Siegeswillen und Verachtung für die Diplomatie

von Richard Falk

Vorbemerkung: dies ist die dritte Wiederholung eines Essays, der zuvor auf Counterpunch und Transcend Media Service (TMS) online erschien. Das Hauptargument ist: kriegstreiberische Geopolitik im Nuklearzeitalter bedroht das Überleben unserer Spezies und unterdrückt die Notwendigkeit von Sofortmaßnahmen, mit denen man nachhaltige Formen der Bewohnbarkeit des Planeten Erde wieder herstellen kann.

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 bestand die Antwort der NATO, hauptsächlich formuliert und durchgeführt von den Vereinigten Staaten von Amerika, darin, Unmengen Öl ins Feuer zu gießen, den Konflikt anzustacheln, Russland und seinen Führer zu schmähen sowie das Ausmaß der Gewalt, das menschliche Leid und die Gefahr einer verheerenden Katastrophe zu steigern. Nicht nur, dass Washington die ganze Welt zu einer Verurteilung der russischen „Aggression“ verpflichtete, es lieferte auch noch einen unablässigen Strom moderner Waffensysteme in großen Stückzahlen an die Ukrainer, damit diese den russischen Angriffen standhalten und sogar Gegenangriffe starten konnten.

Die USA unternahmen alles in ihrer Macht Stehende, um in den Vereinten Nationen und anderswo eine breite Strafkoalition aufzubauen, die internationalen Sanktionen gegen Russland unterstützen sollte, und als dieser Versuch nicht genügend Unterstützer fand, griffen sie zu einer Reihe nationaler Sanktionen. US-Präsident Joe Biden brach das diplomatische Protokoll, indem er Wladimir Putin dämonisierte und ihn einen notorischen Kriegsverbrecher nannte, der nicht regierungsfähig sei, auf die Anklagebank gehöre und verurteilt werden solle. Dieser stetige aufwieglerische Strom staatlicher Propaganda wurde von sich selbst zensierenden westlichen Medien getreulich aufgenommen und verbreitet. Diese trugen so dazu bei, in der westlichen Öffentlichkeit eine Kriegsbegeisterung zu schüren, anstatt Rufe nach diplomatischen Lösungen.

Das geschah vor allem durch eine tägliche bildliche und lebhafte Darstellung der Kriegsgräuel, die die ukrainische Bevölkerung erleiden muss. Das war genau das Gegenteil dessen, was die Medien sonst bei Kriegsberichterstattung taten. Im Fall der US-geführten Interventionen zum Umsturz von Regierungen und der außergesetzlichen kollektiven Strafmaßnahmen Israels gegen die Palästinenser waren die Medien angewiesen, solche Berichte und Bilder nicht zu verbreiten.

Dieses ungebührliche provokative Verhalten wird, wenn man die weiteren strittigen Punkte betrachtet, unterstrichen von einem neu entdeckten west-orientierten Enthusiasmus für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Das Gericht wird gedrängt, möglichst schnell möglichst viele Beweise für mutmaßliche russische Kriegsverbrechen zu sammeln. Diese auf das Recht orientierte Haltung steht in Widerspruch zu der heftigen Ablehnung der Bemühungen des IStGH in der Vergangenheit, Beweise für Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen von Nicht-Signatarstaaten (Russland ist einer davon) im Zusammenhang mit der Rolle der USA in Afghanistan oder der Rolle Israels im besetzten Palästina zu sammeln. Bis zu einem gewissen Grad war eine solche Einseitigkeit der Darstellung zu erwarten und sogar gerechtfertigt angesichts der russischen Aggression, die zwar durch unverantwortliches Handeln provoziert wurde, aber dennoch einen Verstoß gegen die grundlegendste Norm des Völkerrechts darstellte.

