Yuli Novak, die Geschäftsführerin der israelischen Nichtregierungsorganisation B’Tselem, die kürzlich in vielen Zeitungen für die Veröffentlichung des Berichts „Unser Völkermord“ zitiert wurde, schrieb:
„Völkermord findet nicht ohne die Beteiligung der Massen statt, ohne eine Bevölkerung, die ihn unterstützt, zulässt oder wegschaut. Dies ist Teil seiner Tragik. Kaum eine Nation, die einen Völkermord begangen hat, hat in Echtzeit verstanden, was sie tat. Die Geschichte ist immer die gleiche: Selbstverteidigung, Unvermeidlichkeit, die Opfer haben es sich selbst zuzuschreiben.“
B’Tselem wurde 1989 gegründet. Ihre Mission ist es, Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten (Westjordanland, Gazastreifen und Ost-Jerusalem) zu dokumentieren und anzuprangern. Die Organisation veröffentlicht Berichte, Video-Zeugenaussagen, rechtliche Untersuchungen und Sensibilisierungskampagnen, die sich sowohl an die israelische Gesellschaft als auch an die internationale Gemeinschaft richten. In dem Bericht „Unser Völkermord“ vom Juli 2025 vertritt B’Tselem die Ansicht, dass der israelische Staat seit Oktober 2023 eine systematische Politik der Vernichtung gegen den Gazastreifen verfolgt, die einem Völkermord gleichkommt.
Der Satz „Kaum eine Nation, die einen Völkermord begangen hat, hat in Echtzeit verstanden, was sie tat.“, ist keine weitere Rechtfertigung oder Milderung für Israel. I Yuli Novaks Worte zeigen den Mut, als Gesellschaft – und als Menschheit insgesamt – in den Spiegel zu blicken.
„Völkermord ist in der Regel das Ergebnis einer allmählichen Entwicklung über Jahre hinweg, in der ein repressives und diskriminierendes Regime zu einem völkermörderischen Regime wird. Jahrzehnte der Besatzung, Unterdrückung und Apartheid haben zu einer tiefgreifenden Entmenschlichung der Palästinenser:innen geführt, die von den Israelis zunehmend als Bedrohung und als ‚zu lösendes‘ Problem angesehen werden. Solche Bedingungen können lange Zeit andauern, ohne zu Völkermord zu führen. Oft fungiert ein gewalttätiges Ereignis, das ein Gefühl existenzieller Bedrohung hervorruft, als Auslöser für die tatsächliche Begehung eines Völkermordes. Im Falle unseres Völkermordes waren die Schrecken des 7. Oktober 2023 und das Trauma, das die israelische Gesellschaft erlebte, in der Tat der Auslöser für einen umfassenden Angriff auf den Gazastreifen, der als Akt der Selbstverteidigung dargestellt wurde. Das immense Trauma der Israelis wurde von der derzeitigen rechtsextremen Regierung ausgenutzt, um eine Politik voranzutreiben, die Schlüsselpersonen bereits zu fördern versuchten.“ https://www.btselem.org/publications/202507_our_genocide
In der Türkei ist der Völkermord an den Armeniern offiziell immer noch ein Tabu.
In Kanada ist der Völkermord an der indigenen Bevölkerung erst in den letzten Jahrzehnten ins kollektive Bewusstsein gedrungen. Über ein Jahrhundert lang (vom 19. Jahrhundert bis in die 1990er Jahre) wurden indigene Kinder von ihren Familien getrennt und gezwungen, in Residential Schools zu leben. Dort waren sie Misshandlungen und physischem sowie psychischem Missbrauch ausgesetzt und sie wurden daran gehindert, ihre eigenen Sprachen zu sprechen und ihre eigene Kultur zu bewahren. Wusste die weiße kanadische Gesellschaft davon?
Im kollektiven Bewusstsein Italiens überwiegt nach wie vor die Verdrängung oder Verharmlosung des italienischen Kolonialismus und der dabei verübten Gewalt, wie dem Einsatz von Gas in Äthiopien, der Einrichtung von Konzentrationslagern in Libyen und der brutalen Repression in Somalia. In der italienischen Öffentlichkeit und in den Medien hält sich hartnäckig der Mythos von einem ‚milden‘ oder gar ‚humanitären‘ Kolonialismus – gespeist durch das Bild der ‚guten Italiener‘. Wusste die italienische Gesellschaft davon?
