In einem offenen Brief an UN-Generalsekretär Antonio Guterres bringen zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Ablehnung der Initiative zum Ausdruck, ein globales digitales Governance-Gremium unter dem maßgeblichen Einfluss und der Finanzierung privater Konzerne zu schaffen.

Im Text des offenen Briefes weisen die Organisationen darauf hin, dass die vorgeschlagene Schaffung eines neuen Sektor-übergreifenden hochrangigen strategischen Gremiums mit wichtigen Befugnissen in Bezug auf die digitale Politik den Leitlinien des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) und seinem offiziellen Folgeprozess völlig zuwiderlaufen würde.

„Dieses neue Gremium“, so sagen sie, „würde die ohnehin schon übergroße Macht der Technologiekonzerne nochmals enorm ausweiten und es ihnen ermöglichen, sich einer effektiven Regulierung zu widersetzen, sowohl global als auch national.“

„In der Tat stehen wir vor der Aussicht auf „ein von Big Tech geführtes Gremium für die globale Governance von Big Tech“, fügen sie hinzu.

Die Initiatoren dieser Aktion weisen auf die gefährlichen Parallelen zu ähnlichen Initiativen direkter Einflussnahme von Konzerne in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Ernährung hin, die zur Vereinnahmung politischer Foren im multilateralen System der UNO führen.

„Es ist inakzeptabel, dass in einem solchen politischen Gremium Vertreter der Wirtschaft und der Regierung gleichberechtigt sind“, sagen sie.

Diese Strategie entspricht genau den Vorgaben des Weltwirtschaftsforums (Davos), das unter dem Deckmantel des Begriffs „digitale Zusammenarbeit“ den Weg zu einer realen Politikgestaltung ebnet, und zwar durch die Umwandlung des Multi-Stakeholder-Konsultationsgremiums (nach dem geltenden Multi-Stakeholder-Modell des Internet Governance Forums der UN mit beratender Funktion) in ein solches der „Multi-Stakeholder-Governance“, also der Kontrolle.

Weit davon entfernt, sich auf einen Streit im rein technologischen Bereich zu beschränken, warnen die unterzeichnenden Organisationen vor den Folgen der Einrichtung eines solchen Gremiums, das das Wesen des multilateralen demokratischen Systems gefährdet.

„Sollte dieser Vorschlag angenommen werden, würde er die Totenglocke für die demokratische und multilaterale Global Governance läuten und sie durch unternehmensgesteuerte Governance-Systeme ersetzen, die, wie vom Weltwirtschaftsforum angekündigt, mit der zunehmenden Digitalisierung aller Sektoren immer mehr Einzug halten werden.“

Basierend auf diesen Überlegungen fordert der offene Brief, der auch an die UN-Botschafter aller Mitgliedsländer verschickt wird, das Büro des UN-Generalsekretärs auf, den Vorschlag zur Schaffung eines hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremiums für „Digitale Zusammenarbeit“ sofort auf Eis zu legen, da es zum De-facto-Gremium für globale digitale Governance mutieren würde.

Sie fordern auch eine Neuformulierung der Agenda der Digitalen Zusammenarbeit, die sich „wenn überhaupt, auf programmatische und politische Dialogfunktionen beschränken sollte. Jeder Rahmen oder jedes Forum, das unter ihm geschaffen wird, sollte diese Funktionen nicht im Geringsten überschreiten.“

Sie bestehen weiterhin auf der Notwendigkeit, dies in allen relevanten Dokumenten und Mandaten vollständig klarzustellen und vage und verwirrende Formulierungen durch präzise Beschreibungen zu ersetzen, die jegliche wesentliche Rolle von Unternehmen bei der Formulierung von politischen Richtlinien vollständig ausschließen.

Gleichzeitig unterstreicht der Brief die Dringlichkeit erneuter Bemühungen, ein wirklich demokratisches System für die globale digitale Governance zu entwickeln und dabei die Interessen von Unternehmen in Schach zu halten.

