Ich gehöre zu der Generation, die – in unserer eigener Wahrnehmung zumindest – erfolgreich für den Frieden demonstriert hat, damals zwischen 1981 und 1983 in verschiedenen europäischen Hauptstädten. Es ging gegen den NATO-Doppelbeschluss, der grob hiess: Erst aufrüsten, dann verhandeln. Wir aber wollten Frieden schaffen ohne Waffen. Wie konnte das so dermassen schiefgehen? Die Samstagskolumne.
von Christa Dregger
Es war in meiner Erinnerung der Aufschrei einer ganzen Generation: Dieser kalte Krieg muss enden, bevor es ein heisser wird. Ein Statement, geboren aus einem Schrecken, der mich – und viele meiner Generation – oft nachts aus dem Schlaf hochfahren liess: Wir stehen nur einen Schritt entfernt vom Atomkrieg, von der brutalen Auslöschung all dessen, was uns wertvoll ist.
Was heute als Stimme der Vernunft gilt, galt damals als verfassungsfeindlich. Die Grossdemonstration im Bonner Hofgarten diente nach Meinung des damaligen Oppositionsführers Helmut Kohl «eindeutig dem Interesse Moskaus», Teile der SPD würden dort eine «Volksfront» mit Kommunisten bilden. (Die Grünen trugen die Demonstration übrigens entscheidend mit, ihre heutige Polemik folgt eher der ungeliebten «Birne» Kohl.)
Der Doppelbeschluss kam dennoch. Und damit die Stationierung der Pershing II in Deutschland. Aber tatsächlich auch die Abrüstung – und schliesslich, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das Ende des kalten Krieges. Im Osten fielen die miefigen sozialistischen Kulturen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, die alten Herrscher waren auf einmal nackt.
Jetzt war es fast, als stünden wir nur einen Schritt entfernt vor allem, für das wir je gekämpft hatten: dem Systemwechsel auf beiden Seiten. Der Zusammenbruch auch des kapitalistischen Systems, das die Natur und den globalen Süden und unsere Seelen gnadenlos ausbeutet. «Der Öffnung der Mauern im Äusseren muss jetzt die Öffnung der inneren Mauern folgen», hiess es in einem Flugblatt, das wir verteilten.
Der Traum kam zu früh: Wir sahen mit Tag 1 der Maueröffnung den Kapitalismus in unstillbarer Gier erstarken. Wo wir Möglichkeiten des Wandels sahen, sah er neue Märkte. Vertrauensselige Ossis wurden in Scharen um ihren Besitz betrogen, eine ganze Gesellschaft gnadenlos abgewickelt. Globalisierung und Neoliberalismus wuchsen – ungehemmt durch den eisernen Vorhang – in alle Richtungen. Was eine neue Hoffnung hätte sein sollen, wurde ein Ramschverkauf.
Statt einen Schritt in die Zukunft zu gehen, sind wir in eine brutale Vergangenheit zurückgeworfen worden, aber mit den technischen Mitteln der Zukunft.
Dennoch – irgendwie gingen viele von uns immer noch davon aus, dass, wenn auch mit Rückschlägen und Gefahren, langsam, aber stetig, die Menschen zur Vernunft kommen und alles besser werden würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Ich arbeitete für Ökodörfer und Friedensgemeinschaften, für einen Wandel von unten, durch Graswurzelprojekte und regionale Autonomien, für die Bekämpfung von Fluchtursachen durch Selbsthilfeprojekte im globalen Süden. Ich besuchte solche Projekte auf der ganzen Welt, gab ihnen Öffentlichkeit, unterstützte ihre Vernetzung, ihr gegenseitiges Lernen, eine weltweite Wachstumserfahrung von uns als Menschheitsfamilie.
Da wächst ein anderes Bewusstsein heran, glaubten wir. Wie oft erzählten wir uns das Bild der Raupe und ihrer Transformation zum Schmetterling: Wenn die neuen Imagozellen sich in der Verpuppung erkennen, werden sie das Alte abschütteln und unweigerlich zum Schmetterling. Dieses entstehende «Wir», das wir da beschworen, war wie ein schlafender Riese: Eines Tages würde er seine Kraft erkennen, seine Fesseln abschütteln – und eine neue Welt aufbauen.
Diese Gewissheit in mir ist erschüttert, um es milde auszudrücken. Ich hätte tatsächlich nicht mit der Entwicklung der letzten fünf Jahre gerechnet – ja, eigentlich seit der Corona-Zeit, der grossen Lehrmeisterin für das Erwachen, wie ich damals behauptete. Ich hätte nicht erwartet, dass sich Deutschland – noch mal! – und mit ihm fast ganz Europa durch geschürte Ängste, ob vor Viren oder Russen, in ein Szenario der pharmazeutischen und militaristischen Kriegsvorbereitung treiben lässt.
«Auf einmal» zeigt die Welt ein totales Fratzengesicht: Sie wird regiert von lauter extremen Ego-Machos, die nach anachronistischen, ultrapatriarchalen und lächerlich durchschaubaren Verhaltensweisen handeln – und damit Erfolg haben. Sie sitzen an allen Drückern und jagen all die anderen vor sich her! Es gilt nur noch die laute Sprache von Prahlen, Drohen, Angst und Gewalt. Die UNO, die sich vormals als Hoffnungsträger verkaufte, ist entlarvt als Systemunterstützer, ihr Sicherheitsrat durch die Veto-Macht der Grossmächte eine Farce: Die Rufe nach Einhaltung des Völkerrechtes werden jeweils für die eigenen Interessen missbraucht, immer blind auf einem Auge.
