Rehuno interviewt Esperanza Fernández – Mitglied der „Marea Blanca Catalunya“ (Weiße Flut Katalonien), Krankenpflegerin und Mitglied der humanistischen Bewegung. Marea Blanca ist eine soziale Bewegung, die von etwa 60 Organisationen, welche im Gebiet Kataloniens aktiv sind, gemeinsam mit den „Mareas“ des spanischen Staatsgebiets ins Leben gerufen wurde. Ihre Ziele sind es, den Abbau gesundheitlicher Strukturen zu verhindern und die öffentliche Gesundheitsfürsorge zu garantieren – universell und hochwertig für die gesamte Bevölkerung.

Rehuno: Wann entstand „Marea Blanca“  in Katalonien?

Esperanza Fernández: Im Februar 2015 kam es zur Gründung, aber die Bewegung hat auch eine Vorgeschichte – die ersten Proteste gingen von den Gesundheitskürzungen aus, die 2011 von Artur Mas, dem Expräsidenten der Regionalregierung in Katalonien, initiiert wurden.

Artur Mas strich 5000 Stellen im Gesundheitssystems und verringerte dadurch die Zahl der Arbeitskräfte. Er bewirkte ebenso haushaltspolitische Kürzungen, die Katalonien aktuell auf den untersten Plätzen des „Rankings“ halten, das die autonomen Gemeinschaften miteinander vergleicht.

Einer der wesentlichen Anklagepunkte der Marea Blanca Catalunya (MBC) bezieht sich auf die Kürzungen in der medizinischen Grundversorgung. Im aktuellen Kontext von Covid-19, in welchem gesundheitspolitische Fragen im Vordergrund stehen und Dringlichkeit geboten ist – auf welche Weise wurden die von der MBC anprangerten Kürzungen spürbar?

Es ist zu bedenken, dass die medizinische Grundversorgung eine unabdingbare Voraussetzung für die öffentliche Gesundheit ist. Aus dieser können sich erst die unterschiedlichen, patientenbezogenen Maßnahmen ableiten. Die Personen stehen in direktem Kontakt zu ihren Ärzten und Ärztinnen, die innerhalb eines EAPs  (equipo de atención primaria – Team medizinischer Grundversorgung) zugewiesen werden, welche die Krankheitsbilder und Bedürfnisse ihrer Patient*innen kennen. Auf diese Weise wird die Qualität der gesundheitlichen Versorgung kontrolliert.

Als der Staat den medizinischen Notstand wegen Covid-19 verhängte, wurden sämtliche Aktivitäten der EAPs eingestellt. Überall etablierte sich die Kontaktaufnahme per Telefon, um mögliche Covid-19 Infektionen festzustellen, chronisch Erkrankte zu überwachen, die Resultate von Diagnosetests weiterzugeben und für akuten Gesprächsbedarf.

In diesem Moment gab es weder für Ärzte und Ärztinnen noch für das Pflegepersonal Handlungspläne.

Ein solcher Zustand beunruhigt die Marea Blanca (MBC) und sie fürchtet, dass –wie sie es bereits vor dem katalonischen Parlament angeprangert hat – die Art des Vorgehens am Ende dazu führen wird, dass ein Modell der telefonischen Betreuung umgesetzt wird, bei dem die Patient*innen von ihrem/r Arzt*in und der Pflegekraft weniger oder gar nicht mehr betreut werden.

Aber die telefonische Betreuung erleichtert auch den Kontakt und ermöglicht die schnelle Lösung des Problems – eine Präsenzuntersuchung ist nicht immer nötig. Siehst du das anders?

Für einige Fälle mag das stimmen, aber nicht generell. Zum Beispiel Magenschmerzen wirst du ohne Untersuchung mit dir herumschleppen müssen, was schwerwiegend sein kann – und nur wenn es sich wirklich als schwerwiegend herausstellt, wirst du besucht. Und wichtige Diagnosen können übersehen werden. Bei einem Präsenztermin in deinem Zentrum medizinischer Grundversorgung hingegen kennt dich das medizinische Personal bereits und wird dich sorgfältig untersuchen, was Diagnoseverfahren beschleunigt, bevor es akut wird. Dadurch wird die Entstehung von Notfällen vermieden.

Wie steht die MBC zu der Handhabung der Covid-19-Krise durch die Gesundheitsbehörden?

Sie war sehr chaotisch. Jeden Tag wurden neue Vorschriften improvisiert – mit gegensätzlichen Aussagen, die für Verwirrung unter den Fachkräften sorgten. Den EAPs fehlte es an EPIs (Teams für individuellen Schutz) – ein überall im Staat auftretendes Phänomen.

