Eines Tages werden sie erzählen, was dort passiert ist. Ein bisschen zuerst, später etwas mehr. Wegen des starken Drucks in ihrer Brust werden die Worte geflüstert, wie zischender Dampf, einige wenige zunächst, zögerlich. Später immer mehr.

Von Avner Wishnitzer

Es wird Menschen geben, die es schaffen, sie in sich zurückzuhalten und die erst Jahrzehnte später sprechen werden, wenn die Worte etwas abgekühlt sind und nicht auf den Lippen brennen. Es wird Menschen geben, die nie sprechen. Erst im Schlaf kehren Bilder zu ihnen zurück, Albträume, und sie wachen schweißgebadet auf. Zu denen, die neben ihnen liegen und auch erschrocken aufwachen, werden sie sagen, dass es nichts ist. Es war nur ein böser Traum.

Eines Tages werden sie erzählen, was dort passiert ist. Vielleicht wird es ein Drohnenpilot sein, der von den „unbeteiligten“ Menschen erzählt, die er getötet hat. „Damals war das anders“, wird er erklären. „Es war nach den Schrecken vom 7. Oktober, und alle sagten, es gibt keine Unschuldigen, und der Präsident des Landes signierte eine Artilleriegranate. Dann sagten sie, dass man den Philadelphia-Korridor nicht aufgeben könne und dass militärischer Druck die Geiseln befreien werde, und ich war erst zwanzig Jahre alt und glaubte daran. Und vor allem wollte ich ein guter Soldat werden. Ich erinnere mich, dass der Kommandant mir auf die Schulter klopfte, als ich ein Gebäude zum Einsturz brachte, und ich fühlte Stolz, aber auch ein bisschen Verlegenheit. Vielleicht kam das Gefühl der Verlegenheit auch später, ich bin mir nicht mehr sicher.“

Vielleicht wird es ein Kommandeur eines gepanzerten Bataillons sein. „Wir haben auf das Krankenhaus geschossen, weil sie sagten, es sei ‚הופלל – höflal‘ (wenn ein Gebäude oder ein Ort als „הופלל – höflal“ bezeichnet wird, bedeutet das im IDF- oder Sicherheitsjargon: dass es angeblich von Kämpfern genutzt wird). Im Nachhinein denke ich, dass wir genau das getan haben: Wir haben beschuldigt. Wir klagten an, und auch wenn es dafür nicht immer Beweise gab, verurteilten wir – oft war das Urteil der Tod. Aber dann dachten wir einfach, das seien die Befehle. Und, was nicht leicht ist, einzugestehen, wir hatten auch Angst. Darüber haben wir nicht mit den Militärreportern gesprochen, die hineingingen, und die Politiker, die uns geschickt haben, haben sich nicht allzu sehr darum gekümmert. Aber diese Angst, die ganze Zeit, die Angst und die angespannten Nerven – sie machen dich stumpf. Ich sah sie durch das Fernglas, wie sie in Fahrzeugkolonnen einher zogen, nichts hatten, alles verloren, und ich dachte an diese Bilder, mit denen wir aufgewachsen sind.

Man soll nicht vergleichen, aber Hand aufs Herz, das ist es, was mir in den Sinn kam. Du hast diese Dinge nicht unter Kontrolle. Aber was hätte ich eigentlich tun können? Wenn ich zurückblicke, scheint es mir, dass das, was ich am meisten befürchtete, war, dass meine Offiziere, sogar meine Soldaten, mich für yafeh nefesh [„schöne Seele“; abfälliger Slang für jemanden, der als zu moralisch oder naiv angesehen wird] halten würden, dass sie sagen würden, dass… Ich weiß es nicht. Das ist heute schwer zu erklären.“

Und vielleicht wird es eine IDF-Sprecherin sein, die in einem Beitrag in den sozialen Medien enthüllt, falls es sie in dieser Form noch gibt, dass sie eine Pressemitteilung verfasst hat, dass das Krankenhaus ein Hauptquartier der Hamas war. „Später hörte ich auf einem der Fernsehkanäle, wie die Erklärung, die ich verfasst hatte, ein Eigenleben entwickelte. Einer der Reporter sagte, das Krankenhaus sei ein „Wespennest“. Ich ging darüber hinweg. Und in all den Kolumnen, die ich seitdem in der Zeitung geschrieben habe, habe ich nie dazu Stellung genommen. Seltsam, nicht wahr?“

Vielleicht wird es einer jener Kommentatoren sein, an die man sich aus jener Zeit erinnert. „Du musst verstehen“, wird er sagen, „das war die Atmosphäre. Es kam von den Redakteuren und schließlich von den Eigentümern des Kanals. Und außerdem, wenn der IDF-Sprecher uns Informationen gegeben hat, hat er sie sicherlich zuerst überprüft. Schließlich zerstört man ein Krankenhaus nicht einfach so. Was sind wir, Tiere? Und doch, vielleicht hätte ich mehr sagen sollen. Ich hatte den Verdacht, dass wir Dinge taten – wie soll man sagen… Immerhin sind so viele Videos herausgekommen, Hunderte. Aber nein…“

Und ein älterer Mann wird seiner Enkelin erzählen, dass er während dieser Zeit wie gewohnt zur Arbeit gegangen ist. „Es ist nicht so, dass alles stehen geblieben wäre oder so. Jeden Tag wurden dort in Gaza Dutzende Menschen getötet, manchmal mehr als hundert, aber sie sprachen im Fernsehen nicht darüber. Ich meine, sie haben über Gaza gesprochen, aber nicht über diese Dinge. Sie sprachen hauptsächlich von „mächtigen Manövern“ und davon, wie viele Hamas-Mitglieder wir getötet hätten. Sie haben nicht gesagt, dass wir auslöschen, dass wir alles zerstören. Sie sagten nicht, dass wir die Menschen verhungern ließen, sondern nur, dass wir keine Hilfe hereinließen. Siehst du? Vielleicht haben wir deshalb nicht protestiert. Und dann kam der Krieg mit dem Iran und sie sprachen überhaupt nicht darüber. Sie hörten auch auf, über die Entführten zu sprechen, sogar über die Soldaten, die dort getötet wurden. Siehst du? Für die an der Spitze wurde das Leben billig, und wir? Ich glaube, wir haben uns daran gewöhnt.“

Eines Tages werden sie erzählen, was dort passiert ist. Zuerst ein bisschen, später etwas mehr. Viele weitere werden schweigen, aus Angst, sich selbst oder Kameraden aus ihrer Einheit zu kompromittieren. Nur wenige werden interessiert zuhören, viele mehr werden sich unbehaglich fühlen. Andere werden für den Rest ihres Lebens das Töten und die Zerstörung, die Vertreibung und den Hungertod rechtfertigen.

Wenn du die leiseste Befürchtung hast, dass du nicht einer von ihnen bist, dass du es eines Tages bereuen wirst; wenn du das Gefühl hast, auch nur vage, auf eine Weise, die nicht in Worte gefasst werden kann, dass mit jedem Tag, der vergeht, eine weitere Arterie in deinem Herzen blockiert wird, ein weiterer Teil deiner Seele zerstört wird – ignoriere es nicht, schweige nicht, stehe nicht daneben. Frag nach Gaza, sprich über Gaza, wende dich gegen das Töten. Entscheide dich für das Leben.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Ulrich Karthaus vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Avner Wishnitzer ist Mitbegründer von Combatants for Peace und Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv. Wir drucken mit seiner Erlaubnis diesen kürzlich für die hebräischsprachige Online-Publikation Local Call erschienenen Artikel ab.