Bolivien bewies der ganzen Welt Mut. Der überwältigende Sieg der Partei MÁS-IPSP lässt keine Zweifel über den Willen der Bevölkerungsmehrheit Boliviens erkennen.

Die schwierigen Umstände zeigen den Mut derjenigen, die sich nicht einschüchtern lassen. Auf die politisch motivierte Verfolgung und Inhaftierung, die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung, sowie Einschüchterung und Aggressivität antworteten die BolivianerInnen mit Würde und Überzeugung. Ohne zurückzuweichen oder nachzugeben wollen sie die Demokratie wiederherstellen.

Erinnern wir uns zurück an die unzähligen Male, in denen die Präsidentschaftswahl aufgeschoben wurde. Diese fand letztendlich nur aufgrund der Mobilisierung der

Gemeinschaft und aufgrund der Hartnäckigkeit der AnführerInnen und ParlamentarierInnen statt, die verhinderten, dass diese Übergangsregierung weiterhin fortbesteht.

Wegen des desaströsen Umgangs mit der Pandemie seitens der Putschregierung, die sich binnen weniger Monate in Korruption verwickelte, gingen die meisten BolivianerInnen friedlich und zuversichtlich für ihre Zukunft am vergangenen Sonntag wählen.

Der große Vorsprung von mehr als 20% mit dem das Paar Luis Arce und David Choquehuanca gegenüber dem Zweitplatzierten Carlos Mesa, der für Neoliberalismus und ausländische Re-Kolonisierungsbestrebungen steht, hat einen doppelten Effekt.

Auf der einen Seite zerstreut sich jeder Zweifel über den Charakter des geschehenen Staatstreiches auf Basis eines nicht existierenden Betrugs. Ein Staatstreich der den verschwörerischen Stempel des US-Außenministerium durch seinen Kontrollarm für diesen Erdteil, die OAS und deren Generalsekretär, trägt.

Es handelt sich um einen Staatsstreich, in dessen Verantwortung auch Sektoren der Wirtschaftsmacht – insbesondere diejenigen, die mit der Oligarchie von Santa Cruz verbunden sind – und transnationale Konzerne mit Appetit auf verstaatlichte natürliche Ressourcen nahestehen.

Der Putsch wurde mit der notwendigen Beteiligung der privaten Medien, die sich im Besitz eben dieser Konglomerate oder transnationalen Konzerne befinden, der katholischen und der Pfingstkirche und auch vieler europäischer Nichtregierungsorganisationen durchgeführt, die durch die öffentliche Politik der revolutionären Regierung von Evo Morales in ihrer Wohlfahrtsrolle verdrängt wurden. Dies ist ein Schlag, bei dem die direkte Verantwortung auf die Oberkommandos der Streitkräfte und der Polizei fiel, ein Thema von strategischer Bedeutung, mit dem sich die neue Arce-Regierung zweifellos befassen muss.

Auf der anderen Seite, wäre ein Wahlbetrugsversuch sehr wahrscheinlich gewesen, da der institutionelle Apparat in den Händen einer Putschregierung ist. Der eindeutige Sieg zeigte jedoch, dass sie bei einer gewaltsamen Neuauflage eines Staatsstreiches jede Legitimität und Legalität verlieren würde.

Auch wenn die Übergansregierung sich noch sträubt ihre politische Macht abzugeben, und entsprechende Ideen in den Köpfen einiger ausländischer Agenten, Beamten oder Militärangehörige herumschwirren, haben die öffentliche Stellungnahmen den klaren Willen des Volkes praktisch einstimmig bestätigt und den Weg für mögliche verzweifelte „Abenteuer“ der Rechte verschlossen.

Die Gründe des Triumphes

Die Übergangsregierung hat alles getan, um sich selbst zu begraben. Die mit den Streitkräften, die die Fäden in der Hand hielten, eingegangene Verpflichtung bedeutete, dass der Veränderungsprozess in wenigen Monaten rückgängig gemacht wurde. Vor allem in wirtschaftlicher und geopolitischer Hinsicht. Und das war ihr Untergang.

Der eindeutige Rassismus, den Janine Añez offenbarte, traf einen Nerv. Den Nerv derer Gemeinschaften, die sich erst nach Hunderten von Jahren Respekt verschaffen konnte und ein wichtiges Maß an Selbstbestimmung sowie kulturelle und soziale Wertschätzung erlangte. Nun erhob sich der Aufschrei der Rebellion gegen die strukturell installierte Gewalt und Diskriminierung. So erreichten sie eine erneuerte Einheit, welche während der letzten Regierungszeit der „Demokratischen und Kulturellen Revolution“ unter Evo Morales Risse bekam.

