Der Präsident der chilenischen Lehrergewerkschaft Mario Aguilar engagiert sich für bessere Bedingungen für Lehrer, damit sie ihre Schüler unterstützen können und es ihnen so ermöglichen, ihr volles Potenzial als Menschen zu entfalten. Das ist die Rolle, die Erziehung aus humanistischen Sicht haben sollte.

Dieses Interview wurde während des Europäischen Humanistischen Forums geführt. Mario Aguilar nahm als Lehrer an der Arbeitsgruppe Humanistische und Gewaltfreie Erziehung teil.

Untenstehend die deutsche Übersetzung des Interviews (Video in Originalsprache Spanisch; auf Youtube mit englischen Untertiteln verfügbar)

Nun, die Essenz unserer Arbeit ist es, die wahre Bedeutung von Erziehung zu retten. Die Etymologie des Wortes Erziehung kommt aus dem Althochdeutschen „irziohan“, was soviel wie „herausziehen“ bedeutet; es lehnt sich an das lateinische Vorbild „educere“ an, was wörtlich „herausziehen, herausführen“ bedeutet.

Der Mensch bringt etwas mit sich und das ist auch eine Sichtweise, die der Humanismus teilt. Der Mensch bringt seine Ausrüstung mit, sein Potenzial, das in jedem vorhanden ist, und wenn man einen Menschen „erzieht“, so zieht man dieses Potential aus ihm heraus, bringt es hervor, sodass es sich entwickeln kann.

Es geht also ums Hervorbringen, darum, dass sich das Potential ausdrücken kann und so der Mensch seiner maximalen Entwicklung folgen und sein persönliches Potential entfalten kann, angefangen bei der Fähigkeit, eigene grundlegende Bedürfnisse zu decken, bis hin zu Themen wie Transzendenz und spirituelles Wachstum.

All das ist der Grund für und die Ursache von echter Erziehung im wahrsten Sinne des Wortes, aber leider ist die Erziehung heutzutage trivialisiert worden.

Deshalb liegt für uns Humanisten das Ziel dessen, was wir tun, in der Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Lehrer, sodass sie tatsächlich Erziehung in diesem Sinne leisten können. Denn echte Erziehung gibt Kindern die Möglichkeit, ihr Potential zu entwickeln, das in jedem Menschen steckt.

Der Sinn der Erziehung – und das ist etwas, was wir auch im Buch „Die Pädagogik der Intentionalität“ finden, das wir zusammen mit Rebecca Bize geschrieben haben – liegt darin, dass Menschen ihre Fähigkeiten so entwickeln, dass sie an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben, wenn sie ins Erwachsenenalter eintreten, ihr Lebensprojekt autonom verwirklichen können, und zwar so transzendent wie möglich, hin zu den höchsten Aspekten des Menschseins, was letztendlich mit ihrer eigenen spirituellen Entwicklung gleichzusetzen ist.

Dieses Unterfangen ist etwas sehr Bedeutendes für den Humanismus und es ist meiner Meinung nach auch der Zweck von Erziehung.

Wie wir heute morgen im Vortrag der Arbeitsgruppe gehört haben, ist Erziehung heutzutage aber auf Produktivität ausgerichtet, auf ein wirtschaftliches Modell hin und um Arbeitskräfte für dieses Wirtschaftsmodell zu schaffen.

Es ist eine standardisierte Erziehung. Und damit meine ich, dass es dabei lediglich um quantitative Ergebnisse geht. Aber das hat nichts mit „Potential hervorbringen“ zu tun. Das ist nicht der wahre Zweck von Erziehung. Und deshalb liegt unser Engagement, auch als Lehrergewerkschaft, in der Rettung der Essenz von Erziehung, und zwar mit und über die Lehrer.

Übersetzung aus dem Englischen von Evelyn Rottengatter