Du bist seit drei Jahren auf Samos. Wie hat sich die Lage seither entwickelt?

Traurigerweise wird es immer schlimmer. Seit März 2016, als der Deal mit der Türkei abgeschlossen wurde, kamen immer mehr Menschen über die Ägäis und blieben auf fünf griechischen Inseln stecken (Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros). Sie warteten darauf, die erforderlichen Dokumente für ihre Weiterreise auf das griechische Festland zu erhalten oder abgeschoben zu werden.

Im Laufe der Jahre wurde die Lage auf diesen Inseln immer angespannter: so sind aktuell auf Samos etwa 6000 Menschen in einem Camp, das für 650 Personen ausgelegt ist. Die Plätze in den Wohncontainern sind seit Jahren belegt, so dass die neu Ankommenden damit klarkommen müssen, entweder ein Zelt zu kaufen oder sich einen Holzverschlag im sogenannten „Dschungel“ zu bauen – dem Gebiet also, das im Umkreis des Camps unkontrolliert entstanden ist. In diesem Gebiet gibt es keine Duschen, sondern lediglich Chemietoiletten, die nicht etwa von den Behörden, sondern von Ärzte ohne Grenzen dort hingestellt worden sind.

Auf Samos gibt es nur eine Wohneinheit für unbegleitete Minderjährige, was bedeutet, dass etwa 250 von ihnen im Camp oder im „Dschungel“ ohne Unterstützung leben. Schwangere, alleinstehende Frauen und Kinder werden sich selbst überlassen. Es passiert häufig, dass Frauen im Camp entbinden. Diejenigen dann, die überhaupt in ein Krankenhaus gebracht werden, werden anschließend oft mit ihrem Neugeborenen in ein Zelt zurückgeschickt.

Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt können nicht geschützt werden. Selbst wenn den Täter angezeigt haben, gibt es keinen sicheren Ort, an den das Opfer gebracht werden kann. Sie werden deshalb weiter gezwungen, ohne jeglichen Schutz im Camp zu bleiben.

Wie gestaltet sich die aktuelle Lage für die Flüchtenden?

Aktuell, also Stand 8. Juni 2020 befinden sich etwa 6000 Menschen in dem Lager auf Samos, welches wie gesagt für maximal 648 Menschen ausgelegt ist.

Trotz der Tatsache, dass die Ausgangsbeschränkungen im Zusammenhang mit COVID-19 in Griechenland seit dem 4. Mai aufgehoben wurden, bleiben die Hotspots auf den Inseln im kompletten Lockdown. Und das, obwohl auf Samos weder bei der Inselbevölkerung noch bei den Bewohnern des Lagers COVID-19 Fälle aufgetreten sind. Das bedeutet, dass die ohnehin schon eingeschränkten Hilfeleistungen nun gänzlich wegfallen sind.

Griechenland hat sehr gut auf die Pandemie reagiert, mit weniger als 3000 registrierten Infektionen und nur 180 Todesfällen im gesamten Land. Die Strategie der Regierung jedoch, die Flüchtlingslager zu „schützen“, bedeutet schlicht, sie dort einzusperren, wo weder die Abstandsregeln eingehalten werden können noch eine ausreichende Hygiene gewährleistet ist. In mindestens drei Camps auf dem Festland, in denen es bestätigte COVID-19 Fälle gegeben hat, wurden die Camps einfach in den Lockdown versetzt und das wars.

Mehr noch, die Regierung hat von Beginn an entschieden, dass diejenigen, die seit länger als einem Monat ihren Flüchtlingsstatus erhalten haben, ihren Platz in den Wohnbereichen der Camps verlassen müssen und kein Recht auf das mit Europäischen Mitteln vom UNHCR bereitgestellte Taschengeld haben. Das bedeutet, dass Tausende schutzlose Menschen auf der Straße gelandet sind, weil sie keine anderen Optionen haben. Denn in Griechenland gibt es nur minimale Integrationsprogramme – neben dem HELIOS-Programm der IOM (Internationale Organisation für Migration), welches aus bürokratischen Gründen nur schwer zugänglich ist, gibt es nur eine Handvoll NGOs in Teilen von Griechenland, die ernsthaft an der Integration arbeiten.

Das bedeutet, dass Asylsuchende oft furchtbare Monate auf den Inseln unter inhumanen Bedingungen verbringen, ehe sie in andere Camps auf dem Festland gebracht werden, wo die Lebensbedingungen besser sind. Diese Camps befinden sich jedoch oft an abgelegenen Orten, wo es keine Möglichkeiten für Sprachkurse oder Schulbesuch der Kinder gibt. Nach einem oder zwei Jahren tatenlosen Wartens, stecken geblieben im Nirgendwo, landen sie auf der Straße. Ich kenne viele ehemalige Schüler, die mittlerweile 18 Jahre alt sind und weitere Erwachsene, die in dieser Situation sind.

Kannst Du uns von konkreten Begebenheiten berichten, die Dich betroffen haben und in die du involviert warst?

In diesen Jahren ist mir das Beste und das Schlechteste am Menschen begegnet. Die schwierigsten Situationen sind die, in denen unbegleitete Minderjährige betroffen sind, Kinder, die hier alleine ankamen und ohne Schutz und Unterstützung sind. Einer von ihnen hatte eine sehr schwierige Vergangenheit (wie das leider bei vielen der Fall ist) und versuchte sich das Leben zu nehmen, nachdem er einige Monate im „Dschungel“ in einem Zelt gelebt hatte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht und seine Verletzung wurde behandelt, doch weil es aber keinen sicheren Ort für seine Unterbringung gab, musste er zehn Tage auf dem Boden der Polizeiwache mit einer Luftmatratze und einem Schlafsack verbringen. Das war der sicherste Ort, der für ihn gefunden werden konnte. Da es auf Samos keinen Psychiater für Minderjährige gibt, wurde er für einen Tag für einen Termin, der 15 Minuten dauerte, auf eine andere Insel gebracht. Anschließend wurde er einfach ohne weitere Nachbehandlung oder Unterstützung in sein Lager zurückgeschickt. Mit Unterstützung einer Gruppe von Anwälten wandten wir uns an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Forderung nach einer sofortigen Verlegung. Dem wurde stattgegeben, fand aber schließlich erst zweieinhalb Monate später statt.