Zur selben Zeit erschien die Figur des Luis Arce, Hauptverantwortlicher der Herbeiführung des Wirtschaftswachstums mit Evo Morales als politischen Anführer. Mit ihm zeigte sich die Möglichkeit Stabilität während der Pandemie und der unsicheren Zukunft hervorzurufen.

Auf der anderen Seite war die Formel der Substitution und Einheit ein großer Erfolg, die einzig mögliche Taktik angesichts der Ächtung und Verfolgung des historischen Anführers. Dieselbe Strategie wurde in Brasilien mit Fernando Haddad, in Argentinien erfolgreich mit Alberto Fernández versucht und ist die Perspektive, die den Wiederaufbau eines fortschrittlichen Blocks in Ecuador durch die Kandidatur von Andrés Aráuz mobilisiert.

In dem Fall von Bolivien, mit der Vizepräsidentschaft eines indigenen Anführers der historischen Größe von David Choquehuanca, wird mit Arce ein weiterer Versuch begonnen, die Ansichten des „Veränderungsprozesses“, die Perspektive des „Guten Lebens“ und die Entwicklung der Linken unter dem Ziel der Souveränität des Volkes im Hinblick auf den gefährlichen Gegner zu vereinen.

Die 53% betrachtend, die Luis Arce erreichte, repräsentieren sie die Dankbarkeit und Treue an die Bewegung des „Veränderungsprozesses“ unter Evo Morales. Dies zeigte Arce auch in einer Zeitspanne von fast 14 Jahren, in denen er einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführte. Aufgrund der Wiedergewinnung der natürlichen Ressourcen, konnte Evo Morales erhebliche soziale Verbesserungen im Hinblick auf das Armutsproblem erreichen. Dazu kam die Beendigung des Analphabetismus, der Zugang zu einem Gesundheitssystem, die Verbesserung der universitären Bildung und der Schutz von Kindern und Senioren, etc.

Gemeinsam mit Erfolgen im sozialen Bereich, erlangte die Regierung unter Evo Morales

innovative und revolutionäre Veränderungen in der Politik.

Den strukturellen Rahmen einer plutokratischen und rassistischen Gesellschaft schaffte sie zu sprengen und eine Welt zu schaffen, in der jeder sich entwickeln, wachsen kann und ein Teil des Multikulturalismus und Plurinationalismus bildet.

Dagegen steht das im Sterben liegende System, das nur eine privilegierte und vorherrschende Gruppe bevorzugt, die die Nachkommenden der Kolonialzeit darstellen.

Die Bewegung des Veränderungsprozesses in Bolivien betont erneut die Dringlichkeit der politischen Aufmerksamkeit für die Kulturen, die über Jahrtausende hinweg ignoriert wurden. Er fordert auch mehr aktive politische Partizipation, Frauenrechte und möchte die republikanische, ausschließende Institution zu einer aktiven Demokratie wandeln.

Mit ihrem Votum würdigten die BolivianerInnen die 2009 mit großer Mühe entstandene neue politische Verfassung, die eine neue Vision des Staates verkörpert. Diese schreibt ein multikultureller, plurinationaler, laizistischer, pazifistischer und humanistischer Staat fest, die wachsende Teilhabe und Rechte der Frauen förderte, eine ausschließende republikanische Institutionalität ersetzte und sie in eine partizipatorische Demokratie verwandelte.

Es war eine wichtige, gerechte und historisch bedeutende Wahl.

Die Bedeutung des Sieges für Lateinamerika und die Karibik

Wieder einmal gelang es der Einheit der besitzlosen Sektoren, den Geiz der Opulenten zu besiegen.

So, wie es schon zuvor bei den Vorwahlen in Argentinien geschah, übertrafen die Ergebnisse der Wahl eindeutig ihre Prognosen auf der Basis von Umfragen.

Trotz der Anweisungen aus dem Norden, die Añez zwangen, ihre Kandidatur aufzugeben und die Bedeutungslosigkeit Tuto Quiroga’s haben dazu geführt, dass die Rechte gespalten aufeinander traf. In Zeiten der Besorgnis und der Zersplitterung ist die Einheit des Volkslagers von wesentlicher Bedeutung, auch wenn es gewisse Widersprüche gibt.

Die emanzipatorischen Geister Lateinamerikas und der Karibik nahmen das Wahlergebnis hoffnungsvoll und schließlich mit Erleichterung und Freude auf. Sie stärkt den Länderblock mit Mexiko, Venezuela, Argentinien, Cuba, Nicaragua und einigen Nationen der Karibik, die Integration, Souveränität und Solidarität zwischen den Völkern auf ihrer Fahne tragen.

