„Kapwa ist die Anerkennung einer gemeinsamen Identität, eines inneren Selbst, das man mit anderen teilt. Die philippinische sprachliche Einheit von Selbst und dem Anderen ist einzigartig und unterscheidet sich von den meisten modernen Sprachen. Warum? Weil in einer solchen Inklusivität die moralische Verpflichtung liegt, einander als gleichberechtigte Mitmenschen zu behandeln. Wenn wir das schaffen – und sei es nur in unserer eigenen Familie oder unserem Freundeskreis –, sind wir auf dem besten Weg, Frieden zu praktizieren. Wir sind Kapwa-Menschen.“ – Professor Virgilio Enriquez, Gründer von Sikolohiyang Pilipino.
Pakikipagkapwa: Das bedeutet, mich mit anderen zu verbinden, mich im anderen zu fühlen und ein Gefühl der gemeinsamen Identität und des gemeinsamen inneren Selbst zu haben. Dieses Gefühl, eine gemeinsame menschliche Identität, Gemeinschaft und ein gemeinsames Schicksal zu haben, liegt tief in unserer Psyche … Es ist die Übersetzung einer universellen Wahrheit in unserer besonderen Kultur und Geschichte, die uns sagt, dass wir andere so behandeln sollen, wie wir selbst behandelt werden wollen, weil wir in unserem innersten Kern eine gemeinsame Menschlichkeit haben.
Ich kann nicht anders, als darüber nachzudenken, wie mächtig dieses tief verwurzelte, uralte philippinische Gefühl sein kann, wenn es neu entfacht und in die Tat umgesetzt wird – in unseren Häusern, unseren Gemeinden, unseren Schulen oder an unseren Arbeitsplätzen und ja, insbesondere in unserem heutigen gesellschaftlichen und politischen Leben.
Dieses Gefühl einer gemeinsamen Identität spiegelt sich in vielen Wörtern der Sprache Tagalog wider, Wörtern, die Gefühle und Empfindungen ausdrücken, die auf einer unterschwelligen Ebene mitschwingen.
Kababayan bedeutet Landsmann; Wortstamm: bayan, Land. Wenn Filipinos andere Filipinos treffen, entsteht sofort eine Art Wiedererkennung und Verbundenheit, weil wir eben kababayan sind.
Kaakbay bedeutet unterstützen. Das Wort „akbay“ ruft Bilder eines Schulter-an-Schulter-Tragens hervor.
Kaibigan bedeutet Freund; das Wort „ibig“ bedeutet lieben.
„Kasama“ bedeutet jemand, mit dem ich zusammen bin; das Wort stammt vom Stamm „sama“, was „zusammen sein“ oder „mit jemandem sein“ bedeutet.
Kaanak bedeutet Angehörige; das Wort „anak“ bedeutet Söhne und Töchter.
Die philippinischen Medien haben sich diese tiefe Bedeutung dieser Wörter für die philippinische Psyche zunutze gemacht. Ein Fernsehsender ist als Kapuso bekannt, was so viel bedeutet wie „im Herzen eins sein“. Sein Konkurrent ist der Sender Kapamilya Network, was so viel bedeutet wie „zur selben Familie gehören.“ Kapwa Ko, Mahal Ko (Liebe meinen Mitmenschen) ist ein jahrzehntelanges öffentlich-rechtliches Programm, das den Armen und Bedürftigen Hilfe leistet.
Bei der Erforschung der Herkunft des Wortes „Kapwa“ bin ich auf Folgendes gestoßen. Es scheint, dass das Wort aus zwei Wörtern entstanden ist:
Ka – eine Vereinigung, die sich auf jede Art von Beziehung bezieht, eine Vereinigung mit allen und allem.
Puwang – Raum.
