„Die Zukunft manifestiert sich niemals zuerst im Zentrum. Sie manifestiert sich zuerst am Rande“ – Otto Scharmer

Gibt der Streik und die Demonstration am 17. August in Israel ein Zeichen der Hoffnung auf eine Veränderung im Bewusstsein der israelischen Gesellschaft? Oder zeigt er einmal mehr, dass die israelische Gesellschaft egozentrisch, ethnozentrisch und unfähig zur Empathie ist – außer für „die eigenen“? Ist es eine kranke Gesellschaft? Eine Gesellschaft, die … monströs ist?

Diese Frage wurde in diesen Tagen implizit oder explizit in mehr als einem Gespräch gestellt. Ich bin die Partnerin eines Israelis, die Mutter von zwei Töchtern mit einem hebräischen Nachnamen, Vertreterin der italienischen Gruppe der Freund:innen von Combatants for Peace und Initiatorin der Methode „Geschichten, die wieder verbinden“. Diese zielt darauf ab, Kulturen des Friedens in Zeiten der Polykrise zu fördern und Geschichten von Verbundenheit, Mitgefühl und Mut zum Leben zu erwecken. Wie kann ich diese Frage aus meiner „Position“ heraus erkunden?

Es wurde ein Generalstreik ausgerufen und in verschiedenen Städten wurden Proteste organisiert, bei denen ein sofortiges Ende des Krieges, die Freilassung der Geiseln und die Aussetzung der neuen Militäroperation in Gaza gefordert wurden. Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million Menschen, nahmen daran teil. Netanjahu und seine Minister brandmarkten den Protest als einen Akt, der die Hamas stärkt.

Der Fokus lag auf den israelischen Geiseln und die Veranstaltung wurde vom „Forum der Familien der Geiseln“ beworben. Wenn man Reden hört, die sich auf 50 israelische Geiseln konzentrieren, ohne die Tausenden (je nach Quelle variieren die Zahlen zwischen 60.000 und Hunderttausenden) Palästinenser:innen zu erwähnen, die in Gaza gestorben sind, löst das einen bitteren Groll aus, wenn nicht gar wütende Empörung. Es ist daher eine starke Versuchung, den 17. August nicht als Zeichen der Hoffnung, sondern vielmehr als Zeichen einer Gesellschaft zu sehen, die blind und taub für den Schmerz anderer ist, insbesondere derer, die sie gequält hat.

Doch Hunderttausende von Menschen fordern ein Ende des Krieges. Und wenn wir bereit sind, über den Tellerrand zu blicken, wo sich Möglichkeiten eröffnen, gibt es unter ihnen Gruppen und Bewegungen, die nicht nur ein Ende des Krieges für die Geiseln fordern, sondern gemeinsam mit den Palästinenser:innen Widerstand leisten. Sie werden gewöhnlich als Palästinenser:innen von ’48 bezeichnet, haben formal israelische Staatsbürgerschaft, werden aber als „Bürger:innen zweiter Klasse“ behandelt. Diese Bewegungen zögern nicht, diesen Krieg als „Genozid“ zu bezeichnen, den Hungertod in Gaza und die ethnische Säuberung im Westjordanland anzuprangern sowie ein Ende der Besatzung und eine Zukunft der Gerechtigkeit, Sicherheit und Freiheit für alle Menschen vom Fluss bis zum Meer zu fordern.

Sie haben das Trauma vom 7. Oktober gemeinsam bewältigt. Einige Mitglieder von Combatants for Peace (CfP) berichteten, wie schwierig es war, ihre Treffen, an denen Palästinenser:innen und Israelis gemeinsam teilnahmen, wieder aufzunehmen. Zunächst hielten sie Online-Treffen in getrennten Gruppen ab, dann lud jede Gruppe eine Person aus der anderen Gruppe als Beobachter ein, und erst danach konnten sie ihre Aktivitäten wieder gemeinsam aufnehmen. Ein israelisches CfP-Mitglied berichtete, wie der 7. Oktober das Potenzial hatte, Misstrauen und Hass in ihm wieder auszulösen, und wie dieser Auslöser durch die empathischen Nachrichten der palästinensischen CfP-Mitglieder entschärft wurde. Ein anderes israelisches CfP-Mitglied erzählte, dass er seinen Kindern unmittelbar nach dem Anschlag vom 7. Oktober, als niemand wusste, was als Nächstes passieren würde, die Nachrichten seiner palästinensischen Freund:innen zeigte, da sie von den Nachrichten verängstigt waren.

In den letzten zwei Jahren haben die gemeinsamen Bewegungen von jüdischen Israelis und Palästinenser:innen – Combatants for Peace (CfP) und Standing Together, um nur die zu nennen, die ich am engsten verfolge – gemeinsam Widerstand geleistet und gegen den Schrecken der Gewalt protestiert.

Hier sind nur einige ihrer Initiativen:

Jerusalem, 25. Mai 2025: Ein Dutzend Aktivist:innen von Standing Together mobilisierten, um Palästinenser:innen vor rechtsextremen Banden zu schützen, die gekommen waren, um am „Jerusalem-Tag” Gewalt in der Jerusalemer Altstadt anzuzetteln.