Dennoch ist die Intensität dieser Reaktion der NATO bezüglich der Ukraine auf gefährliche Weise verwoben mit einem unverantwortlichen und amateurhaft geführten Krieg, den die USA gegen Russland und indirekt gegen China führen. Bislang ist das ein Krieg, der ohne Waffen gefochten wird, aber dennoch mit einer großen potentiellen Auswirkung auf die Struktur und die Prozesse der nach dem Kalten Krieg entstandenen Weltordnung, und der weiter kompliziert wird durch den Aufstieg Chinas zu einer Regionalmacht und wahrscheinlich sogar zu einem globalen Rivalen für die Dominanz der USA.

Solch ein geostrategischer Krieg verläuft unter unbekannten geschichtlichen Bedingungen. Er wird ohne jegliche Beachtung der allgemeinen Sicherheitsinteressen der Menschen geführt, und in einem tiefen und perversen Sinne sogar gegen das Wohlergehen und das Schicksal der Ukraine und ihrer Bevölkerung.

Obwohl diese Merkmale im Ukrainekrieg vorhanden sind, betrachten westliche Beobachter den Konflikt weiterhin mit einem zugedrückten Auge. Selbst Stephen Walt, ein moderater, vernünftiger, selbsternannter realistischer Kommentator US-amerikanischer Außenpolitik und derzeit ein umsichtiger und überzeugender Kritiker von Joe Bidens Versäumnis, sein Bestes zu geben, um den blutigen Zusammenstoß vom Schlachtfeld wieder zurück ins Feld der Diplomatie zu holen, selbst er stimmt in den Chor der Kriegslüsternen ein, indem er irreführend und ohne Einschränkung behauptet, „Russlands Invasion in der Ukraine ist illegal, unmoralisch und nicht zu rechtfertigen“ [Walt, “Why Washington Should Take Russian Nuclear Threats Seriously,” Foreign Policy, May 5, 2022]

Es ist nicht so, dass eine solche Charakterisierung falsch wäre, aber wenn sie nicht durch Erklärungen über die Zusammenhänge ergänzt wird, verleiht sie der auf Krieg gerichteten selbstgerechten Mentalität der Präsidentschaft Joe Bidens Glaubwürdigkeit, und schützt zugleich das Ausmaß des geopolitischen Krieges vor einer Überprüfung.

Vielleicht nahmen Walt und andere ähnlich gesinnte Autoren diese Haltung ein als taktisches Zugeständnis zu der Sicht Washingtons auf die Ukraine-Krise, das es ihnen ermöglichen sollte, einen faustischen Handel der Selbstgerechtigkeit als Auftakt vorzuschlagen für die Unterstützung einer diplomatischen Haltung zur Beendigung des Ukraine-Krieges und zur Aufgabe des höchst gefährlichen militaristischen Weges zu einem Sieg für die Ukraine und einer Niederlage für Russland.

Vielleicht formuliert Walt seine Argumente so, um einen Sitz am Tisch einflussreicher Zuhörer in Washington zu ergattern. Verständlicherweise in dem Glauben, dass ihre eindringlichen Warnungen vor den wachsenden Eskalationsgefahren und zur Verbesserung der Chancen der Befürwortung der Diplomatie sonst nicht einmal von den außenpolitischen Insidern, die die Regierung Biden/Blinken, beraten, Gehör finden würden.

Um es klar zu sagen: selbst wenn man behaupten kann, dass Russland/Putin einen Krieg losgetreten habe, der rechtswidrig, unmoralisch und ungerechtfertigt sei, so bleibt doch der weitere geopolitische Zusammenhang unabdingbar, wenn in der Ukraine Frieden wiederhergestellt und eine weltweite Katastrophe vermieden werden soll.

Zum einen kann der russische Angriff so falsch sein, wie es behauptet wird, dennoch entspricht er einem etablierten geopolitischen Verhaltensmuster, das die USA in einer Reihe von Kriegen weitgehend selbst geschaffen haben, beginnend mit dem Vietnamkrieg, und insbesondere in jüngerer Zeit mit dem Kosovokrieg, dem Afghanistankrieg und dem Irakkrieg. Keiner dieser Kriege war legal, moralisch und vertretbar, obwohl jeder von ihnen eine geopolitische Begründung hatte, die sie für die außenpolitischen Eliten der USA und ihre engsten Bündnispartner hinreichend erstrebenswert erscheinen ließ, dass sie es wert seien, geführt zu werden, obwohl sie diese Normen verletzten.