In Europa sind Migranten „inzwischen zu einer Bedrohung und einem ‚zu lösenden‘ Problem geworden“. Dieselben Worte, die B’Tselem für die Palästinenser verwendet, können auch für den Prozess der Entmenschlichung von Migranten in Europa verwendet werden. Kürzlich landeten 13 Personen am Sotillo-Strand von Castell de Ferro in der Provinz Granada (Andalusien). Die Badegäste reagierten aggressiv, verfolgten die Personen, ergriffen sie und hielten sie fest. In einer Szene ist zu sehen, wie ein Mann in einem orangefarbenen Anzug auf dem Rücken eines der Migranten kniet, während er auf die Ankunft der Polizei wartet. Niemand hat menschlich oder mit Mitgefühl gehandelt. Wie ist das möglich? Es ist… monströs… https://www.thetimes.com/world/europe/article/speedboat-migrants-spain-sunbathers-6n6gpdksj?utm_source=chatgpt.com
Die Monster sind nicht irgendwo da draußen. Sie sind in jedem von uns. Vielleicht gehören wir nicht zu jenen, die Migrant:innen, Geflüchtete oder Roma … entmenschlichen. Dennoch ist es möglich, dass wir zu denjenigen gehören, die Faschist:innen oder Trump-Anhänger:innen entmenschlichen. Und selbst wenn wir nicht zur Entmenschlichung beitragen, bewegen wir uns zumindest auf dem Gebiet der Polarisierung.
„Polarisierende Taktiken, Kulturkriege und moralischer Purismus“, schreibt Evans, „werden eingesetzt, um das Bewusstsein zu schärfen und zu mobilisieren. Das Ergebnis kann jedoch mehr Unterdrückung, weniger Empathie, mehr Aggressivität, weniger kritisches Denken und mehr Gruppendenken sein.“ Sie laufen Gefahr, Aktivist:innen für soziale Gerechtigkeit „in Fraktionen zu spalten, die mehr voneinander besessen sind als davon, die Ungerechtigkeit zu beenden, die ihre gemeinsame Sache ist.“ Das Ergebnis ist, dass „wir, anstatt reale Probleme zu lösen, wertvolle politische Energie verschwenden, um die Polarisierung selbst zu verwalten.“ Diego Galli, https://www.rigenerazionale.it/p/polarizzazione
Apropos „moralischer Purismus“: Standing Together steht auf der Liste der zu boykottierenden Organisationen, die von der „The Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI)“, einem Gründungsmitglied der BDS-Bewegung, erstellt wurde. Die Organisation wird der „Normalisierung“ beschuldigt, d. h. den Status quo als normal darzustellen und die Aufmerksamkeit nur auf Hass und Empathie zu lenken, ohne auf die strukturellen Ursachen des Konflikts – die Unterdrückung, die Besatzung und die Apartheid – hinzuweisen. Die Anklage der Normalisierung richtet sich oft gegen gemeinsame Bewegungen von Israelis und Palästinensern. Sicher, die Normalisierung des Status quo und die Geschichte der Koexistenz von Juden und Palästinensern, die zusammen musizieren und singen, sind heimtückisch. Aber die Anklage der Normalisierung gegen Standing Together ist ebenso heimtückisch. Auf der Website der BDS-Bewegung (https://www.bdsmovement.net/standing-together-normalization) ist zu lesen, dass Standing Together die Idee fördert, dass Palästinenser und Israelis koexistieren können, wenn sie Empathie statt Hass wählen. Die Organisation erkennt jedoch das israelische Apartheid- und Kolonialisierungsregime nicht als Hauptursache des Konflikts an. Während eines Interviews mit CNN sagte die Journalistin Christiane Amanpour zu Rula Daood, der Co-Direktorin von „Standing Together“: „Einige Palästinenser haben Sie kritisiert. Sie werfen Ihnen vor, die Besatzung zu normalisieren. Die BDS-Bewegung hat gesagt, dass dies Normalisierung ist …“.
Darauf antwortete Rula Daood: „Wenn man bequem zu Hause in den Vereinigten Staaten oder in Europa sitzt, ist es viel einfacher, uns anzusehen, ohne die Realitäten zu verstehen, in denen wir leben. Manchmal mag es aus Unwissenheit sein. Ich bin eine palästinensische Bürgerin Israels und das Leben ist nicht einfach. Wir sind Bürger zweiter Klasse. Hierherzukommen und die einzigen Aktivist:innen zu boykottieren – sowohl Palästinenser als auch Juden –, die es wagen, sich dieser Regierung zu widersetzen eine andere Sprache zu sprechen, zu sagen, dass diese Besatzung enden muss, dass dieser Krieg enden muss, dass es ein Abkommen geben muss, damit die Gefangenen nach Hause zurückkehren können, bedeutet einfach, sich gegen den Willen des Volkes zu stellen. Wenn man wirklich revolutionär ist, versteht man, dass es Menschen gibt, die leiden, und dass es Regierungen gibt.“
Das gesamte Interview ist unter diesem Link abrufbar (https://edition.cnn.com/2025/05/14/tv/amanpour-green-daood) und ich habe es mir noch einmal angesehen. Etwas in mir hätte sich vielleicht gewünscht, dass Rula und Alon-Lee die Besatzung und die Apartheid-Bedingungen schärfer anprangern. Vielleicht störte mich sogar etwas am Titel „Der Schmerz ist ein gegenseitiger Schmerz“, denn wie kann man den Schmerz der Unterdrückten und den Schmerz der Unterdrücker vergleichen?
