Es schien, dass sich nie etwas in diesem Land ändern würde. Pinochets Diktatur, die bei weitem gerissenste, berechnendste und effizienteste von allen, versuchte nicht nur Linke und alle Andersdenkenden zu bekämpfen, sondern auch die Seele Chiles neu zu formatieren, mit einer kalkulierten faschistischen Ordentlichkeit und einer systematischen Eliminierung von allem Menschlichen aus dem nationalen Alltagsleben.

Ich erinnere mich an ein Graffiti aus den 1990er Jahren in Santiago, auf dem stand: „Chile denkt nicht, es produziert nur“. Zur gleichen Zeit, bei einem Besuch, schloss Jose Saramago: „Es ist ein Land der toten Lebenden und der lebenden Toten“. Es war eine verbrannte Erde, die steril, tot, unproduktiv erschien. Aber das entsprach nicht der Wahrheit.

Der Unmut entflammte erneut am 18. Oktober 2019 zum Leben, als Millionen Chilen*innenen in einem – auch für sie selbst – unerwarteten psychosozialen Phänomen auf die Straßen und Plätze im ganzen Land gingen, um Nein zu sagen zum brutalen Neoliberalismus, der in Chile seine Ursprung und sein Markenzeichen hat.

Im ganzen Land hat das Volk 5 Monate lang in einem ungleichen und mutigen Kampf gegen die Armee und die Spezialeinheiten der Polizei auf den Straßen Widerstand geleistet, und als die Pandemie kam, teilten die Sprecher*innen des Widerstands ihre Entscheidung mit, die Straßen für eine Weile zu verlassen, um die Gesundheit und das Leben zu schützen, denn das Leben ist das, wofür wir kämpfen.

Die Regierung von Sebastián Piñera, einem opportunistischen Geschäftsmann in Großbuchstaben, nutzte die Situation konsequent aus. Wenn Piñera das Gefühl der Dankbarkeit hätte, sollte er dem Coronavirus ein Denkmal setzen. Viele in Chile sind überzeugt, dass es gerade die Pandemie war, die ihn vor einem drohenden Sturz bewahrt hat. Unter dem Vorwand der Gesundheitskrise befindet sich das Land seit dem 18. März letzten Jahres im Ausnahmezustand, mit einer Ausgangssperre und dem Militär auf den Straßen, das jede Äußerung von öffentlichem Widerspruch unterdrückt.

Während dieser ganzen Zeit wurden das Dröhnen von Hubschraubern in der Nacht von Santiago und die Nachrichten von Folterungen in Polizeistationen und Ermordungen durch die Ordnungskräfte immer mehr zum Alltag und erinnerten viele Chilen*innen an die schlimmsten Jahre in der Geschichte des Landes.

Mit den Albträumen der Vergangenheit ist die systematische Repression gegen alles, was nach Graswurzelorganisation riecht, zurückgekehrt. Während sich die Bewohner von Armutsvierteln, die unter Hunger und allerlei Nöten leiden, wie in den Jahren von Pinochet, organisieren und Suppenküchen einrichten, greifen die Spezialeinheiten der Polizei genau diese Orte als militärische Ziele an.

Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich dabei nicht um isoliertes Fehlverhalten oder vereinzelte Exzesse handelt, sondern um die systematische Politik einer Regierung, die darauf setzt, die Menschen zu terrorisieren, die sich zum ersten Mal massiv gegen das chilenische kapitalistische Modell erhoben haben, das kürzlich so erfolgreich in der ganzen Welt bekannt gemacht wurde. Die repressiven Kräfte agieren völlig ungestraft mit der Unterstützung und Komplizenschaft der gesamten politischen Klasse, die wie immer und um jeden Preis versucht, jede grundlegende Veränderung zu verhindern.

Trotz der Tatsache, dass es aus offensichtlichen Gründen weniger Demonstranten gibt als zuvor, ist es der Regierung mit all ihrem Militär und ihrer Polizei offensichtlich nicht gelungen, die Straßen zurückzuerobern. Die Bevölkerung von Santiago und anderen chilenischen Städten befinden sich in einem Schwebezustand, bereit, sich jeden Moment wieder in Bewegung zu setzen. Das ist der Grund, warum die Autoritäten sich so fürchten und mit zunehmender Gewalt und Irrationalität reagieren.

Nach dem 18. Oktober 2019 wurden 8.581 Gerichtsverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen eingeleitet, die meisten davon gegen staatliche Akteure, wegen verschiedener Arten von Aggressionen, einschließlich Augenverletzungen und sexueller Gewalt. Von diesen Fällen wurden 46 % ohne Formalisierungen abgeschlossen. Allein in den ersten 5 Monaten der Proteste wurden etwa 460 Demonstranten in die Augen geschossen, als Folge von gezielten Schüssen durch die Carabineros. Außerdem wurden Dutzende von Menschen getötet, Hunderte gefoltert und Tausende verhaftet.

Diese Regierung zeigt weiterhin zunehmende Missachtung und Gleichgültigkeit gegenüber Dutzenden von Beschwerden und Berichten von verschiedenen internationalen und nationalen Menschenrechtsorganisationen. Die Aktionen der Carabineros werden immer verbrecherischer und sie versuchen immer weniger den Schein zu wahren. Die Brutalität des repressiven Vorgehens erreicht nun systematisch die Gesundheitsbrigaden und Menschenrechtsbeobachter*innen, die unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit die Opfer begleiten und die Aggressionen, denen sie ausgesetzt sind, dokumentieren.

Und offensichtlich ist das besondere Ziel der repressiven Kräfte die unabhängige Presse, die alleine Seite an Seite mit den Menschen steht, um zu berichten, was wirklich geschieht. Während die Mainstream-Medien mit dieser weltweiten Aufführung der Angst beschäftigt sind, erzählen unsere Journalist*innen, mit keinem anderen Kalkül als dem, was ihr Herz diktiert, weiterhin diese schöne Geschichte eines Volkes, das aufsteht und nicht gewillt ist die grausamen Geschichten der Vergangenheit zu wiederholen.

Hier präsentieren wir die Worte unserer lieben Kollegin, der chilenischen Journalistin Claudia Andrea Aranda Arellano, Korrespondentin der internationalen Agentur Pressenza und Mitarbeiterin von „Desinformémonos“, die in den letzten anderthalb Jahren viermal verhaftet wurde, das letzte Mal am 19. März 2021, als sie mitten in einem Einsatz ohne jegliche Begründung verhaftet, mehrere Stunden lang festgehalten, gefoltert und mit dem Tod bedroht wurde.

All diese Monate hat sie ihre Arbeit und ihre persönlichen Pläne pausiert, um in den Straßen von Santiago die chilenischen Protestbewegung zu begleiten, die mit oder ohne Pandemie weitergeht, trotz des Schweigens der Presse. Und ihr gilt unsere ganze Solidarität und Bewunderung.

In der Zwischenzeit bleiben die chilenischen Straßen, die einst vom Volk zurückerobert wurden, ein Territorium des Widerstands.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Jonas Jancke vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!