Jahrzehntelang wurden im Westen politische Dissidenten mit offenen Armen aufgenommen, weil sie in ihrem Kampf für die Menschenrechte von diktatorischen Regimes verfolgt wurden.

Heute aber müssen westliche Dissidenten selber um Asyl ersuchen, so wie Snowden in Russland oder bis vor kurzen Assange in der Ecuadorianischen Botschaft in London.

Denn der Westen hat selber begonnen, seine Dissidenten zu verfolgen, sie in politischen Schauprozessen mit drakonischen Strafen zu belegen und wie gefährliche Terroristen in Hochsicherheitsgefängnisse einzusperren, unter Bedingungen, die man nur als unmenschlich und entwürdigend bezeichnen kann.

Unsere Regierungen fühlen sich bedroht durch Chelsea Manning, Edward Snowden und Julian Assange, denn sie sind Whistleblowers, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, die uns handfeste Beweise geliefert haben für Missbrauch, Korruption und Kriegsverbrechen der Mächtigen, und die nun deshalb systematisch diffamiert und verfolgt werden.

Sie sind die politischen Dissidenten des Westens, und ihre Verfolgung sind die Hexenprozesse von heute, denn sie gefährden die Privilegien einer unüberwachten Staatsmacht, die außer Kontrolle geraten ist.

Der Fall von Manning, Snowden und Assange ist der wichtigste Testfall unserer Zeit für die Glaubwürdigkeit der westlichen Rechtstaatlichkeit und Demokratie und unseres Bekenntnisses zu den Menschenrechten.

In allen diesen Fällen geht es nicht um die Person, den Charakter oder allfälliges Missverhalten dieser Dissidenten, sondern es geht darum, wie unsere Regierungen mit der Enthüllung ihres eigenen Missverhaltens umgehen.

Wie viele Soldaten wurden zur Verantwortung gezogen für das Massaker an Zivilisten, welches im Video „Collateral Murder“ zu sehen ist? Wie viele Agenten für die systematische Folter von Terrorverdächtigten? Wie viele Politiker und CEOs für die korrupten, menschenverachtenden Machenschaften welche durch unsere Dissidenten ans Licht gezogen wurden?

Darum geht es hier. Es geht um die Integrität unserer Rechtsstaatlichkeit, die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie, und letztendlich um unsere eigene Menschenwürde und die Zukunft unserer Kinder.

Lasst uns das nie vergessen!

Über den Autor: Nils Melzer (Jahrgang 1970) ist Rechtswissenschaftler, Diplomat und Autor. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Zürich, unterrichtet Humanitäres Völkerrecht an der University of Glasgow und an der Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte in Genf. Melzer, der seit November 2016 UN-Sonderberichterstatter über Folter ist, verfasste mehrere Werke zum Thema Völkerrecht. Im Mai 2019 besuchte er den Journalisten Julian Assange im Gefängnis und verfasste daraufhin einen Bericht unter dem Titel Demasking the Torture of Julian Assange (deutsch: Demaskierung der Folterung von Julian Assanges). Diese bot er zur Veröffentlichung renommierten Printmedien in den USA, Großbritannien und Australien an. Keiner ging auf das Angebot ein.


Redaktioneller Hinweis:

Nils Melzer veröffentlichte seine Rede, die er am 27. November 2019 am Brandenburger Tor in Berlin auf der Skulptur Anything to say? (Gibt es etwas zu sagen?) hielt, auf Medium.com in Englisch und Deutsch.

Englisch: „Anything to say?“ – This is what I have to say!

Deutsch: „Anything to say?“ – Was ich zu sagen habe!

Neue Debatte hat die Rede wegen des herausragenden öffentlichen Interesses am Fall des verfolgten Journalisten Julian Assange übernommen und publiziert, und um die Solidarität mit Chelsea Manning, Edward Snowden und Assange zu unterstreichen.

#FreeAssange #FreeManning #FreeSnowden #WikiLeaks #Candles4Assange

Mit der Wanderskulptur „Anything to say?“ engagiert sich der italienische Künstler Davide Dormino für Courage und Informationsfreiheit. „Anything to say?“ ist eine lebensgroße Bronzeskulptur, die drei Figuren darstellt, die jeweils auf einem Stuhl stehen. Der vierte Stuhl ist leer, weil es der Stuhl ist, auf dem jeder Mensch stehen kann. Es ist derjenige, auf dem wir alle stehen können, um uns zu äußern oder einfach nur neben Edward SnowdenJulian Assange und Chelsea Manning zu stehen, die den Mut hatten, Nein zu sagen zur globalen Überwachung und zu den Lügen, die zu Krieg, Zerstörung und Leid führen.

Anything to say? – Was ich zu sagen habe!

Der Originalartikel kann hier besucht werden