Inmitten dieser täglichen Tragödien gibt es aber auch Momente der Freude. Größtenteils sind diese Kinder schlau, nett, liebevoll und sehr altruistisch. Zwei von ihnen, D. aus Kamerun und O. aus Syrien waren fast ein Jahr bei uns und sind gute Freunde geworden. Sie waren sehr fleißige Schüler und haben die Innenwände des Containers mit Post-its mit englischen Wörtern beklebt, die sie jeden Abend wiederholt haben, ehe sie schlafen gingen. So konnten sie in kurzer Zeit in unseren Kurs Englisch für Fortgeschrittene wechseln und sprechen es jetzt fließend. Beide haben Samos vor über einem Jahr verlassen. O. ist nach Monaten von Schmerzen und Strapazen auf der Balkan Route jetzt in Deutschland. Offenbar hat er die Wände seines Schranks nun mit deutschen Wörtern beklebt und spricht die Sprache schon besser als ich.  D. blieb in Griechenland in einer Unterkunft für unbegleitete Minderjährige; er spielt professionell Fußball, spricht fließend Griechisch und hat endlich seine Papiere erhalten, die er für sein Bleiberecht benötigt.

Das sind die Kinder, für die wir kämpfen – sie haben so viel verloren und sind sehr jung mit Unvorstellbarem konfrontiert worden. Alles was sie erbitten ist die Chance auf ein normales Leben.

Wie ist der Stand von Projekten von Still I Rise in Griechenland und in anderen Ländern?

Auf Samos hier in Griechenland haben wir ein Jugendzentrum für Kinder von 12-17 Jahren, die im Lager leben. Im August wird unser Zentrum Mazì, was im Griechischen „Gemeinsam“ bedeutet, zwei Jahre bestehen. Und endlich können wir nach drei Monaten Lockdown wegen COVID-19 wieder öffnen! Trotz der Tatsache, dass am 4. Mai in ganz Griechenland der Lockdown aufgehoben wurde und die griechischen Kinder seit dem 25. Mai wieder zur Schule gehen, ist in den Lagern auf den Inseln der Lockdown bis mindestens 21. Juni verlängert worden. Wir mussten beim Camp-Manager eine Sondergenehmigung beantragen, damit die Kinder in unser Zentrum kommen können. Zum Glück wurde uns diese Genehmigung erteilt.

Die Schule in der Türkei ist fertig, aber wegen der Pandemie noch geschlossen. Wir hoffen nun, sie im September eröffnen zu können. Auch hoffen wir auf eine Eröffnung in Syrien in etwa einem Monat, das hängt aber von den Bauarbeiten ab. In Kenia sind wir noch im Frühstadium. Leider hat die Pandemie all unsere Pläne auf den Kopf gestellt, so dass wir unsere Projekte wochenweise neu anschauen und anpassen.

Was hat Dich zu diesem Engagement bewegt?

Die Ungerechtigkeit. Ich bin von zu Hause weg und nach Samos gegangen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte zu lesen, hören oder sehen, was mit diesen Menschen in meinem Europa geschah, ohne etwas zu tun. Mazì ist so entstanden – als Kampf gegen die Ungerechtigkeit in den Flüchtlingslagern und um die elementaren Rechte der Kinder wenigstens in unserer Einrichtung wieder herzustellen.

Es ist absurd, dass ein Pass, also nur ein Stück Papier, eine derartige Kluft reißen kann – zwischen dem Selbstverständnis aller fundamentaler Rechte, so wie wir es zum Beispiel in Italien genießen und dem Fakt, schlechter als Tiere behandelt zu werden, nur weil man das Pech hat, den falschen Pass zu besitzen.

In Europa, das sich für seine Demokratie, Freiheit und seine Rechte rühmt, ist das inakzeptabel. Ich könnte nicht weiter meine Rechte genießen, derer ich mir immer gewiss war und um die ich niemals kämpfen musste, solange andere Mitmenschen unmenschlich behandelt werden. Oft sagen uns unsere Schüler, dass die Tiere in Europa mehr Rechte haben als sie: Wenn Du einen verletzten und unterernährten Hund auf der Straße findest, bringst Du ihm zum Arzt, suchst ihm eine Bleibe. Nicht so die Geflüchteten. Das ist völlig absurd.

Was gibt Dir die Kraft inmitten all der Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten weiterzumachen?

Meine Schüler wissen, dass ich auf der richtigen Seite der Geschichte stehe. Trotz aller Schwierigkeiten, der Ungerechtigkeiten und der schrecklichen Lage sehe und sage ich mir, dass nicht ich oder meine Familie es sind, die diese Zustände ertragen müssen. Leider können wir keine Wunder bewirken, aber allein das Wissen, auch nur einem Menschen geholfen zu haben bedeutet, dass Du Dein Leben sinnvoll verbringst. Und in diesem Sinn machen wir weiter!

Mit Ausnahme der Drohnenaufnahme wurden alle Fotos von den Schülern von Mazì als Teil des Projektes „Durch unsere Augen“ gemacht.  https://www.stillirisengo.org/en/projects/exhibition/

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Silvia Sander vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!