Die heutige Generation, die die Furcht vor einer direkten nuklearen Konfrontation nicht erlebt hat, hat dieses Gefühl der Angst verlernt, das nach der Explosion der Atombomben in Japan in Präsidentschaftsreden, Filmen, Musik und sogar in Katastrophenschutzprogrammen allgegenwärtig war.

Doch heute befinden wir uns in der gleichen Situation, vielleicht sogar noch schlimmer, und zu wenige sind sich der Fortdauer der Risiken bewusst. Vor zehn Jahren, am 20. April 2010, hielt der damalige Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Jakob Kellenberger, eine Rede mit dem Titel „Die Ära der Atomwaffen zu Ende bringen“, die eine kopernikanische Revolution im Kampf gegen die Bombe einleitete. Daraufhin wurde die Humanitäre Initiative gestartet.

Die Gedanken der französischen Philosophin Thérèse Delpech scheinen leider wahr zu sein: „Die Menschheit lernt nicht viel aus Ereignissen, die nicht geschehen. Sie muss Fehler machen und manchmal sogar Katastrophen erleben, weil sie diejenigen sind, die sie zwingen, neue Wege zu gehen“[i]. Nach der Atomkriegsuhr sind wir von diesem Fehler nur noch 100 Sekunden entfernt. Im Falle einer nuklearen Explosion kann alles zerstört werden. Und suchen Sie nicht nach Gesundheitspersonal, Gesichtsmasken oder Handdesinfektionsmitteln. Es wird zu spät sein.

Während der gesamten Zeit des Kalten Krieges, die von einem regelrechten Wettrüsten geprägt war, war die Angst so groß, dass die Wissenschaftler*innen versuchten, die führenden Politiker*innen der Welt vor den Folgen eines Atomkriegs zu warnen. Die so genannte Theorie des nuklearen Winters war geboren. Aber die „Berechnungen“ basierten auf der Annahme eines großen Atomkrieges. Im Jahr 2014, auf der Grundlage neuer Klimamodelle und neuer Daten, haben Wissenschaftler*innen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs an ihrer Studie über „Nukleare Hungersnot: zwei Milliarden Menschen sind gefährdet“ gearbeitet und gezeigt, dass anstelle einem massiven Atomkrieges der Einsatz von hundert Waffen bereits ausreichen würde, um eine Hungersnot zu verursachen, von der bis zu zwei Milliarden Menschen betroffen sein könnten. Paradoxerweise modernisieren oder erneuern alle Atommächte, obwohl die Gefahren bekannt sind, ihre Systeme. Frankreich zum Beispiel hat geplant, sein Abschreckungsmittel im Zeitraum 2019/2025 um mehr als 60% zu erhöhen.

Vor zehn Jahren jedoch geschah eine große Veränderung. Das rechtliche Vakuum, das der als Eckpfeiler der Nichtverbreitung von Kernwaffen geltende Atomwaffensperrvertrag (NPT) hinterließ, wurde offen in Frage gestellt.

Auch wenn die Entstehung dieser Bewegung auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen ist, können wir sicherlich einen Auslöser im Appell von Jakob Kellenberger sehen, der am 20. April 2010 lanciert wurde, als er erklärte: „Nach Ansicht des IKRK erfordert die Verhinderung des Einsatzes von Atomwaffen die Erfüllung der bestehenden rechtlichen Verpflichtungen zur Fortführung von Verhandlungen, die darauf abzielen, solche Waffen durch einen rechtsverbindlichen internationalen Vertrag zu verbieten und vollständig zu beseitigen“[ii].

Das Abschlussdokument der Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages (NPT) 2010, das von den 188 Vertragsstaaten im Konsens angenommen wurde, enthielt den folgenden wichtigen Satz: „Die Konferenz bringt ihre tiefe Besorgnis über die katastrophalen humanitären Folgen jeglichen Einsatzes von Atomwaffen zum Ausdruck und bekräftigt die Notwendigkeit, dass alle Staaten jederzeit das anwendbare Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, einhalten müssen“[iii]. Dies sind die Worte, die die so genannte „Humanitäre Initiative“ in Gang gesetzt haben.

Daraufhin wurde in den Abrüstungsgremien der Vereinten Nationen eine Dynamik geschaffen: drei große Regierungskonferenzen (Oslo 2013, Nayarit und Wien 2014) über die humanitären Folgen von Atomwaffen; zwei offene Arbeitsgruppen, die die multilateralen Verhandlungen über nukleare Abrüstung vorantreiben (2013, 2016), eine klare Selbstverpflichtung Österreichs, entschlossene Reden und Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen über „Die humanitären Folgen von Atomwaffen“, die im Laufe der Zeit von immer mehr Ländern unterstützt wurden.