Tel Aviv und Jerusalem, 3. August 2025: Hunderte Aktivist:innen – darunter Mitglieder von CfP – protestierten und forderten Gerechtigkeit für Awdah Hathaleen. Der palästinensische Pädagoge und Aktivist war am 28. Juli in seinem Dorf Umm Alkhair in Masafer Yatta von dem Siedler Yinon Levi getötet worden.

Beit Jala, 15. August 2025: „Journalist:innen sind die Augen und Ohren der Welt. In Gaza werden diese Augen bewusst verschlossen: Seit dem 7. Oktober 2023 wurden mehr als 200 Reporter:innen getötet.“ Israelische und palästinensische CfP-Mitglieder organisierten eine gewaltfreie Demonstration gegen die jüngste Tötung von sechs Journalisten in Gaza und forderten, dass Israel zur Rechenschaft gezogen wird.

Beit Jala, 7. August 2025: Bei der wöchentlichen gewaltfreien Demonstration wird der durch die israelische Politik verursachte Hunger in Gaza angeprangert. Die israelische Armee sperrte das Gebiet ab und drohte mit Gewalt.

Sakhnin, August 2025: Tausende Bürger:innen – israelische Juden/Jüdinnen und Palästinenser:innen – versammeln sich in Sakhnin, um ein Ende des Krieges, des Völkermordes und des erzwungenen Hungers in Gaza zu fordern.

Gaza-Grenze, 6. August 2025: An der Gaza-Grenze schlossen sich israelische Juden/Jüdinnen und Palästinenser:innen zusammen, um sich gegen Vernichtung, Zerstörung, Besatzung und erzwungenen Hunger auszusprechen und die Vernachlässigung der Geiseln anzuprangern.

Der Standing-Together-Aktivist Eliah Levine erklärte der BBC, warum sie die Live-Übertragung von „Big Brother Israel” unterbrachen, um ein Ende des Horrors in Gaza zu fordern. „Wir können nicht so tun, als würde nichts passieren, während Zehntausende Palästinenser:innen getötet und 50 Geiseln im Stich gelassen werden.“

Diese beiden Bewegungen, Combatants for Peace und Standing Together, sind zusammen mit rund 60 anderen Organisationen Teil der nach dem Anschlag vom 7. Oktober 2023 gegründeten Koalition „Es ist Zeit“. Das Ziel der Koalition ist es, den israelisch-palästinensischen Konflikt durch eine politische Einigung zu beenden und das Recht auf Selbstbestimmung, Gleichheit und ein sicheres Leben für beide Völker zu gewährleisten.

Lassen Sie uns also zur Frage vom 17. August zurückkehren, in dem Wissen, dass sich vor diesem Datum ein Teil der Gesellschaft mobilisiert hat, um das Schweigen und die Propaganda zu brechen und den Völkermord, den Horror, die Vernichtung, den erzwungenen Hunger in Gaza, die ethnische Säuberung im Westjordanland und die Vernachlässigung der Geiseln anzuprangern. Ein Gefühl der Offenheit erfüllt unsere Herzen. Vielleicht ist nicht alles verloren. Vielleicht gibt es Hoffnung am Rande.

Geben wir als Internationalist:innen, als Europäer:innen, als Italiener:innen diesen gemeinsamen Bewegungen, die Widerstand leisten, genügend Raum und Unterstützung, um Hoffnung zu nähren?

Auch Al-Jazeera berichtete über den Streik und die Demonstrationen am 17. August. Al-Jazeera ist in arabischen Ländern oft der meistgesehene Sender, insbesondere in den palästinensischen Gebieten. Im Westjordanland und in Gaza ist er die Hauptinformationsquelle für über 53 % der Bevölkerung und übertrifft andere Sender wie Palestine TV und Al Arabiya bei weitem. Aufgrund seines riesigen Publikums könnte die Berichterstattung von Al-Jazeera laut dem Columbia Journalism Review darüber entscheiden, ob Friedensabkommen mit Israel von der palästinensischen Öffentlichkeit akzeptiert werden oder nicht. (Quelle: Wikipedia)

Al-Jazeera wird oft der Voreingenommenheit beschuldigt – aber wer ist schon unparteiisch? In diesem Sinne ist es erwähnenswert, dass Al-Jazeera Alon-Lee Green, den Anführer von Standing Together, zu Gast hatte, um den Protest vom 17. August zu kommentieren. Al-Jazeera stellte ihm eine Frage, die direkt zum Kern der Sache vordringt: „Wie sieht Ihre Bewegung von Israelis und Palästinenser:innen die Proteste in Israel, die die Geiseln nach Hause bringen und die Zahl der israelischen Todesfälle reduzieren wollen und sich weniger auf die Palästinenser:innen und ihre Bedingungen in Gaza konzentrieren wollen?“