Natürlich ergibt zweifaches Unrecht kein Recht, aber in einer Welt, in der geopolitische Akteure eine Lizenz dazu haben, vitale strategische Interessen innerhalb traditioneller Einflusssphären zu verfolgen, ist es objektiv nicht vertretbar, Russland so selbstgerecht zu verurteilen, ohne zu berücksichtigen, was die USA seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt tun.

Anthony Blinken mag den Medien erzählen, dass die Einflusssphären der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit angehörten, aber er muss jahrzehntelang geschlafen und nicht bemerkt haben, dass das 1945 von der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich geschlossene Abkommen von Jalta über die Zukunft Europas gerade auf der ausdrücklichen Bekräftigung solcher Bereiche beruhte. Diese Bereiche haben im Rückblick, so geschmacklos es auch sein mag, ein gewisses Verdienst, sie haben nämlich den Kalten Krieg davor bewahrt, zur Katastrophe aller Katastrophen, den III. Weltkrieg auszuarten. Der wäre mit Atombomben geführt worden, die wesentlich stärker waren als die, welche die Städte Hiroshima und Nagasaki und ihre Bewohner auf so entsetzliche Weise in Schutt und Asche gelegt haben.

Eine derartige Beeinträchtigung der Souveränität dieser Grenzländer ist charakteristisch für die oft tragischen Vorrechte, die von sogenannten Großmächten in der Geschichte der internationalen Beziehungen beansprucht wurden, nicht zuletzt von den Vereinigten Staaten durch die Monroe-Doktrin und ihre Erweiterungen. In diesem Sinne befindet sich die Ukraine in der seit langem nicht beneidenswerten Lage Mexikos, ja ganz Lateinamerikas. Viele Jahre zuvor hatte der berühmte mexikanische Dichter Octavio Paz die Tragödie seines Landes mit den Worten beschrieben „so weit entfernt von Gott und doch so nahe an den USA …“

UNO und Völkerrecht als Vehikel der Geopolitik

Nachdem es George W. Bush 2003 nicht gelungen war, die Genehmigung des UN-Sicherheitsrats für den Einsatz von Gewalt gegen den Irak zu erhalten, die nicht der Verteidigung diente, sondern zu einem Umsturz der Regierung, erklärte er in einem aufschlussreichen Anfall von Frustration, dass die UNO ihre „Relevanz“ verlieren würde, wenn sie sich dem amerikanischen imperialen Aktionsplan nicht anschließen würde, und das hat sie auch getan.

Die Unklarheit in Bezug auf das Völkerrecht ergibt sich aus der Zweideutigkeit der UN-Charta, in der festgelegt ist, dass jede nicht zur Verteidigungszwecken dienende Gewaltanwendung verboten ist. Diese Position wird durch das geänderte Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs noch verstärkt, in dem „Aggression“ als Verbrechen gegen den Frieden erklärt wird, während den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats ein Vetorecht eingeräumt wird.

Wie kann dieses Vetorecht dieser fünf Staaten, das jede Entscheidung des Sicherheitsrats blockiert, die ihren strategischen Interessen zuwiderläuft, mit der UN-Charta und dem völkerrechtlichen Verbot von Angriffskriegen in Einklang gebracht werden?

Natürlich war Bushs Frustration insofern extremer, als er erwartete, dass der Sicherheitsrat seinen geplanten rechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak abnicken würde, d.h. in einem Anfall unipolarer Arroganz erwartete dieser US-Präsident, dass sogar die Vetomächte sich anschließen und der Angriffskoalition USA/Großbritannien durch die Zustimmung der UNO Legitimität verleihen würden. Als dies nicht eintrat, änderten die Vereinigten Staaten nicht ihre Kriegspläne, sondern griffen zu dem Mittel, die UN fallen zu lassen [finanziell auszutrocknen, Anm. d. Übers.].