Das Ziel bestand darin, die humanitäre Dimension in den Mittelpunkt des Themas der Prävention zu stellen und die Realität der humanitären, gesundheitlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen im Falle einer nuklearen Explosion jeglicher Art (durch Unfall, Fehleinschätzung, vorsätzliche Handlung) zu klären. Die wichtigste Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, war, dass es unwahrscheinlich ist, dass irgendein Staat oder eine internationale Organisation in der Lage wäre, auf die unmittelbare humanitäre Notlage zu reagieren, die durch die Explosion einer Kernwaffe verursacht wird, und dass es nicht möglich ist, solche Kapazitäten bereitzustellen, selbst wenn der Wille dazu bestehen würde.

Das Recht ist ein sich ständig weiterentwickelnder Prozess, aber das Recht kann nur vorankommen, wenn seine Akteur*innen daran ein persönliches Interesse finden. Dies gilt umso mehr für das Völkerrecht, bei dem sich die Staaten selten von den Interessen der internationalen Gemeinschaft als Ganzes leiten lassen. In letzter Zeit hat der Dialog mit NGOs, Akademiker*innen und Staaten, die sich für die nukleare Abrüstung einsetzen, dies möglich gemacht.

Anlässlich des 70. Jahrestages des ersten Einsatzes von Atomwaffen im Jahr 2015 erinnerte IKRK-Präsident Peter Maurer zu Recht daran, dass, wenn Atomwaffen „oft als sicherheitsfördernd dargestellt werden, insbesondere in Zeiten internationaler Instabilität“, in Wirklichkeit „Waffen, die katastrophale und irreversible humanitäre Folgen riskieren, nicht ernsthaft als Schutz der Zivilbevölkerung oder der Menschheit als Ganzes angesehen werden können“. Allerdings „sind Atomwaffen die einzige Massenvernichtungswaffen, bei denen wir immer noch mit einer rechtlichen Lücke konfrontiert sind“ [iv]. Die Rechtslücke, die in dem durch den Atomwaffensperrvertrag (NPT) festgelegtes Regelwerk oft angeprangert wurde, schien plötzlich durch ein globales und umfassendes Verbot von Atomwaffen gefüllt werden zu können.

Es ist genau dieses Bewusstsein, das die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2016 veranlasste, für die Resolution 71/258 zur „Fortsetzung der multilateralen Verhandlungen über nukleare Abrüstung“ zu stimmen. Diese Resolution sollte es ermöglichen, 2017 „eine Konferenz der Vereinten Nationen zu organisieren, um ein rechtsverbindliches Abkommen zum Verbot von Atomwaffen auszuhandeln, das zu deren vollständigen Abschaffung führt“.

Zum ersten Mal seit der Verabschiedung des Vertrags über das umfassende Verbot von Atomtests (CTBTO) im Jahr 1995 eröffnete die internationale Gemeinschaft die Möglichkeit, einen neuen Standard für Atomwaffen auszuhandeln und anzunehmen. Mit der Unterstützung einer großen Zahl an NGOs und der Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (International Campaign to Abolish Nuclear Weapon, ICAN) wurde am 7. Juli 2017 mit einer Mehrheit von 122 Staaten der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (TPNW) mit dem Ziel verabschiedet, Artikel VI des Atomwaffensperrvertrags zu stärken.

Der Atomwaffenverbotsvertrag wird nach Erreichen der Schwelle von 50 Ratifizierungen in Kraft treten und damit einen neuen internationalen Standard des positiven Rechts gegen Atomwaffen schaffen. Bis heute haben es 36 Staaten ratifiziert und 81 Staaten unterzeichnet.

In weniger als zehn Jahren haben Staaten, NGOs und Einzelpersonen einen neuen Weg zur nuklearen Abrüstung eröffnet. Der Atomwaffenverbotsvertrag braucht kontinuierliche und starke Unterstützung. Es ist an der Zeit, dass die Staaten, die ihren nationalen Ratifizierungsprozess eingeleitet haben, diesen beschleunigen. Es ist an der Zeit, dieser tödlichen Abhängigkeit endlich ein Ende zu setzen und eine neue Ära zu eröffnen, in der die Humanität im Mittelpunkt unserer Sicherheit stehen wird.

Von Catherine Maia und Jean-Marie Collin, übersetzt aus dem Englischen von Elena Heim vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!

[i] Delpech, T. (2005), L’ensauvagement. Le retour de la barbarie au XXIe siècle. Paris, Grasset/Fasquelle, p. 366.
[ii] Erklärung von Jakob Kellenberger, Präsident des IKRK, vor dem Diplomatischen Konsulat in Genf, 20. April 2010
[iii] https://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=NPT/CONF.2010/50%20(VOL.I)&Lang=F
[iv] https://www.icrc.org/fr/document/armes-nucleaires-mettre-fin-une-menace-pour-lhumanite


Catherine Maia: Professorin an der Fakultät für Rechts- und Politikwissenschaften der Universität Lusófona in Porto (Portugal), Gastprofessorin an der Sciences Po Paris (Frankreich)
Jean-Marie Collin: Expertin für nukleare Abrüstung, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des GRIP, Sprecherin von ICAN Frankreich