Das Wort Kapwa verweist auf den „Raum“, den wir mit anderen als Mit-Filipinos und Mitmenschen teilen, wobei wir diesen „Raum“ sowohl als psychischen als auch als physischen Raum wahrnehmen. Und damit können wir uns eine Zeit vorstellen, in der das Leben und die Arbeit gemeinschaftlicher waren. Wenn unsere Vorfahren nach getaner gemeinsamer Arbeit im Kreis saßen, vielleicht um ein Gemeinschaftsfeuer herum, unter einem sternenklaren Nachthimmel, vielleicht Reiswein tranken, während sie über die Belange des Dorfes diskutierten oder einfach ihre Geschichten austauschten.
Die Liste der philippinischen oder Tagalog-Wörter, die mit dem Präfix ka- beginnen, ist lang. Ich bin zwar kein Linguist, aber es signalisiert das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit, das die philippinische Persönlichkeit ausmacht. Mit der Ankunft westlicher Kolonisatoren – zuerst der Spanier, dann der Amerikaner – wurde dieses Gefühl der gemeinsamen Identität im Laufe der Zeit unterdrückt und durch westlichen Individualismus und westliche Werte sowie eine Weltanschauung, die sich vom anderen trennt, überlagert.
Laut Professor Enriquez ist Kapwa die „Einheit des Einen und des Anderen“. Nach umfangreichen Recherchen zum kulturellen Erbe indigener philippinischer Gruppen und Stämme und ihrer Wissenssysteme und Praktiken kam er zu dem Schluss, dass Pakikipag-kapwa ein zentraler philippinischer Wert ist, der dem Pagkatao ng Filipino (der Persönlichkeit des Filipinos) zugrunde liegt. Er behauptete, dass „Kapwa moralische und normative Aspekte impliziert, die eine Person dazu verpflichten, einander als Mitmenschen und damit als gleichwertig zu behandeln“. Eine solche Position sei „definitiv unvereinbar mit ausbeuterischen menschlichen Interaktionen“. Er sah jedoch auch voraus, dass dieser philippinische Grundwert durch die Verbreitung westlicher Einflüsse bedroht sei. „… sobald AKO (das Ich) beginnt, sich als getrennt von KAPWA zu betrachten, wird das philippinische ‚Selbst‘ im westlichen Sinne individualisiert und verweigert dem anderen faktisch den Status von KAPWA.“
Die meisten Menschen verstehen das Wort „kapwa“ heute als „Nachbar“. In Standard-Tagalog-Wörterbüchern wie dem von Vito Santos wird „kapwa“ jedoch als „Mitmensch“ und „andere Person“ definiert. Ältere spanische Wörterbücher übersetzen „kapuwa“ als „beide“ und „der eine und der andere“ oder „andere“. Aus all diesen Recherchen zog Enriquez den Schluss, dass die ursprüngliche philippinische Idee von „anderen“ inklusiv war. Er schrieb: „Das englische ‚others‘ wird eigentlich im Gegensatz zum ‚self‘ verwendet und impliziert die Anerkennung des Selbst als separate Entität. Im Gegensatz dazu ist kapwa die Anerkennung einer gemeinsamen Identität, eines inneren Selbst, das mit anderen geteilt wird.“ Er sagte auch: „Eine Person entwickelt ein Gefühl von Kapwa nicht so sehr aufgrund der Anerkennung eines Status, der ihr von anderen verliehen wurde, sondern vielmehr aufgrund ihres Bewusstseins für eine gemeinsame Identität. Das Ako (Ego) und die Iba-sa-akin (andere) sind in der Kapwa-Psychologie ein und dasselbe.“
Dr. Katrin de Guia beschreibt dies wie folgt: „Kapwa ist ein Begriff aus der Tagalog-Sprache, der häufig verwendet wird, wenn man eine andere Person anspricht, um eine Verbindung herzustellen. Er spiegelt eine Sichtweise wider, die in jedem Menschen das Wesentliche des Menschseins erkennt und daher Menschen verbindet (einschließt), anstatt sie voneinander zu trennen (auszuschließen). Enriquez war der Meinung, dass diese Orientierung Ausdruck von „Menschlichkeit auf höchstem Niveau“ sei.“ – aus Kapwa: Das Selbst im Anderen, Weltanschauungen und Lebensstile philippinischer Kulturträger.