Das Recht auf Ausnahmen, wie es im verfassungsmäßigen Rahmen der UN festgelegt ist, stellt keine seltsame Anomalie dar, und das Scheitern von Bushs Vorschlag war eine ungewöhnliche Abfuhr für die imperiale Geopolitik, die nach dem Kalten Krieg florierte.

Selten wurde bemerkt, dass solche Entwicklungen indirekt durch die Erfahrungen mit dem Völkerstrafrecht nach 1945 vorweggenommen wurden, das von den Nürnberger Prozessen bis heute dominante geopolitische Akteure von der Rechenschaftspflicht befreit hat, selbst für so unglaubliche Taten wie den Abwurf von Atombomben auf überwiegend zivile Ziele am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Diese Grauzone, die Gesetz und Macht von einander trennt, ist weiterhin eine allseits akzeptierte Spielwiese für geopolitische Akteure, die nie so gefährlich ist wie in Zeiten, in denen ihre Vorrechte, Ausrichtungen und Beschränkungen im Wandel begriffen sind.

Die Herausforderungen durch Russland und China kann man im besten Sinne als Versuch interpretieren, die geopolitische Bipolarität (oder verändert als Dreipolarität) wieder herzustellen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion zusammengebrochen ist.

Diese Situation führte dazu, das die Vereinigten Staaten das entstandene Machtvakuum mit einer militaristischen/neoliberalen Form geopolitischen Managements füllten, die aus der vollständigen Dominanz der Kriegsinstrumente und dem ideologischen Beharren darauf bestand, dass die Legitimität der internen politischen Ordnung eines souveränen Staates von der Befolgung einer marktorientierten Logik der Dominanz des Privatsektors im Inland und auf internationaler Ebene abhänge, dem so genannten „Konsens von Washington“.

Abgesehen von der Frage, wie und wann der Krieg in der Ukraine enden wird, ist die bedeutsame offene Frage, ob die geopolitische Weltordnung, die auf der Vorherrschaft der USA beruht, bestätigt oder verändert wird.

Wird sie bestätigt, wird die Dauer der Unipolarität, die auf den Kalten Krieg folgte, verlängert. Wird sie verändert, wird sie eine neue Ära der Geopolitik einleiten, die einen neuen Rahmen meta-rechtlicher Übereinkommen erfordert.

In jedem Fall besteht zusätzlich die Ungewissheit, ob die Weltordnung nach dem Ukrainekrieg auf Kooperation und auf die Produktion globaler Gemeingüter oder auf Streben nach Vorherrschaft und konfliktreiche Prioritäten ausgerichtet sein wird.

Geopolitische Praxis: Umsichtig oder unverantwortlich

Diese Erwägungen sollen Russland nicht verteidigen geschweige denn entlasten, sondern aufzeigen, dass der Kontext der Weltordnung, in deren Rahmen der Ukrainekrieg stattfindet, zutiefst problembehaftet ist in Bezug auf die normativen Autoritätsansprüche der USA/NATO, vor allem wenn sie auf so parteiische Weise erhoben werden. In den heutigen geopolitischen Beziehungen treten, anders als in normalen zwischenstaatlichen oder internationalen Beziehungen, Präzedenzfälle und Großmacht-Erfahrungen im Allgemeinen, zumindest in Fragen des Friedens, der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Wirtschaftspolitik, an die Stelle von Normen und regelgesteuertem Verhalten.

Was die USA als rechtmäßig für sich in Anspruch nehmen und tun, kann später von anderen souveränen Staaten auch getan werden, insbesondere von Staaten, die einen gewissen geopolitischen Anspruch haben. Anthony Blinken hat wieder einmal den internationalen Diskurs verfälscht, indem er die falsche Behauptung aufstellte, dass die Vereinigten Staaten im Gegensatz zu ihren Gegnern China und Russland sich an das regelgesteuerte Verhalten genau so hielten wie an die Regeln zwischen „normalen Staaten“, wenn es um lebenswichtige strategische Interessen gehe.

