Anregungen für eine sanfte Revolution durch Rückbesinnung auf unsere Verfassungswerte

1. Die Gemeinwohl-Ökonomie als Antwort auf drängende Herausforderungen

Der Klimawandel und die zunehmende soziale Spaltung unserer Gesellschaft mehren die Zweifel an unserer Wirtschaftsweise und unserem Konsumverhalten. In dem Maße, wie die Herausforderungen zur Zukunftssicherung zahlreicher und bedrohlicher werden, wächst die Verunsicherung und Überforderung auch bei den Verantwortlichen in den Kommunen, welche neuen Strategien und Maßnahmen geeignet seien. Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) bietet einen wertebasierten Orientierungsrahmen.

Die Gemeinwohl-Ökonomie versteht sich als ein ethisches Wirtschaftsmodell, das den Menschen und dessen Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt des Wirtschaftens stellt (vgl. www.ecogood.org.de). Ihre Vision zielt darauf ab, Ungleichheiten bei Einkommen, Vermögen und Macht maßvoll zu begrenzen, den Umweltverbrauch innerhalb der Regenerationsfähigkeit natürlicher Ökosysteme und der planetaren Grenzen zu halten und zukünftigen Generationen gleiche Lebenschancen wie den gegenwärtigen zu gewähren (vgl. Die Vision der GWÖ. Konsensierte Fassung der VI. Internationalen Delegiertenversammlung, Lissabon, 19. Mai 2018).

Der strategische Kern der GWÖ ist die Umdefinition dessen, woran üblicherweise Erfolg gemessen wird. Damit fordert sie eine Abkehr der rein fiskalischen Bewertung, wie sie auf der nationalen Ebene (mit dem Bruttosozialprodukt), auf der kommunalen Ebene (mit dem Haushaltsplan) und auf der Ebene des einzelnen Unternehmens (mit der Finanzbilanz) vorgeschrieben ist. Die GWÖ möchte der mit diesen Messinstrumenten einhergehenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche ebenso entgegentreten wie der in der Wirtschaft vorhandenen Tendenz zur Geldvermehrung um ihrer selbst willen. Gemäß der Vision der GWÖ strebt die Wirtschaft nicht mehr nach maximalem Profit, sondern nach dem Gemeinwohl.

Was zunächst revolutionär klingt, ist bei näherer Betrachtung eine Rückbesinnung auf unsere Verfassungswerte, vor allem auf die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 (2) Grundgesetz) und auf die Gemeinwohlbindung des Wirtschaftens, die in der hessischen Verfassung – und ähnlich auch in anderen Landesverfassungen – zum Ausdruck kommt: „Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Zu diesem Zweck hat das Gesetz die Maßnahmen anzuordnen, die erforderlich sind, um die Erzeugung, Herstellung und Verteilung sinnvoll zu lenken und jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ergebnis aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen“ (Art. 38 (1)).

Um die umwelt- und sozialschädlichen Auswüchse einer einseitig auf Profitorientierung ausgerichteten Wirtschaft zu vermeiden, sieht die GWÖ vor, Unternehmen danach zu bewerten, inwieweit sie sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und wieviel sie für das Gemeinwohl tun. Dazu hat sie als Ergänzung zur vorgeschriebenen Finanzbilanz eine Gemeinwohlmatrix (Abbildung 1) entwickelt, in der das bilanzierende Unternehmen die Einhaltung und Förderung von Werten wie Menschenwürde, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Mitbestimmung und Transparenz überprüfen und darlegen kann. Dazu wird analysiert, wie diese Werte in Bezug auf die wichtigsten Berührungsgruppen, also auf Kunden, Mitarbeitende, Lieferanten, Finanzpartner und das gesellschaftliche Umfeld gelebt werden.

Abbildung 1: Gemeinwohlmatrix (Version 5.0)

Quelle: https://www.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/gemeinwohl-matrix/

2. Die Rollen der Kommunen in der Gemeinwohl-Ökonomie

Die GWÖ bietet also neben der Vision eines ethischen Wirtschaftens mit der Gemeinwohlbilanz das passende Werkzeug für eine Realisierung. Was für gewinnorientierte Unternehmen gilt, sollte für die Gebietskörperschaften und alle zivilgesellschaftlichen Organisationen erst recht gelten. Insbesondere die Gemeinden als Trägerinnen der kommunalen Selbstverwaltung sind per se dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie müssen Belange von Mensch, Umwelt und Natur, Politik und Wirtschaft etc. berücksichtigen. Dabei sind sie mit ihrer Verwaltung und ihren Eigenbetrieben einerseits selbst wirtschaftliche Akteurinnen. Andererseits wirken sie an der Ausgestaltung von Regeln und Gesetzen für das Gemeinwesen mit. Im Rahmen der Gemeinwohl-Ökonomie ergeben sich daraus für die Gemeinden drei – sich ergänzende – Rollen.