Schließlich schlägt der Brief dem Büro des Generalsekretärs vor, „einen neuen formellen Konsultationsprozess zu diesem Thema in Übereinstimmung mit den WSIS-Richtlinien zu initiieren“, und verweist auf die Relevanz des Zeitpunkts, „angesichts des dramatischen Wandels in der öffentlichen und politischen Meinung über die Notwendigkeit einer strengen Regulierung von Großtechnologien und der Tatsache, dass Großtechnologien global sind und daher ein gewisses Maß an effektiver globaler Governance mit angemessenen globalen Regeln und Richtlinien erfordern.“

Der offene Brief wurde bereits auf Englisch, Spanisch, Holländisch und Französisch publiziert, die deutsche Version wird in Kürze folgen. Sobald sie online ist, werden wir diesen Artikel mit dem entsprechenden Link aktualisieren.

Nachfolgend hier die deutsche Fassung des offenen Briefes:

. . .

An

Den Generalsekretär,

Vereinte Nationen, New York.

Ihr „Fahrplan für digitale Zusammenarbeit“ („Roadmap for Digital Cooperation“) erkennt zu Recht an, dass „die Welt an einem kritischen Wendepunkt für die Governance von Technologie steht, was durch die aktuelle Pandemie noch dringlicher geworden ist“. Wir sind jedoch besorgt, dass der Vorschlag für ein neues „strategisches und ermächtigtes“ hochrangiges Multi-Stakeholder-Gremium („High Level Multi-Stakeholder Body“) mit wesentlichen Aufgaben im Zusammenhang mit der digitalen Politik den Ergebnissen des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) und seinem offiziellen Folgeprozess direkt zuwiderläuft. Es ist in jedem Fall inakzeptabel, dass in einem solchen politischen Spitzengremium Unternehmen und Regierungen gleichberechtigt vertreten sein sollen. Schlimmer noch, das vorgeschlagene Gremium wird weitgehend von privater (d.h. Unternehmens-) Finanzierung abhängen, und der Hauptvorschlag, der derzeit für dieses Gremium auf dem Tisch liegt, sieht vor, die Erlangung eines Sitzes in diesem Gremium mit der Bereitstellung finanzieller Unterstützung zu verknüpfen. Dies ist ein neuer Tiefpunkt für die UNO und eine unvorstellbar gefährliche Richtung für die Zukunft der Global Governance.

Der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) beauftragte einen Prozess der „Verstärkten Zusammenarbeit“ („Enhanced Cooperation“) zur Entwicklung „internationaler öffentlicher Politik in Bezug auf das Internet“ (oder globaler digitaler Politik) sowie einen Multi-Stakeholder-Dialograum, das sogenannte Internet Governance Forum. Während das Internet-Governance-Forum (IGF) der Vereinten Nationen unter Multi-Stakeholder-Ansatz seit 2006 in Funktion ist, ist das multilaterale Element der eigentlichen politischen Entwicklung, das Rahmenwerk der „Verstärkten Zusammenarbeit“ („Enhanced Cooperation“), noch nicht zum Tragen gekommen. Es bleibt jedoch fest auf der Agenda der WSIS-Folgemaßnahmen, wobei die UN-Generalversammlung im Dezember 2020 die „Notwendigkeit eines fortgesetzten Dialogs und der Arbeit an der Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit“ feststellte, wie vom WSIS vorgesehen.

Die Verzögerung bei der Einrichtung eines von Regierungen geleiteten UN-Gremiums / Mechanismus / Rahmenwerks für digitale Politik, wie vom WSIS gefordert, hinterlässt ein vorübergehendes Vakuum, in das sich dieses vorgeschlagene hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium einzufügen versucht. Dabei ist jedoch überhaupt nicht klar, wie der offizielle, formale Prozess für „Verstärkte Zusammenarbeit“ („Enhanced Cooperation“) durch einen informellen Prozess, geleitet vom Büros des Generalsekretärs, ersetzt (und unterlaufen) werden kann (wenn auch mit dem leicht veränderten Namen „Digital Cooperation“). (Siehe Anhang 1 zu diesem Dokument, wie dies ausdrücklich gegen Mandate des WSIS und der UN-Generalversammlung verstößt).