Um eine klarere und objektivere Perspektive über Aspekte des russischen Verhaltens in der Ukraine zu gewinnen, scheint es angebracht, auf den eindeutig rechtswidrigen NATO-Krieg von 1999 zurückzublicken. Dieser nicht-defensive Krieg, der nicht von den Vereinten Nationen genehmigt war, zerbrach Serbien, indem er das behauptete Recht des Kosovo auf Abspaltung, einschließlich politischer Unabhängigkeit und territorialer Souveränität mit Anwendung von Zwangsmitteln unterstützte.

Diesen Vorbildfall Kosovo sollte man berücksichtigen, bevor man die Annexion von vier Teilen der Ostukraine durch Russland kritiklos verurteilt, die angesichts des angeblichen serbischen Missbrauchs als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts rationalisiert und angeblich durch die Durchführung weithin verurteilter Referenden bestätigt wurde.

Doch auch hier ist ein Verständnis des vergangenen geopolitischen Verhaltens lehrreich. Der militärische Sieg der NATO wurde nicht von einem Referendum aufgehalten, bevor die Abspaltung des Kosovo vollzogen worden war.

Es geht nicht darum, alle Unterfangen, die ohne rechtliche Befugnis durchgeführt werden, zu verdammen, indem man anerkennt, dass es Extremfälle geben mag, in denen die Zerstörung bestehender Staaten aus humanitären Gründen gerechtfertigt sein kann, und andere, in denen das nicht der Fall ist. Aber zu behaupten, Russland habe die Grenzen des Rechts übertreten, in einem Kontext, in dem Macht in ähnlichen Fällen permanent das Verhalten und politische Ergebnisse geformt hat, das bereitet die Öffentlichkeit auf einen größeren Krieg vor, anstatt sie dazu zu bringen, einen diplomatischen Kompromiss zu suchen und dafür pragmatisch aufgeschlossen zu sein. In der Tat plädiere ich für die Weisheit und Tugend geopolitischer Demut und Selbstbeschränkung: Verurteile nicht von anderen, was Du selbst getan hast, oder erkläre zumindest ohne Anfeindungen, was der Unterschied zwischen sagen wir Donbas und Kosovo ist, der das erstere rechtswidrig und illegitim und das letztere rechtmäßig und legitim macht. Bei der Komplexität interner Kämpfe einer bedrängten ethnischen oder religiösen Minderheit ist es gleicherweise hilfreich, anzuerkennen, dass Moskau und Washington die gleichen Realitäten in Donbas und Kosovo gegensätzlich „sehen“.

Den Ukrainekrieg in diesen Zusammenhängen zu verstehen, ist meines Erachtens nach äußerst wichtig, da das Verständnis dazu führt, dass das derzeitige Sammeln moralischer, rechtlicher und politischer Begründungen für die Verurteilung, welches Aufmerksamkeit und Energie von ansonsten vernünftigen, umsichtigen und pragmatischen Vorgehensweisen abzieht, aufhört. Letztere haben von Tag Eins des Angriffs auf die Ukraine die kluge Einsicht unterstützt, dass alles für eine sofortige Waffenruhe und darauf folgende Verhandlungen über dauerhafte politische Kompromisse nicht nur zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch zwischen Europa/USA und Russland getan werden müsse.

Dass die US-Regierung bis zum heutigen Tag nie ein derartiges Interesse gezeigt hat, und noch weniger bemüht war, das Blutvergießen und die Zerstörung durch Unterstützung diplomatischer Ansätze zu stoppen, in Angesicht steigender Kosten und Eskalationsgefahren, die mit der Verlängerung der Kampfhandlung in der Ukraine verbunden sind. Solch eine geopolitische Rücksichtslosigkeit sollte das Gewissen aller friedensliebenden Menschen und Patrioten der Menschlichkeit überall auf der Welt aufrütteln.