Dennoch, wie Combatants for Peace (CfP) in ihren Einladungen zur „Joint Memorial Ceremony“ schreiben: „Beim Trauern Seite an Seite streben wir nicht danach, die Narrative gleichzusetzen, sondern Verzweiflung in Hoffnung zu verwandeln und Brücken des tiefen Mitgefühls zu bauen, die die Realität verändern können …“ Die Zeremonie wird von CfP und dem „Parents Circle Families Forum“ organisiert. Sie findet jedes Jahr am Vorabend des Yom Hazikaron, des israelischen Gedenktages, statt. In der vorherrschenden israelischen Kultur neigt dieser Tag dazu, kulturelle Narrative von Schmerz, Opferhaltung und Verzweiflung zu verstärken. Die Zeremonie durchbricht dieses Narrativ, indem sie Palästinenser:innen und Israelis zusammenbringt, um „gemeinsam zu weinen und einen anderen möglichen Weg zu gestalten“.
Der Schmerz ist dann derselbe, auch wenn die Voraussetzung für diese Anerkennung die erste Anerkennung der Machtasymmetrien, der unterdrückenden Strukturen und der Verantwortlichkeiten ist. „Wir erkennen den Unterschied in den Machtdynamiken zwischen Israelis und Palästinenser:innen an und nutzen unsere Privilegien, indem wir zusammenarbeiten, um uns der Ungerechtigkeit zu widersetzen.“ (Von der CfP-Website: https://www.cfpeace.org/combatants-for-peace)
Die gemeinsamen Bewegungen von jüdischen Israelis und Palästinenser:innen geraten unter Beschuss: Einerseits werden sie von Palästinensern oder Pro-Palästinensern der Normalisierung beschuldigt oder es wird nicht akzeptiert, dass es Israelis im Kampf für ein freies Palästina geben kann (vereinfacht gesagt). Andererseits werden sie von Israelis oder Pro-Israelis beschuldigt, Antisemiten und/oder Verräter Israels zu sein.
Israelis, die ein Ende der Besatzung fordern, werden auf Hebräisch als „Yafeh Nefesh“ bezeichnet was „schöne Seelen“ bedeutet, mit einer abfälligen Konnotation von naiv, einfältig und illusorisch. Insbesondere nach dem 7. Oktober lautete die Frage an sie: „Hast du deinen Rausch ausgeschlafen? Bist du jetzt realistischer geworden?” Vielleicht passiert dasselbe mit Palästinenser:innen, die an die Koexistenz mit Israelis glauben: „Wie kannst du angesichts dessen, was passiert, Vertrauen haben?”
Martin Luther King sagte in seiner Rede in Montgomery, Alabama (1957): „Wir sind besonders an der Rolle der Weißen guten Willens interessiert. Wir sind daher dankbar, wenn wir Mitglieder der weißen Bevölkerung finden, die sich ernsthaft um Veränderung bemühen … Wir versuchen, sie zu ermutigen, in Übereinstimmung mit ihren tiefsten Überzeugungen standhaft zu handeln.“
Die Beteiligung von Israelis am Widerstand gegen Völkermord, Besatzung und ethnische Säuberung zu fördern, verwässert nicht die Forderung nach Gerechtigkeit – im Gegenteil: Sie wird dadurch gestärkt. Die Gefahr, die ich in einigen Kommentaren gelesen habe, besteht vielleicht darin, israelische Held:innen (Held:innen innerhalb der unterdrückenden Gruppe) zu schaffen und die widerständigen Menschen (aus der Gruppe der Unterdrückten) in den Hintergrund zu drängen.
Zurück zur Frage vom 17. August: Es gab mehr Bilder und Fotos von israelischen Geiseln als von Kindern aus Gaza und sicherlich mehr israelische Flaggen als Plakate mit der Aufschrift „Stop Genocide“. Und doch können wir gleichzeitig sowohl die blinden Flecken der israelischen Gesellschaft als auch die Möglichkeiten am Rande betrachten. Auf diese möchte ich schauen, ohne den Rest zu verdunkeln – und das bedeutet, das ganze Gewicht dieser Realität zu spüren –, geleitet von der Hoffnung. Hoffnung ist kein Gefühl, sondern eine Haltung; sie ist nichts, was man entweder hat oder nicht hat, sondern etwas, das man kultiviert, oder wie der Aktivist Maoz Inon sagen würde, „man macht gemeinsam Hoffnung“.
„Aktive Hoffnung ist kein Wunschdenken … Das Netz des Lebens ruft uns auf, in diesem Moment zu handeln. Wir sind weit gekommen und sind hier, um unseren Teil beizutragen … Aktive Hoffnung ist die Bereitschaft, die Kräfte in uns selbst und in anderen zu entdecken; die Bereitschaft, die Größe und die Stärke unserer Herzen zu entdecken …“ (Joanna Macy)
In diesem Moment bedeutet „Hoffnung machen“ für mich, mich innerhalb und nicht außerhalb des Bildes, das ich betrachte, zu positionieren. Ich möchte jenen Teil der israelischen Gesellschaft bekannt machen und stärken, der am 17. August nicht das Ende des Krieges forderte, um „die Seinen“ zu retten, sondern eine Zukunft der kollektiven Befreiung für alle Menschen vom Fluss bis zum Meer verkörperte.
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Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!