Doch von wegen «auf einmal». Wir haben uns getäuscht, die Fratze gab es schon vorher, nur verborgen. Viele frühere Weggenossen sind jetzt auch offen Teil des Gewaltsystems geworden. Diese angeblich so aufrechten und moralischen ehemaligen Aufbruchs- oder Vernunftkräfte – wie in Deutschland die Grünen und andere vormals «linke» und alternative Gruppierungen – haben nicht nur mitgemacht, sondern die Gewaltspirale noch angeheizt mit ihrem Brustton der Empörung. Sie haben lange Zeit die humanen Kräfte in eine falsche Richtung kanalisiert.
Statt einen Schritt in die Zukunft zu gehen, sind wir in eine brutale Vergangenheit zurückgeworfen worden, aber mit den technischen Mitteln der Zukunft. Wie konnte es so weit kommen – und wie kommen wir da wieder raus? Haben wir vielleicht wesentliche Lehren aus der Geschichte verpasst, so dass sie jetzt so bitter wiederholt werden müssen? Und worauf können wir jetzt noch hoffen?
Beim ersten Nachdenken sehe ich vor allem zwei Bereiche, die wir noch nicht gelernt haben: Den Umgang mit Komplexität und Widersprüchlichkeit – und den Umgang mit dem Bösen.
Egal welches Thema in den letzten paar Jahren die Gemüter erhitzt und die Gruppen gegeneinander aufgehetzt hat – z.B. Klimawandel, Migration oder Gendern – immer suchen die meisten eine einzige, einfache Antwort: gut oder schlecht. Wenn diese nicht wirklich greift – und das tut sie nie – bleiben wir trotzdem dabei – nur vehementer. Und Medien funktionieren heute so, dass sie das nicht auflösen, sondern verstärken und uns im Gegeneinander gefangen halten. Wir brauchen eine Debatte, die Widersprüche aushält und integriert, auch wenn sie sich zum Zerreissen anfühlen.
Als zweites sehe ich unser Verhältnis zum Bösen. Denn das Böse, auch wenn wir es nicht wollen, ist überall am Werk, auch wenn wir glauben – wie ich – dass der Mensch «im Grunde gut» ist. Egal ob es etwas originär Böses gibt, ob sich das abgelehnte, gequälte Leben in das Böse verwandelt oder ob es nur durch unsere Angstprojektion entsteht: Das Böse existiert – und damit meine ich die organisierte Vernichtung von Leben für einen eigenen egoistischen Vorteil.
Im Kapitalismus wurde das Böse mächtig, schafft Resonanzen, benutzt uns, steuert uns, und zwar meistens im Verborgenen. Es nicht sehen zu wollen, bedeutet, ihm Raum zu geben. Wir brauchen Kraft, um das Böse in der Welt zu erkennen, zu entlarven, ihm zu widerstehen, uns davor zu schützen. Ob wir es verwandeln oder heilen können… das wäre eine zweite Frage, die ich nicht beantworten kann. «Liebe das Böse gut», sagte Christian Morgenstern. Ich stimme ihm zu, wenn mit Lieben tiefes Erkennen gemeint ist.
Und damit komme ich zur Frage, was heute noch Hoffnung gibt – heute, wo die grossen Friedensbündnisse zerstört scheinen. Ich gehe weiterhin (manchmal) auf Demonstrationen, schreibe weiterhin Friedensbeiträge, nehme an Aktionen und Petitionen teil – aber sie sind nicht meine Hoffnungsträger.
Mein Hoffnungsträger ist meine Gemeinschaft. Die Menschen um mich herum, auf die ich mich verlassen und mit denen ich alles teile – mein Geld, meine Gedanken, Ansichten und Gefühle, auch wenn sie für die anderen herausfordernd sind. Wir sind füreinander da, auch wenn wir Fehler gemacht haben oder in alte Verhaltensmuster abgerutscht sind. Für mich ist das gelebter Frieden, den ich in meinem Nahfeld erfahre – und immer wieder neu erringen muss. Und wenn Friede im Nahfeld möglich ist, ist er es auch im Grossen.
So ein winziger Hoffnungsträger – wo wir doch mit so grossen Gewaltströmungen zu tun haben? Ja, es ist ganz klein. So klein wie eine Eichel, in der aber die Information für einen ganzen Baum steckt. Und dann stelle ich mir vor, dass es immer mehr solche kleine Gruppen gibt – ich nenne sie Mikrogemeinschaften – die geklärte Beziehungen unter sich haben, über alles reden können und sich gegenseitig Kraft geben. Es können auch Nachbarschaften oder Aktionsbündnisse sein. Menschen, die lernen, mehr und mehr ihre Selbstwichtigkeit hintenan zu stellen, und sich zuhören. Und die dann in ein grösseres Umfeld wirken.
Das ist meine Hoffnung: Das System zu verstehen, seine Mechanismen abzulegen, es zu unterwandern und – nach und nach und überall – eine andere Wirklichkeit aufzubauen. Vor 40 Jahren machten wir Massendemonstrationen. Das reicht nicht mehr: Wir brauchen ein massenhaft anderes Leben.