Die Schweizer Stimmberechtigten werden bald über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) abstimmen. Dieser Pauschalbeitrag soll jedem und jeder monatlich ausbezahlt werden, eine bescheidene Existenz und die Teilhabe am Sozialleben ermöglichen. Was sind die Vorteile des BGE? Welche Änderung der Sichtweise enthält diese Lösung? Gespräch mit Julien Dubouchet-Corthay, Vorstandsmitglied von BIEN-Schweiz und Zentralsekretär des Westschweizer Zweigs von Pro Mente Sana.

Interview von Magali Corpataux, Secrétaire romande, AGILE.CH

Was macht das BGE revolutionär?

In erster Linie die Bedingungslosigkeit, und das in dreierlei Hinsicht, was interessant ist. Das BGE ist individuell, d.h. nicht an die Zusammensetzung eines Haushalts gebunden; es ist nicht abhängig von der Höhe des Einkommens, weil es vor jeder anderen Einkunft zustande kommt und von keiner Fähigkeit oder Unfähigkeit, dieses Einkommen zu generieren, abhängt. Und schliesslich verlangt es keine Gegenleistung.

Die Unterschriftensammlung war ein Erfolg. War das eine Überraschung, da die Initiative doch von keiner der traditionellen Parteien getragen wurde?

Die Unterschriftensammlung wurde hauptsächlich virtuell durchgeführt, v.a. über die Social Media. Der Umstand, dass sie von keiner politischen Gruppierung organisiert worden war, half, parteigebundene Debatten zu vermeiden. Mit seiner Einfachheit und seinem Ausmass begeistert der Vorschlag ein breites Publikum: Er skizziert eine zukünftige Welt, die vielen Menschen Lust macht, insbesondere den ganz Jungen.

Entspricht das BGE den sozialen Risiken des 21. Jahrhunderts besser als unser aktuelles soziales Netz?

Viel besser. Das BGE gibt endlich eine Antwort auf die einzig sinnvolle Frage, die da lautet: «Wie kompensiert man Einkommensverluste von Einzelpersonen?» Die Frage lautet nicht: «Ist er/sie geschieden, krank oder behindert?»

Was macht das BGE zu einer würdigen Lösung für Menschen mit Behinderung?

Erstens richtet es ein gemeinsames System ein. Es behandelt Menschen mit und ohne Behinderung gleich. Zum Beispiel gäbe es kein Bitten, Rechtfertigen, medizinisches Argumentieren mehr, um eine IV-Rente zu erhalten. Nebenbei gesagt, gäbe es schönere Ausdrücke als «Invalidenversicherung», wenn es um die Selbstachtung geht. Zweitens würden die zahlreichen Menschen, die einen legitimen Anspruch auf Unterstützung haben, aber heute keine entsprechenden Schritte unternehmen – da zu kompliziert, zu erniedrigend –, ebenfalls das BGE erhalten. Aus diesem Blickwinkel ist das BGE ein wesentlicher Schritt in Richtung Inklusion. Drittens ist die IV ein in mancherlei Hinsicht überholtes System, insbesondere wenn es um Menschen mit einer psychischen Erkrankung geht. Auch wenn sie oft völlig genesen, so ist der Weg zur Genesung doch kein langer, ruhiger Fluss. Auf Phasen mit Krisen folgen stabile Perioden, während denen es durchaus möglich ist zu arbeiten. Die IV ist indessen nicht für solche Sachlagen gedacht.

Tut das BGE nicht den Arbeitgebern einen Gefallen, die wenig Druck erfahren, Menschen mit Behinderung einzustellen? Es wäre doch einfach, sich auf diese Entschädigung zu berufen, damit man um alles, was zugunsten von Mitarbeitenden mit Behinderung wäre, herumkommt.

Okay, lassen Sie uns darüber diskutieren, wenn sich die Arbeitgeber um Menschen mit Behinderung zu reissen beginnen! (lacht) Aber im Ernst: Seit langem bezahlen die Arbeitgeber lieber Sozialabgaben, als dass sie Menschen mit Behinderung integrieren. Zurzeit, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, ist es illusorisch, eine signifikante Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten. Der Arbeitsmarkt, der heute übrigens einen ziemlich unzutreffenden Namen trägt. Wie jeder Markt sollte er eigentlich den Gesetzen von Angebot und Nachfrage entsprechen. Tatsächlich aber herrschte nie zuvor ein solches Ungleichgewicht zwischen Angestellten, die eine Stelle dringend nötig hätten, um leben zu können, und Arbeitgebern, die aus ihrer Position der Stärke heraus in einem unerschöpflichen Teich fischen können! Wir appellieren an das Verantwortungsbewusstsein für Menschen, die keine Wahl haben. So ist die Garantie für ein bedingungsloses Einkommen ein echtes Empowerment für alle – egal ob sie bei guter Gesundheit sind oder nicht!