Während das IGF als Forum für den politischen Dialog gut funktioniert, scheinen die verschiedenen Funktionen, die für das vorgeschlagene hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium vorgesehen sind – auch wenn sie oft etwas umständlich formuliert werden -, darauf ausgelegt zu sein, es zum wichtigsten normsetzenden Gremium für die globale digitale Governance zu machen und ihm gleichzeitig eine private Finanzierungsbasis zu verschaffen. (Siehe Anhang 2 über die offensichtliche politische Rolle dieses vorgeschlagenen Gremiums und sein problematisches Finanzierungsmodell).

Nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in den USA und der EU werden Forderungen nach einer stärkeren Regulierung von Big Tech immer lauter. Genau zu dem Zeitpunkt, an dem wir globale Normen zur Regulierung von Big Tech schaffen sollten, ist es ein schieres Paradox, dass Pläne für ein „ermächtigtes“ globales digitales Governance-Gremium auftauchen, das eindeutig von Big Tech dominiert werden wird. Dieses neue Gremium würde seine ohnehin schon übermächtige Macht noch weiter ausbauen und Big Tech dabei helfen, sich einer effektiven Regulierung zu widersetzen, sowohl auf globaler als auch auf nationaler Ebene. Wir stehen in der Tat vor der unglaublichen Aussicht auf „ein von Big Tech geführtes Gremium für die globale Governance von Big Tech“.

Ein Readers‘ Guide von der University of Massachusetts-Boston beschreibt, wie die Global Redesign Initiative des Weltwirtschaftsforums (WEF) glaubte, dass „‚Multi-Stakeholder-Konsultationen‘ zu globalen Angelegenheiten sich zu ‚Multi-Stakeholder-Governance‘-Arrangements entwickeln sollten“. „Diese Transformation bedeutet, dass nichtstaatliche Akteure nicht mehr nur Input für Entscheidungsträger liefern würden … sondern tatsächlich für globale politische Entscheidungen verantwortlich wären.“ Der Bericht der Global Redesign Initiative fokussierte sich zunächst darauf, „Multi-Stakeholder-Strukturen für die Institutionen zu entwerfen, die sich mit globalen Problemen beschäftigen, die eine Online-Dimension haben“. Und führt weiter aus: „… da immer mehr Probleme eine Online-Dimension bekommen, würde das Multi-Stakeholder-Modell zum Standard in der internationalen Zusammenarbeit werden.“

Das Gefühl eines Déjà-vu bei dem, was sich jetzt vor unseren Augen abspielt, ist doch relativ unheimlich. Der erste Schritt der Umwandlung eines Gremiums für „Multi-Stakeholder-Konsultationen“ (IGF) in ein Gremium für „Multi-Stakeholder-Governance“ (das IGF plus das hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium) für die „Online-“ oder „digitale“ Dimension, ist offensichtlich bereits im Gange. Zu beachten ist auch, wie der Begriff „Zusammenarbeit“ im obigen WEF-„Plan“ eingesetzt wird, um tatsächlich Politikgestaltung zu meinen, ähnlich seiner Verwendung in der Initiative und Architektur der „Digitalen Zusammenarbeit“ („Digital Cooperation“) der Vereinten Nationen.

Wir fordern das Büro des UN-Generalsekretärs auf, den Vorschlag für ein hochrangiges Multi-Stakeholder-Gremium für „Digitale Zusammenarbeit“ sofort zurückzuziehen, da es de facto zum Gremium für „Globale Digitale Governance“ werden würde. Wenn dieser Vorschlag angenommen wird, läutet er die Totenglocke der demokratischen und multilateralen Global Governance ein und ersetzt sie durch unternehmensgeführte Governance-Systeme, die sich (wie vom WEF vorgesehen) mit zunehmender Digitalisierung aller Sektoren weiter ausbreiten werden.