Die Gemeinde als Vorbild

Die Gemeinde kann als Vorbild für Unternehmen, Vereine und sonstige Institutionen fungieren, indem sie sich zu den Werten der GWÖ aktiv bekennt und die eigene Verwaltung und/oder die wirtschaftlichen Betriebe im Gemeindebesitz bzw. mit Gemeindebeteiligung (z.B. Stadtwerke) einer Gemeinwohl-Bilanzierung unterzieht. Damit dokumentiert die Gemeinde, dass sie den Erfolg ihres Verwaltungshandelns nicht primär an finanziellen, sondern ebenso an sozialen und ökologischen Kennziffern misst. Sie übernimmt eine Vorreiterrolle für alle übrigen, vor allem privatwirtschaftlichen Organisationen vor Ort.

Zur Erstellung einer Gemeinwohlbilanz für die Gemeinde bzw. die Region wurde eine eigene Matrix inkl. Handbuch ausgearbeitet, die derzeit aktualisiert werden. Perspektivisch könnte das erzielte Ergebnis in der Gemeinwohlbilanz Auswirkung z.B. auf die Förderung durch die übergeordneten Gebietskörperschaftsebenen, also das Land, den Bund und die EU haben: Wenn eine Gemeinde viel für Mensch und Natur tut, soll sie auch entsprechende Erleichterungen gegenüber jenen Gemeinden genießen, die geringere Anstrengungen unternehmen. Dies könnte sich z.B. in einem höheren Fördersatz oder einer besseren Stellung im Finanzausgleich niederschlagen.

Die Gemeinde als Förderin der Gemeinwohl-Ökonomie

Auch ohne eigene Gemeinwohlbilanzierung kann sich eine Gemeinde für die GWÖ einsetzen. Sie kann als Förderin, Fürsprecherin und Multiplikatorin der Ideen und Werkzeuge der GWÖ wirken. Insbesondere im Rahmen ihrer Wirtschaftsförderung stehen der Gemeinde zahlreiche Möglichkeiten zur Verankerung der GWÖ zur Verfügung, z.B. die Bekanntmachung der GWÖ in den lokalen Medien, Veranstaltungen mit GWÖ-Pionieren aus der Unternehmerschaft etc.

Die Gemeinde als Hüterin der Gemeinwohl-Ökonomie

Schließlich können Gemeinden die Rolle einer Hüterin der GWÖ einnehmen. Denn als Teil des Staates setzt die Kommune rechtliche Rahmenbedingungen, mit der sie – vor allem durch ihre Satzungstätigkeit und das Vergaberecht – gemeinwohlorientierte Standards festschreiben und für deren Einhaltung sorgen kann. So können etwa bei der öffentlichen Ausschreibung Nachhaltigkeitskriterien als Zuschlagskriterium Berücksichtigung finden. Potenzielle Bieter mit einer guten Gemeinwohl-Bilanz haben dann einen Vorteil gegenüber solchen Unternehmen, die zwar kostengünstig, aber mit geringeren sozialen und ökologischen Standards arbeiten. Perspektivisch ist eine Bevorzugung von Unternehmen in Abhängigkeit ihrer Punktzahl in der Gemeinwohlbilanz denkbar.

Um den Umgang mit den GWÖ-Werten und mit den Bewertungsprinzipien der Gemeinwohlbilanz auch im kleineren Maßstab zu realisieren, empfiehlt sich die Durchführung einer Gemeinwohlprüfung für einzelne (Investitions-)Vorhaben in der Gemeinde, z.B. eine Infrastrukturmaßnahme oder eine Gewerbeansiedlung. Ein solcher „Gemeinwohl-Check“ bezieht in eine Investitionsentscheidung der Gemeinde Gemeinwohlwerte ein und schafft damit eine über die fiskalischen Aspekte hinausgehende, ganzheitliche Entscheidungsgrundlage. Auch bei der Vergabe von (Gewerbe-)Grundstücken durch die Gemeinde und der Wirtschaftsförderung kann ein gemeinwohlorientierter Kriterienkatalog erstellt werden, der als transparente Entscheidungsgrundlage dafür sorgt, dass das Unternehmen bzw. die Bürger mit dem stärksten Beitrag zum Gemeinwohl den Zuschlag erhalten. Die gleiche Logik kann auf die Ausgestaltung kommunaler Satzungen übertragen werden, etwa im Rahmen der Bauleitplanung.