Pakikipagkapwa, das Verständnis, dass wir mit anderen verbunden sind, führt zu besseren Beziehungen innerhalb unserer Familien, mit Schulkameraden oder Arbeitskollegen. Es führt zu einem Interesse an unserer Gemeinschaft, unserem Land und unserer Umwelt, sowohl in sozialer als auch in natürlicher Hinsicht.
Noch wichtiger ist, dass es uns dazu bringt, die Bedürfnisse des Menschen über alle anderen Werte zu stellen, sei es Geld, Macht, Prestige, der Staat, Ideen und sogar die Religion.
Die Zeiten, in denen wir leben, fordern uns auf, das pakikipagkapwa, das unter jahrhundertelangem kolonialem Einfluss unterdrückt wurde, wieder zu erwecken und neu zu entfachen, ein Aufruf, zu der Art und Weise zurückzukehren, wie unsere Vorfahren in der Welt gelebt haben – eine Art und Weise, die von einem tiefen Sinn für Gemeinschaft, Zusammenarbeit und Solidarität geprägt ist.
Es kann sein, dass der „mythische Filipino“ nicht tot und verschwunden ist, sondern nur schläft, aber bereit ist zu erwachen, zu inspirieren und die besten Eigenschaften, die in unseren Tiefen schlummern, wiederzubeleben.
Stellen Sie sich vor, wie unser Leben, unsere Gesellschaft und unsere Welt aussehen würden, wenn wir, Eltern und Kinder, Führungskräfte und Angestellte, Arbeitgeber und Mitarbeiter, Politiker und Bürger, Pakikipag-Kapwa praktizieren würden. Auf persönlicher Ebene wird das „Kapwa“ in uns das Wohlergehen und die Zufriedenheit derer berücksichtigen, mit denen wir in Kontakt kommen, und es wird mehr Rücksicht auf die Auswirkungen unseres Handelns auf sie nehmen. Auf Gemeinschaftsebene wird das „Kapwa“ in uns besorgt sein über das, was in der unmittelbaren Umgebung geschieht, und es wird auf jede erdenkliche Weise reagieren, um dazu beizutragen, die Gemeinschaft zu einem besseren und sichereren Ort zum Leben zu machen. Auf einer breiteren und sozialen Ebene wird das „Kapwa“ in uns die Missachtung der Menschenrechte nicht tolerieren, sondern das menschliche Leben wertschätzen, jedes menschliche Leben. Es wird Frauen nicht missachten oder Minderheiten entrechten. Es wird auch nicht das menschliche Leben, die Natur und unseren Planeten gefährden, indem es unsere Ressourcen auf der Suche nach mehr Profit missbraucht und ausbeutet, und so dafür sorgen, dass das Leben auf unserem Planeten für kommende Generationen nachhaltig bleibt. Es wird alle Formen von Ungerechtigkeit und Diskriminierung ablehnen.
Dieser universelle Wert einer gemeinsamen Identität, wie sie sich in unserer Kultur ausdrückt, manifestiert sich auch in anderen Kulturen, weil er in unserer gemeinsamen Menschlichkeit verwurzelt ist. Ja, wir sind ein Volk von Kapwa, und in uns lebt eine mächtige Kraft, die dazu beitragen kann, eine Kultur des Friedens aufzubauen.
Fußnote: Vielen Dank an Dr. Katrin de Guia, die durch ihr Buch und ihre Konferenzen die philippinische Psychologie (Sikolohiyang Filipino) einem breiteren Publikum zugänglicher und relevanter gemacht hat.
Quelle: De Guia, Katrin, Ph.D. Kapwa, The Self in the Other, Worldviews and Lifestyles of Filipino Culture-Bearers. 2005. Anvil Publishing Inc. Pasig City, Philippines.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Angela Becker vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!
Wurzeln des philippinischen Humanismus:
Teil 2 „Bayanihan“
Teil 3 „Maka-tao“
Teil 4 „May Pag-asa“