In der Tat findet eine solche Vereinnahmung von Politik-Foren bereits in mehreren Dimensionen des multilateralen UN-Systems statt. Sie übt bereits einen direkten Einfluss auf das Leben der Menschen aus – wie wir jetzt deutlich bei der Pandemie im Fall der Governance von Gesundheit sehen, aber auch bei der Governance von Nahrung, Bildung und Umwelt. Jüngste Entwicklungen wie COVAX und der Food Systems Summit sind Beispiele für eine Bewegung in diese Richtung und folgen dem Modell, das in der jüngsten WEF-Studie „The Great Re-Set“ weiterentwickelt wurde. Die schnell wachsende Rolle von Big Data, KI und digitalen Plattformen in allen Sektoren passt gut zu der Entwicklung hin zu einer globalen Selbstregulierung von Big Tech und würde zu einer weiteren Verankerung dieses Ansatzes in allen Sektoren führen.

Wie vom WSIS angeordnet, fordern wir das Büro des UN-Generalsekretärs zudem auf, sich der Frage zu widmen, wie am besten ein demokratisches System für die globale digitale Governance entwickelt werden kann, das den Richtlinien des WSIS folgt.

Unsere detaillierten Anfragen an das Büro des Generalsekretärs:

1. Der Vorschlag für ein „ermächtigtes und strategisches“ hochrangiges Multi-Stakeholder-Gremium für Digitale Zusammenarbeit sollte auf Eis gelegt werden. Wir sehen weder eine Rolle noch eine Notwendigkeit dafür.

2. Es sollte klar unterschieden werden zwischen dem, was einerseits Digitale Zusammenarbeit zur Unterstützung von UN-Organisationen beim Einsatz digitaler Technologien in programmatischer Hinsicht bedeuten könnte und andererseits den Kernfunktionen der Digitalpolitik der Vereinten Nationen. In Bezug auf Ersteres wurden in der Roadmap für Digitale Zusammenarbeit einige Schritte vorgeschlagen. Wir haben verschiedene Bedenken in Bezug auf einige dieser Schritte. Worüber wir jedoch am meisten besorgt sind, ist die völlig inakzeptable Überdehnung der Agenda für Digitale Zusammenarbeit auf wesentliche politische Funktionen, auch wenn sie unter verschiedenen vagen Begriffen und Beschreibungen versteckt ist. Die Agenda der Digitalen Zusammenarbeit sollte überarbeitet werden und sich, wenn überhaupt, auf programmatische und politische Dialogfunktionen beschränken. Jeder Rahmen oder jedes Forum, das unter ihr eingerichtet wird, sollte diese Funktionen nicht im Geringsten überschreiten. Dies sollte in allen relevanten Dokumenten und Mandaten vollständig klargestellt werden. Alle vagen und verwirrenden Formulierungen in dieser Hinsicht sollten durch eine klare Beschreibung der Rollen und Funktionen ersetzt werden, wobei jegliche wesentliche politische Rolle vollständig ausgeschlossen werden sollte. Wir sind gerne bereit, unsere weiteren Vorschläge und Unterstützung in dieser Hinsicht anzubieten.

3. Es sollten erneuerte ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, um ein wirklich demokratisches System für die globale digitale Governance zu entwickeln, das die Interessen von Unternehmen in Schach hält. Das Büro des Generalsekretärs sollte einen neuen formalen Konsultationsprozess zu diesem Thema gemäß den WSIS-Richtlinien einleiten. Dies ist besonders wichtig angesichts der dramatisch veränderten öffentlichen und politischen Meinung über die Notwendigkeit einer strengen Regulierung von Big Tech und der Tatsache, dass Big Tech bereits global ist und daher ein gewisses Maß an effektiver globaler Governance, also an Kontrolle, mit entsprechenden globalen Normen und Richtlinien erfordert.

