er im Krankenhaus San Jorge de Pereira.

Diana Fernanda Díaz prangerte an, Opfer sexueller Gewalt durch einen ESMAD-Angehörige geworden zu sein. „Ich habe immer geglaubt, dass die Öffentlichen Kräfte auf die Provokationen der Gemeinschaft gehandelt hatten, aber heute war ich das Opfer einer Tat, die es verdient, den Respekt vor ESMAD zu verlieren. Heute war ich das Opfer einer körperlichen und gewalttätigen Tat von ESMAD-Polizisten“, erklärte Diaz.

Wie dieses Aussagen zeigen, haben viele Kolumbianer:innen das Vertrauen in ihre Behörden und Institutionen verloren. Aus diesem Grund wird eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Regierung darin bestehen, dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Aus diesem Grund ist einer der Punkte, welche in der Nationalen Agenda diskutiert wird, die Reform der Polizei und der Spezialeinheit ESMAD als Voraussetzung für die Gewährleistung des Protestrechts.

Die große Unterdrückung und Verletzung der Menschenrechte, die das kolumbianische Volk erlebt, ist nur eine der Ursachen für die Mobilisierung der Bürger:innen. Kolumbien hat eine historische soziale Krise erlebt, die aufgrund der Pandemie noch deutlicher geworden ist. Es gibt keine Garantien für Menschenrechtsverteidiger:innen und soziale Anführer:innen, die seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens systematisch ermordet wurden. Die historische Verschuldung von Bildung, die aufgrund mangelnder staatlicher Investitionen des Staates Defizite aufweist, da dieser es im Laufe der Jahre offensichtlich vorgezogen haben, in Waffen und militärische Ausrüstung zu investieren; macht Bildung in diesem Land zu einem Privileg, welches junge Menschen letztendlich nicht erhalten. Deshalb protestieren wir, um eine sichere Zukunft zu haben.

Die wirtschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich ist größer, als sie sein dürfte. Insbesondere der Unterschied im Gehalt zwischen beispielsweise einem Kongressmitglied und einem:r derzeitigen Angestellten hat die Unzufriedenheit des kolumbianischen Volkes weiter erhöht. Die Regierung strebt auch eine Privatisierung des Gesundheitssystems an, was die soziale Ungleichheit im Land weiter erhöhen würde.

Die Probleme, mit denen Kolumbien konfrontiert ist, sind vielfältig und strukturell, und unsere Forderungen scheinen nicht gehört zu werden. Deshalb glaube ich, dass die Demonstrationen nicht so schnell aufhören werden.

Kolumbien erlebt einen historischen Moment und junge Menschen sind die Hauptakteure. Und sie sind nicht bereit aufzuhören, bis es eine systematische und echte Veränderung gibt.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von René Bauer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!