In Spanien haben sich, laut den Daten des Gesundheitsministeriums, zwischen dem 5. Juni und dem 8. August dieses Jahres 55´824 Fachkräfte infiziert, darunter 63 Todesfälle.

Gibt es einen offenen Dialog zwischen Gesundheitsbehörden und Primärversorgungsteams, um den aktuellen Gesundheitsnotstand anzugehen?

Überhaupt nicht. Sie wird ohne Berücksichtigung unseres Standpunktes verordnet und angeordnet. Zum Beispiel wurde in dieser Krise das Thema Covid-19 vorrangig behandelt, wobei andere wichtige und auch dringende Fragen der Gesundheitsversorgung ausgeklammert wurden.

Und auf welche andere Weise hätte man aus Sicht der Marea Blanca die Situation bewältigen können?

Man hätte, je nach Bedürfnis jedes Teams, zwei oder drei Ärzt*innen und Pflegekräfte festlegen könnten, die sich ausschließlich mit Covid-19-Betroffenen befassen und das übrige Personal hätte die übliche medizinische Versorgung weiterführen können – ohne drastische Änderungen vornehmen zu müssen.

Das katalanische Gesundheitsministerium hat sich jedoch für ein anderes Konzept entschieden.

Während des Lockdowns kamen die Menschen Tag für Tag hinaus auf ihre Balkone, um den Angestellten im Gesundheitswesen zu applaudieren – eine schöne, ermutigende Geste – doch später erfuhren wir von Kündigungen, Depressionen und Personalmangel in der öffentlichen Gesundheit. Was braucht unser Gesundheitssystem jetzt dringend?

Wie bereits gesagt, seit den Kürzungen im Jahr 2011 ist die medizinische Versorgung nicht mehr dieselbe. Es fehlt an Personal – durch Mutterschaft und Urlaubstage sind nie genügend Fachkräfte im Einsatz, was Arbeitsüberlastungen verursacht. Eine solche Situation führt zu Erschöpfung, chronischer Müdigkeit und Frustration, weil man den Patienten und Patientinnen in keiner angemessenen Weise gerecht werden kann.

Was wären momentan die wichtigsten Bereiche, die reformiert und mit finanziellen Mitteln unterstützt werden müssen?

Wir fordern eine Mittelausstattung für die medizinische Grundversorgung. Das Defizit in der Finanzierung wird seit 2011 mitgeschleift.

Das Gesundheitsministerium hat einen Plan zur Stärkung der medizinischen Grundversorgung aufgestellt – laut diesem wird es etwa 300 Millionen Euro in bessere Technologien und mehr Personal investieren, von jetzt an bis 2022.

Dieser Verbesserungsplan kommt spät und reicht nicht aus – die Kürzungen seit 2011, jährlich 350 Millionen und 3000 Fachkräften, werden nicht ausgeglichen. Nach wie vor vertagt man wirksame Antworten auf dringliche Situationen.

Dieses Defizit an Mitteln werden wir immer weiter mit uns tragen und die neoliberale Politik hatte angefangen, Kürzungen in der Gesundheit umzusetzen, um private Geschäfte voranzutreiben.

Wir haben einen großen Mangel an Ressourcen, der seit langem mitgeschleppt wird und die neoliberale Politik hat begonnen, die öffentliche Gesundheitsversorgung weiter zu kürzen, um die Privatwirtschaft zu fördern.

Wie seht ihr die Zukunft der öffentlichen Gesundheitsversorgung – die Bewegungen, die diese verteidigen und du im Besonderen?

Als größte Priorität sehen wir momentan, dass wir zum normalen Gang der Dinge zurückkehren, planmäßige Visiten mit eingeschlossen, und daneben öffentliche, universelle Gesundheit wertschätzen.

Marea Blanca ensteht gerade in neuen Städten und Kommunen. Wir müssen ein soziales Bewusstsein für die notwendigen Verbesserungen schaffen – alle müssen sich im Klaren darüber sein, was zu tun ist. Es kann nicht sein, dass sie uns vor unserer Nase ausrauben und wir kein Wort sagen.

Als Humanistin vertrete ich die Ansicht, dass das neoliberale System in den letzten Jahrzehnten die öffentlichen Dienstleistungen in ganz Europa zerstört hat, gänzlich ungestraft. Dadurch wurde das öffentliche System geschädigt und entmenschlicht.

Der Ausweg aus dieser Situation besteht darin, dass wir ein Bewusstsein für die Gemeinschaft entwickeln, uns solidarisch engagieren und von unserer Regierung eine gute Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten einfordern, die wir mit unseren Steuergeldern aufrechterhalten.

Das Interview wurde von Cloty Rubio geführt. Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Chiara Pohl vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!0