Erstunterzeichner:

1. Just Net Coalition

2. Transnational Institute (TNI)

3. Society for International Development (SID)

4. Tricontinental Center (CENTRI)

5. FIAN International

6. Focus on the Global South

7. ETC Group

8. Global Campaign for Education

9. Development Alternatives with Women for a New Era, Global (DAWN)

10. Internet Ciudadana

11. Association for Proper Internet Governance

12. Agencia Latinoamericana de Información (ALAI)

13. Nexus Research Cooperative

14. Social Watch

15. Observatory of Linguistic and Cultural Diversity on the Internet

16. IT for Change

Anhang 1

Ein kurzer institutioneller Abriss der Geschichte des WSIS und seiner Folgemaßnahmen im Bezug auf den Vorschlag für ein hochrangiges Multi-Stakeholder-Gremium für digitale Zusammenarbeit

Der Weltgipfel über die Informationsgesellschaft (WSIS), der in zwei Phasen 2013 und 2015 stattfand, ordnete zwei komplementäre, aber unterschiedliche politische Prozesse an: einen multilateralen Prozess der „Verstärkten Zusammenarbeit“ für die eigentliche Politikgestaltung und ein Multi-Stakeholder Internet Governance Forum (IGF) als politisches Dialogforum.

Das IGF der Vereinten Nationen wurde im Jahr 2006 gegründet und trifft sich jährlich. Im Jahr 2010 setzte die UN-Generalversammlung (GV) eine Arbeitsgruppe der Kommission für Wissenschaft und Technologie im Dienste der Entwicklung (CSTD) zur Verbesserung des IGF ein. Deren Bericht wurde von der UN-Generalversammlung angenommen und ist umgesetzt worden. Bezeichnenderweise wurden viele Gestaltungselemente des jetzt vorgeschlagenen hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremiums – die neue Arten von noch wesentlicheren politischen Rollen für das IGF oder mit dem IGF verbundene Gremien beinhalten – von dieser Arbeitsgruppe ausdrücklich abgewogen und abgelehnt. Es ist besorgniserregend und inakzeptabel, wie diese Elemente eines „ermächtigten IGF plus“, nachdem sie in einem formellen Prozess nach umfangreichen Konsultationen abgelehnt wurden, nun durch die Hintertür eines informellen Prozesses, der vom Büro des Generalsekretärs vorangetrieben wird, wieder auftauchen.

Der andere vom WSIS angeordnete „ergänzende“ Prozess der „Enhanced Cooperation“ („Verstärkte Zusammenarbeit“) für die tatsächliche Politikgestaltung blieb umstritten. Von 2014 bis 2018 prüften zwei aufeinanderfolgende CSTD-Arbeitsgruppen verschiedene Möglichkeiten zur Umsetzung dieser zentralen WSIS-Empfehlung, doch eine Einigung konnte nicht erzielt werden. Dieser Prozess der Erkundung einer geeigneten Architektur für die Verstärkte Zusammenarbeit in der globalen digitalen Politik ist jedoch nicht abgeschlossen. Das WSIS + 10 Treffen im Jahr 2015 rief dazu auf, „den Dialog und die Arbeit an der Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit fortzusetzen“. Dieser Aufruf wurde durch eine Resolution der UN-Generalversammlung im Jahr 2020 wiederholt.

Wie bei der Multi-Stakeholder Advisory Group (MAG) des IGF – die sehr wahrscheinlich eine Erweiterung davon darstellt – würden in dem neuen hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremium neben einigen Mitgliedern der technischen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft auch gleichberechtigt Vertreter von Unternehmen und Regierungen sitzen. Dies ist akzeptabel für das MAG, dessen Aufgabe im Wesentlichen darin besteht, das Programm für das jährliche IGF zu entwickeln. Andererseits hat das vorgeschlagene neue hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium eine klare und zentrale politische Rolle. Es gibt keinen offensichtlichen Grund, über die derzeitige IGF- und MAG-Struktur hinauszugehen, die sich als politisches Dialogsystem bewährt hat, wie es vom WSIS gefordert wird.