Alon-Lee Green antwortete: „Wir sind Teil einer Gesellschaft … und wir glauben, dass die Veränderung der Gesellschaft von innen heraus zusammen mit unserer Selbstorganisation der Schlüssel sind, um diesen Albtraum und die andauernde Zerstörung in Gaza zu beenden, die Geiseln zu befreien, die Regierung zu stürzen und das tief verwurzelte Problem der Besatzung zu lösen. Wir müssen verstehen, dass jede Person, die jetzt auf der Straße ist, um sich dem Krieg zu widersetzen, willkommen ist. Es ist wichtig, von unseren eigenen Interessen auszugehen. Wir müssen verstehen, dass es wichtig ist, dies mit den palästinensischen Interessen zu verbinden. Denn nur, wenn wir eine Mehrheit von Menschen aufbauen – Palästinenser:innen und jüdische Israelis –, die Vertrauen schaffen, zusammenarbeiten und dieser Realität gemeinsam widerstehen, können wir nicht nur diesen Krieg und diese Zerstörung beenden, sondern auch einen Schritt weitergehen und die Besatzung beenden.“

Alon-Lee Green erkennt die Realität an und lenkt gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten. Er ist sich bewusst, dass ein Teil der israelischen Gesellschaft, der auf die Straße gegangen ist, ein Ende des Krieges aus seinen eigenen „Stammes“-Interessen heraus will. Doch er sieht die Möglichkeit, dies als Ausgangspunkt zu nutzen, um von innerhalb der Gesellschaft zu arbeiten und sie zu transformieren. In mehreren Videos auf seinem Instagram-Kanal wendet er sich an die israelische Öffentlichkeit. Er sagt, dass es in der Tat darum geht, die Palästinenser:innen zu retten, aber auch darum, die Menschlichkeit der Israelis zu retten. Provokativ fragt er sie, ob sie die Frage beantworten wollen: Was für ein Land wollen wir?

Aus palästinensischer und pro-palästinensischer Perspektive könnte dies als arrogante Rhetorik betrachtet werden. In einer Zeit, die von Schmerz und Wut über Ungerechtigkeit geprägt ist, ist es vielleicht tatsächlich arrogant. In der Dimension einer umfassenderen Zeit jedoch, in der sich Mittel und Zwecke überschneiden und die Befreiung der Unterdrückten auch die Befreiung des Unterdrückers ist, sind diese Aussagen nicht arrogant, sondern mutig. Wie schwer es ist, diese Aussage zu treffen, weiß ich nur zu gut, denn ich/wir habe/n das scharfe Schwert der Gerechtigkeit in der Hand. Tatsächlich ist sie die einzige Möglichkeit für eine kollektive Befreiung.

Sally Abed, eine palästinensische Israelin von Standing Together, bezieht sich auf das Eigeninteresse jüdischer Israelis und bietet eine ungewöhnliche Perspektive, die zu einer Wahl radikaler Ermächtigung und tiefgreifender Transformation aufruft. „Ich bin eine palästinensische Frau. Ich bitte euch, für die Befreiung meines Volkes zu kämpfen – nicht, um mich zu retten, sondern um uns zu retten. Ich weigere mich, euch an unserem gemeinsamen Kampf teilnehmen zu lassen, um uns zu retten. Ich bitte jeden jüdischen Israeli in diesem Land, sich aus eigenem Interesse an diesem Kampf zu beteiligen – aus dem tiefen Interesse heraus, die Besatzung zu beenden und Frieden zu erreichen. Andernfalls werden wir keine wirklich gleichberechtigte Partnerschaft aufbauen können. Ich bitte euch, euch dem Kampf anzuschließen, in dem wir beide ein Interesse an einem besseren Leben, einer besseren Zukunft, an Frieden und Freiheit haben … Sie hindern uns daran, uns eine bessere Zukunft vorzustellen, und wir bestehen darauf, uns eine bessere Zukunft vorzustellen.“

Über Palästina und Israel zu schreiben und zu sprechen ist heikel, weil das Gefühl der Dringlichkeit einhergeht mit Empörung, dem Impuls zu schreien und dem Gefühl, verrückt zu werden. Es findet ein Völkermord vor unseren Augen statt, und wir müssen alles tun, um ihn zu stoppen.

Doch es gibt eine andere Dimension, die scheinbar weniger dringend ist und aus diesem Grund marginalisiert wird. Es ist die Dimension der umfassenderen Zeit, des Mitgefühls und der Versöhnung. Es ist die Essenz der Konflikttransformation. Es ist die Vorbereitung auf eine Zukunft der Versöhnung, indem man auch und gerade inmitten des Gemetzels auf die Zukunft hinarbeitet. Es ist das Arbeiten innerhalb einer Gesellschaft, die die Verbrechen, die sie begeht, nicht sieht (oder nicht sehen will).

Hier wird eine Stimme (oder vielleicht ein Schrei) von innen gehört: „Kannst du das nicht sehen? Es ist praktisch ein Völkermord, der live im Fernsehen übertragen wird. Willst du das nicht sehen? Noch schlimmer. Wie ist das möglich? Es ist … monströs.“

Weiter zum 2. Teil…

Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!