«Die Arbeit war sein Leben» galt lange als höchste Würdigung eines Verstorbenen. Ist jetzt Schluss mit dem geheiligten Wert der Arbeit?

Das BGE betrifft nur die bezahlte Arbeit, die nur einen ganz kleinen Teil dessen ausmacht, was man Arbeit nennt! Ich verstehe, dass für viele die bezahlte Arbeit als Mittel, den Lebensunterhalt sicherzustellen, den Status absoluter Legitimität geniesst. Für diese Menschen ist es undenkbar, ein Einkommen zu erzielen, ohne sich dieser Norm zu unterwerfen. Trotzdem ist diese Hegemonie der Arbeitnehmerschaft ziemlich neu in der Geschichte. Indem das BGE jedem und jeder die Wahl lässt, einer bezahlten Arbeit nachzugehen oder nicht, gibt es der Arbeit ihren ganzen Nimbus im edelsten Sinn zurück. Es ist ein Konzept, das den Begriff Arbeit völlig frei macht.

Manche halten das BGE für eine Alternative zum kapitalistischen Modell, das vom Kurs abgekommen ist…

Mit dieser Ansicht bin ich nicht einverstanden. Das BGE an sich enthält kein Gesellschaftsmodell. Es schlägt lediglich vor, von der traditionellen Arbeitnehmerschaft abzukommen – und der Moment dafür ist günstig: Wenn wir am Ende von etwas angelangt sind, dann sind das die langen Berufslaufbahnen, in denen man mit 15 einen einzigen Beruf erlernt hat und den man dann während 50 Jahren in ein und derselben Firma ausübt. Der Vergangenheit gehört auch das Familienmodell an, in dem sich die Vaterfigur während 60 Jahren des Zusammenlebens um die Bedürfnisse der Ehefrau und der 2.5 gemeinsamen Kinder kümmert. Wie viele Eineltern- oder Patchwork-Familien finden sich in der Armut wieder, nicht zuletzt weil die Frau sich während Jahren der Erziehung der Kinder gewidmet hat und nicht mehr – oder nur schwer – auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar ist? Das BGE entspricht ganz klar dieser Art von Zusammenhängen; so gesehen, gibt es kein «gewolltes» Modell für das BGE.

Welche Kosten brächte das BGE mit sich? Gibt es gangbare Wege zu seiner Finanzierung?

Die Kosten hängen natürlich von der Höhe des BGE ab, aber wenn man von 2500 Franken pro erwachsene Person und einem Viertel davon pro Kind ausgeht, dann kommen wir auf rund 200 Milliarden, d.h. einen Drittel des Bruttoinlandprodukts. Die notwendigen Mittel sind also vorhanden. Aber Obacht: Das BGE ist nicht zu betrachten als «200 Milliarden-Politik». Es geht um eine Neuverteilung der Karten! Zum Beispiel werden bedeutende Transfers vorzunehmen sein, insbesondere von der AHV und der IV zum BGE. Der Finanzierungsmodus wird vom Parlament zu beschliessen sein.

Wo stehen die Parteien in diesem Thema?

Keine Partei unterstützt die Initiative offiziell, auch wenn bei manchen Gruppierungen gewisse Persönlichkeiten dafür sind. Einige Umweltorganisationen haben ihr Interesse bekundet.

Zusatzfrage: Nehmen wir an, morgen ist Abstimmungssonntag. Mit welchem Killerargument überzeugen Sie die Unentschlossenen?

Oh je! Es ist schwierig, nur ein einziges Argument anführen zu dürfen, weil jede/-r für unterschiedliche Argumente empfänglich ist. Aber sei’s drum! Ich möchte wirklich betonen, dass das BGE eine pragmatische Lösung ist – und absolut nicht utopisch, wie oft behauptet wird. Bereits heute gibt es ein garantiertes Grundeinkommen, weil die Verfassung in gewisser Weise darüber wacht, dass jede/-r genug zum Leben hat. Diese Garantie greift indessen im Nachhinein. Das BGE bietet sie von vornherein. Mit einem zentralen Interesse: Die Art, wie Wohlstand zugeteilt wird, zählt hier ebenso viel, wie der Wohlstand selbst. Bisher hat man Sicherheit verschafft, indem man sie übertrug. Das BGE ist demgegenüber entschieden ein Werkzeug der Freiheit und Würde.

Weitere Informationen:

  • www.bien.ch Basic Income Earth Network – Switzerland. Enthält den Blog von Julien Dubouchet Corthay
  • www.bedingungslos.ch, Website des Initiativkomitees

Der Originalartikel kann hier besucht werden