Zweifellos eröffnet die Präsidentschaft von Luis Arce die Möglichkeit, den Weg zur südamerikanischen Einheit durch eine möglicherweise reduzierte Version der UNASUR zu reaktivieren. Mit der Zeit und der Umkehrung des Verhältnisses der politischen Kräfte in Ecuador, Chile, Kolumbien oder Brasilien könnte sie vollendet werden, diesmal mit einer stärkeren Einbeziehung der lebendigen Kräfte der Zivilgesellschaft.

Der Auftrag: Besser werden

Zu Beginn seiner Regierungszeit sollte Arce die dringlichen Probleme angehen. Das sind hauptsächlich die Pandemie und die Arbeitslosigkeit. Dazu kommen die Desaster, die die Übergangsregierung verursachte, welche vorerst keinen Platz für andere Prioritäten lassen.

Der erste Schritt wäre, den Schutz und die Sicherheit der Bevölkerung wiederherzustellen und diese in der Gewissheit zu bekräftigen, dass es im Land wieder bergaufgehen wird.

Allerdings reicht es nicht nur die Wunden des Körpers zu kurieren, sondern es gilt die der Seele zu heilen. Nach einer Zeit des Hasses, der Rache und des Grolls muss die neue Regierung versuchen Brücken zwischen den verschiedenen sozialen Sektoren zu bauen. Einmal mit Worten der Versöhnung und zum anderen mit einer starken Politik, welche zumindest von der Mehrheit der Exekutive und beiden legislativen Kammern ermöglicht werden wird.

Doch was bedeutet es im Hinblick auf die Zukunft „sich zu verbessern“? Reicht es, mit dem Abbau des extraktiven Kapitalismus weiterzumachen? Oder mit dem Bürokratieabbau und der Dezentralisierung im Rahmen der Revolution?

Der erste Zyklus des „Veränderungsprozesses“ vor 14 Jahren antwortete mit Wachstum auf die Agenda im Oktober 2003. Nach der jahrhundertelangen Verschuldung der Bevölkerung, die die neoliberale Plünderung der Bevölkerung verlängerte und vertiefte.

Auch wenn die restliche Verschuldung noch weit davon entfernt ist, abbezahlt zu sein.

Wie wird die neue Agenda aussehen? Wie wird diese an die neue sensibilisierte Generation angepasst werden, dessen Weltbild sich im Licht der Revolution bildete?

Es ist offensichtlich, dass ein tiefgreifender Wandel der sozio-ökonomischen und mentalen Strukturen der einzige Weg aus dem altmodischen sozialen Modell sein wird. Trotz alledem, ist es möglich, dass die neuen Bewegungen in dem aktuellen, historischen Moment das Beachten neuer, anderer Themen brauchen und beanspruchen. Wie z.B. einen stärkeren Bildungs- und Kulturwandel, der die Auffassung trägt, dass in alle sozialen Konstrukte der Menschen im Mittelpunkt stehen muss und die menschliche Absicht das zentrale Merkmale jeglicher sozialer Entwicklung darstellt.

Der „Veränderungsprozess“ hat mehr Rechte für viele Gruppen und noch weitere Erfolge erreicht. Erfolge, wie die Überwindung aus dem sozialen Abseits und die Wertschätzung der verschiedenen Kulturen zu fördern.

Gibt es nun einen weiteren Schritt, um die verschiedenen Kulturen noch weiter anzunähern ohne, dass diese ihre eigenen Identitäten aufgeben?

Wird es möglich sein, die eigene Kultur aus einer dynamischen Perspektive zu betrachten, so dass jede Kultur sich wandelt, jedoch ihre wertvollsten Attribute beibehält?

Wenn man noch genauer hinsieht, wird deutlich, dass wir aktuell in einer sehr vernetzten Welt leben und dies durchaus möglich ist. In Bolivien, sowie überall auf der Erde.

Das gemeinsame Ziel dieser neuen Agenda ist es, aus einem humanistischen Blickwinkel betrachtet, jegliche Form der Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung, nicht nur auf sozialer, sondern auch auf der täglichen zwischenmenschlichen Ebene und in der individuellen Einstellung zu überwinden.

Kann dann der neue Mensch, eine von Revolutionären aller Zeiten so ersehnte Spezies, entstehen?

Dies wird nur möglich sein, wenn gleichzeitig mit dem sozialen Wandel auch der inneren Entwicklung Aufmerksamkeit geschenkt wird, indem das wirklich Wesentliche in jeder Kultur, ihre tiefgreifenden Erfahrungen, bewahrt wird, so dass eine neue Harmonie unter den Menschen sowie zwischen der Menschheit und ihrer Umwelt zum Ausdruck kommt.

Möglicherweise werden wir so besser.

Und es wäre nicht revolutionär, würden wir uns mit weniger zufrieden geben.

Übersetzung aus dem Spanischen von Valentina Goebels und lektoriert von Reto Thumiger, beide vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!