Die drei möglichen Rollen der Gemeinde in der GWÖ sind in Abbildung 2 zusammengestellt.

Abbildung 2: Die drei Rollen der Gemeinden in der GWÖ

Quelle: https://www.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/gemeinden/

3. Die Gemeinwohl-Ökonomie als Bewegung und ihre ersten Erfolge

Die GWÖ ist eine weltweite Bewegung der Zivilgesellschaft. Sie wurde initiiert von dem Österreicher Christian Felber, dessen Buch „Gemeinwohl-Ökonomie“ 2010 erstmals erschien und inzwischen in zahlreichen Sprachen und mehreren Auflagen vorliegt. Die GWÖ wird getragen von rund 11.000 Unterstützern. In über 150 Regionalgruppen und themenspezifischen Arbeitskreisen engagieren sich über 4.000 Aktive. Insgesamt gibt es ca. 30 GWÖ-Vereine, 500 bilanzierte Unternehmen und andere Organisationen, knapp 60 Gemeinden und Städte sowie 200 Hochschulen weltweit, die die Vision der GWÖ befürworten, verbreiten, umsetzen und weiterentwickeln. (Die Zahlenangaben in diesem Absatz stammen aus: Gemeinwohl-Ökonomie , Erst-Info – Stand: 05/2019, www.ecogood.org.). Die aus der Bewegung hervorgegangenen Regionalgruppen informieren, motivieren, unterstützen und begleiten Akteure in Wirtschaft und Politik, in Kultur- und Bildungseinrichtungen und tragen so entscheidend zur Verbreitung der GWÖ bei. Die GWÖ-Vereine wiederum schaffen die rechtliche und finanzielle Basis für die Bewegung.

In Deutschland gibt es auf allen Ebenen Initiativen, die Idee der GWÖ in politische Prozesse einzubinden. So integrierten Baden-Württemberg (2016) und Hessen (2018) die GWÖ in ihre Regierungsprogramme. Auch auf regionaler Ebene kam es zu entsprechenden Aktionen, so hat der Kreis Höxter in Nordrhein-Westfalen die GWÖ in ein LEADER-Projekt integriert, der Landkreis Marburg-Biedenkopf hat die GWÖ in seine Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen. Einige Kommunen haben Eigenbetriebe bilanziert, etwa die Landeshauptstadt Stuttgart mit vier städtischen Betrieben oder auch die Stadt Mannheim, die unter anderem für das kommunale Technologiezentrum MAFINEX eine Gemeinwohlbilanz erarbeiten lässt. Derzeit erstellen die Stadtwerke Marburg ihre erste Gemeinwohlbilanz. Die ersten zertifizierten Gemeinwohl-Gemeinden im deutschsprachigen Raum sind die Gemeinden Mäder und Nenzing in Vorarlberg, Kirchanschöring in Bayern sowie Klixbüll, Breklum und Bordelum im Nordfriesland.

Diese ersten Erfahrungen deuten an, dass die Gemeinwohl-Ökonomie als Orientierungsrahmen gerade auf der kommunalen Ebene einen wertvollen Beitrag leisten kann, um so große Zukunftsaufgaben wie den Klimaschutz, die soziale Integration oder die Stärkung unserer Demokratie zu bewältigen.

 

Josef Rother, Diplom-Geograf und Organisationsentwickler, arbeitet als Kommunalberater beim Marburger Unternehmen GEFAK. Die GEFAK berät bundesweit über 250 kommunale und regionale Wirtschaftsförderungs-einrichtungen und hat 2019 ihre zweite eigene Gemeinwohlbilanz erstellt (vgl. www.gefak.de). Josef Rother ist Mitinitiator der GWÖ-Regionalgruppe Lahn-Eder, GWÖ-Berater und Mitglied im internationalen AK Gemeinden der GWÖ. Kontakt: Josef Rother – rother@gefak.de

 

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