Über die unmittelbaren Kampfgebiete hinaus tragen derzeit viele gefährdete Gesellschaften weltweit die katastrophalen Kosten, die durch die Übertragungseffekte (Spill-over) des Krieges entstehen, die durch die antirussischen Sanktionen und ihre starken Auswirkungen auf die Nahrungsmittel- und Energieversorgung und die Preisgestaltung noch verstärkt werden.

Eine zutiefst beklagenswerte Lage, die sich im Laufe des Krieges noch verschlimmern und sich in den kommenden Wintermonaten wahrscheinlich noch verschärfen wird. Darüber hinaus bringt sie nun auch den Einsatz von Atomwaffen in greifbare Nähe, da Putins Alternativen sich auf seine persönliche Bereitschaft verengen könnten, die Verantwortung für eine russische Niederlage zu übernehmen oder seinen Status als autokratischer Führer aufzugeben.

Obwohl Biden bei seinem aggressiven Vorgehen zur Durchsetzung der Siegesambitionen der Ukraine kein bisschen nachgibt, räumt er selbst ein, dass ein Einsatz auch nur einer einzigen taktischen Atomwaffe in der Ukraine mit ziemlicher Sicherheit zu einem Armageddon führen würde.

Diese paradoxe Dualität (eine Kombination aus der Eskalation des Krieges und der Angst davor, wohin er führen könnte) scheint eher eine sinnlose Umarmung geopolitischen Wahnsinns zu sein als eine ernüchternde Bilanzierung der widersprüchlichen düsteren Realitäten, um die es in der Ukraine geht. Wir können uns fragen, wann dieser Rip Van Winkle unserer Zeit die Augen aufmachen wird für die Realitäten des Atomzeitalters? [Rip van Winkle ist eine amerikanische Sagengestalt. Der Soldat Rip van Winkle kehrt nach dem Bürgerkrieg heim, unterwegs wird er von tiefer Müdigkeit befallen und legt sich unter einen Baum schlafen. Als er wieder erwacht, sind 20 Jahre vergangen und er findet sich in einer vollkommen veränderten Welt wieder, Anm. d. Übers.]

Wie immer: Taten sagen mehr als Worte. Angesichts zunehmender öffentlich – besonders in Europa ertönender Rufe nach Verhandlungen, antwortete Anthony Blinken mit seinen gewohnten schwachen Ausflüchten. In diesem Fall behauptete er, die Ukraine als Opfer der russischen Aggression habe das alleinige Recht, eine diplomatische Lösung zu anzustreben, und die USA würden weiterhin die maximalen Kriegsziele der Ukraine unterstützen, angeblich so lange es dauern möge und koste es was es wolle, einschließlich der Ausweitung des Krieges auf das Ziel der Rückeroberung der Krim, deren Wiedereingliederung nach Russland seit dem Jahr 2014 international weitgehend akzeptiert wird.

Auch in Bezug auf die Kriegsführung spielt der Kontext eine Rolle. Die große Eskalation innerhalb eines Monats nach der Sabotage der Nord Stream1 und 2 Gaspipelines nach Europa, die Blinken erneut durch diesen Sabotageakt außerhalb des Kriegsgebietes verwechselt, indem er sie als «eine enorme Chance» bezeichnete, Russland zu schwächen und Europa zu zwingen, seine Bemühungen, um Energieunabhängigkeit zu intensivieren.

Eine solche Operation, die von den USA ursprünglich – was nicht plausibel war – Russland zugeschrieben wurde, später aber mehr oder weniger als Teil der Ausweitung des Krieges anerkannt wurde, indem man sich auf den Begriff «terroristische» Kampftaktiken stützte.

Der letzte Akt von Staatsterrorismus ist der Selbstmordanschlag auf die strategisch wichtige Brücke über die Straße von Kertsch am 7. Oktober, zwischen der Krim und Russland, ein großes Infrastrukturprojekt aus Putins Regierungszeit, und ein symbolischer Ausdruck der Wiedereinbindung der Krim in Russland. Sie dient als Nachschubweg für die russischen Truppen, die in der Südukraine kämpfen. Diese Ausweitung der Kampfzone und Kampftaktiken über das Gebiet der Ukraine hinaus tragen die Handschrift der CIA und sollen offenbar der Ermutigung der ukrainischen Entschlossenheit dienen, alles für einen entscheidenden Sieg zu tun, und senden Putin unmissverständliche Signale, dass die USA gegenüber einer verantwortungsvollen Geopolitik des Kompromisses nach wie vor nicht empfänglich sind.