Der aktuelle Vorschlag scheint ein klarer Versuch zu sein, sich von der IGF-Seite zur „Enhanced Cooperation“-Seite des WSIS-Mandats zu schleichen, da es der „Enhanced Cooperation“-Prozess war, der die Rolle der Politikentwicklung übernehmen sollte. Die UN-Generalversammlung hat in ihren Post-WSIS-Resolutionen eindeutig festgelegt, dass das IGF und die „Enhanced Cooperation“ „unterschiedliche“, d.h. getrennte Prozesse sein sollen, um ein solches Übergreifen von der IGF-Seite des „Politikdialogs“ auf den wesentlichen Politikbereich zu verhindern. Es gibt daher keinen Spielraum für ein „Internet Governance Forum plus Modell“ oder eine „Erweiterung des Forums“ (beides Begriffe aus dem Roadmap-Dokument des Generalsekretärs), als eine Art Hybrid zwischen der Politikdialog-Funktion des IGF und der inhaltlichen Politikfunktion der vom WSIS in Auftrag gegebenen „Enhanced Cooperation“ (die multilateral sein soll, aber lediglich mit Multi-Stakeholder-Konsultationen). Das neue hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium versucht offensichtlich, ein solcher Hybrid zu werden. Dies ist eine klare Subversion der Architektur, die durch den WSIS und die nachfolgenden Richtlinien der UN-Generalversammlung festgelegt wurde.

Das hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium für Digitale Zusammenarbeit ist offensichtlich als „Enhanced Cooperation“ getarnt und versucht, dessen Rolle bei der Entwicklung digitaler Politik zu übernehmen. Nur dass es sich aus Sicht des WSIS-Mandats, das in seiner Tunis-Agenda die Richtungen des Was und Wie eines solchen Gremiums für Internet / Digitalpolitik vorgab, für eine solche Rolle überhaupt nicht qualifiziert.

Sobald ein solches hochrangiges Multi-Stakeholder-Gremium, das sich mit wesentlichen politischen Fragen befasst, gebildet ist, wird es langsam aber sicher versuchen, das Vakuum zu füllen, das durch die Nichtbildung eines demokratischen und multilateralen Gremiums für die Entwicklung einer globalen Internet- und Digitalpolitik entstanden ist. Es wird somit an der Spitze des globalen digitalen Governance- und Politiksystems stehen.

Anhang 2

Einige Zitate aus Dokumenten im Zusammenhang mit dem hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremium, die seine vorgeschlagene zentrale politische Rolle und das problematische private Finanzierungsmodell zeigen

Die offensichtliche zentrale politische Funktion des vorgeschlagenen hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremiums

Der Bericht des „High Level Panel on Digital Cooperation“, auf dem der „Fahrplan für Digitale Zusammenarbeit“ („Roadmap for Digital Cooperation“) des UN-Generalsekretärs basiert, beschreibt die politische Funktion des vorgeschlagenen hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremiums folgendermaßen:

…Politik und Normen für die öffentliche Diskussion und Verabschiedung zu entwickeln. Als Antwort auf Anfragen zu einer wahrgenommenen Regelungslücke würde es untersuchen, ob bestehende Normen und Vorschriften die Lücke füllen könnten, und, falls nicht, eine politische Gruppe aus interessierten Stakeholdern bilden, die Regierungen und anderen Entscheidungsgremien Vorschläge unterbreitet. Sie würde die Politik und die Normen durch das Feedback der Gremien, die sie annehmen und umsetzen, überwachen.

Aufbauend auf diesem Bericht fordert der Fahrplan des Generalsekretärs insbesondere Folgendes;

Die Schaffung eines strategischen und mit Befugnissen ausgestatteten hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremiums, das auf den Erfahrungen der bestehenden Multi-Stakeholder-Beratungsgruppe aufbaut und dringende Fragen angeht, Folgemaßnahmen zu den Diskussionen des IFG-Forums koordiniert und die vorgeschlagenen politischen Ansätze und Empfehlungen des Forums an das entsprechende normative und entscheidungsbefugte Forum weiterleitet.

Der Teil „strategisch und mit Befugnissen ausgestattet“ macht deutlich, dass die Rolle dieses Gremiums weit über die Politikberatungsfunktion des IGF der Vereinten Nationen hinausgehen würde. Es wird eine gewisse strategische, Politik-bezogene Macht haben. „Dringende Fragen angehen“ ist ein weiterer Teil, der auf eine Art Entscheidungsfunktion hinweist, die weit über die politische Beratung hinausgeht. Gleiches gilt für die „Koordinierung von Folgemaßnahmen zu IGF-Diskussionen“. Wie leitet das Gremium „politische Ansätze und Empfehlungen“ vom IGF weiter, wenn es im IGF keine Möglichkeiten oder Mittel zur Abgabe von Empfehlungen gibt? Offensichtlich soll das neu vorgeschlagene Gremium eine „ermächtigte“ Rolle bei der Auswahl, Gestaltung und Erarbeitung von politischen Ansätzen und Empfehlungen haben.

In Ermangelung eines anderen spezifischen Gremiums für die Gestaltung von Internet- oder digitalen Normen innerhalb des UN-Systems werden politische Ansätze und Empfehlungen, die aus diesem vorgeschlagenen hochrangigen Multi-Stakeholder-Gremium hervorgehen, als „die“ globalen Normen und als „Soft Law“ in der digitalen Arena präsentiert und interpretiert.

Das private Finanzierungsmodell für das vorgeschlagene hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium

Diesbezüglich heißt es im Bericht des „High Level Panel“:

Alle Interessengruppen – einschließlich Regierungen, internationale Organisationen, Unternehmen sowie der Technologie-Sektor – würden ermutigt, einen Beitrag zu leisten.

Der Fahrplan des Generalsekretärs baut darauf auf und schlägt vor;

die langfristige Nachhaltigkeit des Forums und die für eine stärkere Beteiligung erforderlichen Ressourcen durch eine innovative und tragfähige Fundraising-Strategie anzugehen, wie sie vom Runden Tisch gefördert wird.

Es scheint kein Dokument darüber vorhanden zu sein, was „vom Runden Tisch gefördert“ wird. Aber alles deutet darauf hin, dass der Fokus auf privater Finanzierung außerhalb der Vereinten Nationen liegt. Bei einer so verlockenden, hochkarätigen Rolle bei der Gestaltung digitaler Normen und der Politik würde ein großer Teil dieser Finanzierung sehr wahrscheinlich von Big Tech und anderen Unternehmensquellen kommen. Ein Vorschlag, wie das hochrangige Multi-Stakeholder-Gremium (High Level Multi-Stakeholder Body – HLMB) betrieben werden sollte, der von einer Arbeitsgruppe der Multi-Stakeholder Advisory Group (MAG) des IGF entwickelt wurde – wobei die MAG selbst ein starker Kandidat für eine zentrale Rolle in dem vorgeschlagenen neuen Gremium ist -, sagt Folgendes über seine Finanzierung:

„Wahrscheinlich werden einige hochrangige Leute, die im HLMB sitzen, einen größeren Anreiz haben, die Finanzierung des IGF-Sekretariats in Erwägung zu ziehen, ohne dies überhaupt zur Bedingung machen zu müssen.“

Es gibt hier mehr als einen Hinweis auf „wer zahlt, schafft an“ („pay to play“). Alle relevanten Dokumente sprechen im Allgemeinen klar über einen Schwerpunkt auf privater Finanzierung, mit Hinweisen darauf, dass Mitglieder dieses Gremiums, die finanziell gut ausgestattet sind und Ressourcen für ihre Funktionen zur Verfügung stellen können, eine gute Sache wären.

UPDATE – Der offenen Brief steht nun auch online auf deutsch und zum Download zur Verfügung:

https://justnetcoalition.org/big-tech-governing-big-tech-german.pdf