Biden weigert sich angeblich sogar, auf Putins Vorschlag, dass die beiden Staats- und Regierungschefs auf dem G20-Treffen in Indonesien über ihre Differenzen sprechen sollen, positiv zu reagieren. Seine charakteristische Antwort war eine trotzige Ablehnung, die nur noch einmal überdacht würde, wenn sich das Treffen auf die Aushandlung der Freilassung einer amerikanischen Profi-Basketballspielerin beschränkte, die in Russland wegen Drogendelikten festgehalten wird.

Der Zorn der USA über Saudi-Arabien wegen der Drosselung seiner Erdölförderung ist ein weiteres Zeichen des Festhaltens an einem Siegesszenario in der Ukraine sowie eine Reaktion auf den saudischen Widerstand gegen die US-Hegemonialpolitik bei der gemeinsamen Verwaltung der OPEC+ mit Russland.

Angesichts solcher Provokationen ist es wenig überraschend, dass Russland zurückschlägt, indem es seine Version von „Furcht und Schrecken“ auf die zivilen Zentren von zehn ukrainischen Städten loslässt, auch wenn es in höchstem Maße rechtswidrig und unmoralisch ist

Das sind die Teufelskreise der Eskalation, die für die Gesetzlosigkeit der großen Kriege charakteristisch sind!

Die Vernachlässigung der einschlägigen und beschämenden amerikanischen Präzedenzfälle im Irak und Afghanistan ist ebenfalls ein wesentlicher Faktor für die Aufrechterhaltung einer Kriegsmentalität im Belagerungszustand.

Schlussbemerkungen:

Immer lauert irgendwo in Hintergrund der geopolitische Opportunismus der USA, auf Kosten der Ukraine und der ganzen Welt. Das heißt das Streben, Russland zu bezwingen und China von dem Versuch abzuhalten, die vorherrschende Unipolarität, die nach dem Zerfall der UdSSR im Jahr 1992 eingetreten ist, in Frage zu stellen. Diese große Investition in ihre militaristische Identität als alleiniger „globaler Staat“ erklärt am besten die cowboyhafte Herangehensweise an die atomaren Gefahren und die zig Milliarden Dollar, die für die Unterstützung der Ukraine ausgegeben werden, und das in einer Zeit, in der internes Leid in den USA und anderswo mit einem so kostspieligen und gefährlichen Ausdruck internationaler Übermacht koexistiert.

Ein solch tragisches politisches Drama entfaltet sich, während die Völker der Welt und ihre Regierungen zusammen mit den Vereinten Nationen diesem schrecklichen Schauspiel zusehen und die Rolle scheinbar hilfloser Zeugen einnehmen, anstatt dem Gemetzel Einhalt zu gebieten, ihr Bestes zu tun, um das Übergreifen und die Armageddon-Gefahr einzudämmen oder wenigstens sinnvoll gegen den potenziell schwersten Schaden für ihr eigenes nationales Schicksal vorzugehen.

Der englische Originalbeitrag von Richard Falk ist auf seinem Blog richardfalk.org erschienen. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Publikation.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Annette Hauschild vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Richard Falk ist ein Wissenschaftler für internationales Recht und internationale Beziehungen, der vierzig Jahre lang an der Princeton University lehrte. Seit 2002 lebt er in Santa Barbara, Kalifornien, und lehrt an der dortigen Universität von Kalifornien Globale und Internationale Studien. Seit 2005 ist er Vorsitzender des Vorstands der Nuclear Age Peace Foundation. Er hat diesen Blog zum Teil anlässlich seines 80. Geburtstags ins Leben gerufen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden