Verzweiflung, Empörung, Bestätigung, Erleichterung…, die Stimmen zum öffentlichen Fall des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind vielfältig, abhängig von der jeweiligen Blickrichtung auf den Ukrainekrieg.
Der Held des Jahres
Zu Beginn dieses Krieges hatte ein regelrechter Helden-Rausch die westliche Welt ergriffen. Der militärische Gruß der ukrainischen Streitkräfte: „Ruhm den Helden“ wurde populär und Präsident Selenskyj wurde zum „Held des Jahres 2022“ gekürt. Allein in diesem Jahr bekam er dreizehn Auszeichnungen und Ehrungen: „Für die heldenhafte Verteidigung der Ukraine und der moralischen Werte der westlichen Zivilisation“, heißt es in dem polnischen Jan-Karski-Aldler-Preis. Seine olivgrüne Kleidung wurde zum Modelabel und für das Modemagazin Vogue posierte er zur Titelgeschichte „Porträt des Muts“ mit seiner Frau Olena vor einer Kriegskulisse mit Ruinen, Soldaten und einem Flugzeugwrack. Sein Kommentar hierzu: „Wir freuen uns auf den Sieg“.
Ein gedemütigter Superheld
Nun aber, im Laufe von drei Jahren Krieg mit insgesamt etwa einer Million Toten und Verletzten (Spiegel, 12.12.2024) und der Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist – was bereits in den ersten Wochen ersichtlich war –, hat sich das strahlende Heldenimage des ukrainischen Präsidenten allmählich verdunkelt. Sichtbare Resignation und die kompensatorische Forderung von immer schwereren Waffen kennzeichneten seine öffentlichen Auftritte.
Und nun ist das schier Unglaubliche geschehen: Der Mythos vom siegreichen Helden ist Vergangenheit; der ukrainische Präsident wurde vom amerikanischen Präsidenten Donald Trump – einem bisher wenig vertrauenswürdigen Anti-Helden öffentlich „gedemütigt“.
Aber wurde er das wirklich? Oder wurde hier nur deutlich eine Wahrheit ausgesprochen: Fehlende Dankbarkeit für geleistete Militärhilfe, mangelnde Friedenswilligkeit zu Lasten seiner kämpfenden und sterbenden Soldaten – ich erinnere an Selenskyjs Dekret vom Oktober 2022, das es verbietet, mit Putin zu verhandeln –, das weitere Opfern der Ukraine in einem Rückeroberungs-Krieg, der nicht zu gewinnen ist, sowie das Riskieren eines dritten Weltkrieges.
Ja, der Schlagabtausch im Oval Office war heftig; gewöhnlich findet Derartiges nur hinter verschlossenen Türen statt. Nun aber kam der Schatten des Helden ans Licht der Öffentlichkeit; aus einem strahlenden Superhelden wurde ein armes Opfer, vielleicht zum Glück für die Ukraine und vielleicht auch zum Segen für die Welt. Das unsinnige Morden könnte endlich ein Ende finden. Warum nun aber dieser wütende Aufschrei westlicher PolitkerInnen und der meisten Leitmedien?
Der zertrümmerte Selbst-Wert
Stolz, tapfer, schneidig, unverwundbar und immer siegreich hat der Kriegs-Held zu sein, eine überpersönliche Gestalt, die ausdauernd für „Freiheit und die westlichen Werte“ zu kämpfen hat. Dieser unverwundbare und siegreiche Superheld erscheint als ein universelles Idealbild patriarchaler Männlichkeit, mit dem sich die politische Elite Europas und Teile der Bevölkerung gerne identifizieren. Das klägliche und erbärmliche Sterben der Soldaten aber, an beiden Seiten der Front, wie es der Journalist und Kriegsbericht-Reporter Patrik Baab so eindrücklich und tief mitfühlend beschreibt, wird uns gerne verschwiegen. Alltäglich werden wir mit dem Heldenideal medial geimpft; kriegstüchtig, kampfbereit und siegesgewiss sollen wir Europäer zukünftig sein: Deutschland als militärische Führungs-Macht in Europa!
Nun aber ist der westliche Superheld gefallen, nicht heldenhaft im Kampf, sondern ziemlich kläglich im Streitgespräch mit dem amerikanischen Präsidenten. Ihm wurde nicht, wie in alten Zeiten, der Kopf abgeschlagen, ihm wurde lediglich der Kopf gewaschen, danach wurde er vor die Tür gesetzt. Mit dieser öffentlichen Kränkung ist das narzisstische Ego des ukrainischen Präsidenten und mit ihm das narzisstische Ego der „westlichen Wertegemeinschaft“ zerbrochen. Das schmerzt – verständlicherweise –, aber der pathologische Narzisst ist nicht bereit, den Schmerz der Kränkung zu ertragen. Sein wütender Aufschrei ist groß; die Botschaft lautet: „Dem werd’ ich’s zeigen!“ Was? „Dass ich der Größte bin!“ Und schnell soll mit Unsummen nicht vorhandener Gelder der Zusammenbruch vermeintlicher Werte gekittet und das zertrümmerte Größen-Selbst Europas wieder hergestellt werden: „Massive Aufrüstung als Antwort an Trump“ schreibt die ARD, die WELT titelt „Kriegsgipfel“ in Brüssel (beide 07.03.2025) und so manche Äußerung der EU-Politiker:innen zeugt von geheimer Rachelust.
SiegFried und die Opfer-Täter-Umkehr
„Sieg der Ukraine wird auch Sieg Amerikas“, mit diesen Worten und dem Überreichen der ukrainischen Siegesflagge dankte Selenskyj dem US-Präsidenten Joe Biden für die weitere Lieferung schwerer Waffen (zdf.de 22.12.2022).
Sieges-Flaggen, Sieges-Versprechen, Sieges-Mythen… Siegen aber heißt töten und getötet werden, jeder Sieg bereitet den Weg für einen neuen Krieg, für weitere Opfer, weiteres Elend und weitere Rache. Der ewige Kreislauf von Opfer zu Täter und wieder zu Opfer wird im Siegen, und bereits mit jeglicher Sieges-Propaganda, aktiviert. Einen Sieg-Frieden kann es daher nicht geben.
Das aktuelle Ereignis von Sieg und Niederlage erinnert an das mittelalterliche Heldenepos von Siegfried, dem vermeintlich unverwundbaren Drachentöter. Auch der Königssohn Siegfried kämpfte einen Stellvertreter-Krieg für einen erhofften Sieg, er kämpfte für fremde Interessen im Versprechen um einen besonderen Lohn, die Ehe mit Kriemhild. Seine Unverwundbarkeit aber erwies sich am Ende als Täuschung; nach Jahren erlitt er eine Niederlage und wurde erschlagen. Kriemhild sann auf Rache, sie enthauptete den Mörder ihres Mannes und wurde letztendlich selbst, samt ihren Verbündeten, getötet. So enden alle kriegerischen Konflikte; es gibt keinen Sieg-Frieden. Die „Opfer-Täter-Umkehr“ ist eine universelle psychodynamische Gesetzmäßigkeit, eine Spirale, die mit Vernunft und mit Willen zum Frieden gestoppt werden muss. Sonst könnten auch wir kriegswilligen Europäer wieder Opfer werden.
Der mythische Held
Der moderne Heldenkult hat uralte Wurzeln; seit alters her existiert die Erzählung vom „mythischen Helden“ im Kollektiv-Bewusstsein der Menschen. Als universeller Archetyp ist er ein Urbild der menschlichen Seele, das bis heute überliefert ist in unzähligen Mythen und Märchen der Völker. Bildliche Darstellungen zeigen ihn bereits in neolithischen Kulthöhlen, in Stein gehauen und in Bronze gegossen erscheint er in Tempeln und Palästen; und in mythischen Szenen sehen wir ihn auf antiken Gefäßen.
Das deutsche Wort „Held“ ist abgeleitet von dem griechischen Wort „Heros“, altgriechisch „Hieros“, mit der Bedeutung: der Alte, der Weise, der Eingeweihte, der Heilige. Als spirituelle Erlösergestalt ist er der Heiland der Menschen, er ist der archetypische König seines Volkes und der Schamane seines Stammes. Unter Einsatz seines eigenen Lebens kämpfte er für die Sicherheit seines Reiches und für die zyklische Erneuerung der Natur. Der „Heilige Heros“ der frühen vorpatriarchalen Kulturen kämpfte nicht für einen Sieg, nicht für sein persönliches Ansehen, nicht für seine Macht und seinen Selbstwert; er kämpfte für das Leben.
Das Helden-Ego und der wahre Held
Dieser wahre Held ist klug, mitfühlend, mutig und kühn. Als Diener seines Volkes trifft er weise Entscheidungen, und im Notfall ist er bereit, sein eigenes Leben zu geben, um das Leben seines Volkes zu retten. Der Kriegsheld aber bringt ein Stellvertreter-Opfer, er opfert die anderen, er opfert sein eigenes Volk. Er ist der Schreibtisch-Täter, der junge Männer mit Gewalt zum Töten und Getötetwerden zwingt. Als Anti-Held ist er ein Gefangener seines eigenen narzisstischen Egos, geblendet von Macht und von Gier, was auf alle drei präsidialen Machthaber in dieser Tragödie zutrifft.
Der wahre Held aber ist innerlich frei, wie der Mythenforscher Joseph Campbell schreibt: „Der Held ist der, der in Freiheit sich beugt“. Es ist diese hingebungsvolle Bereitschaft zum freiwilligen Selbstopfer, zum Verzicht auf Macht und Profit, was den wahren Helden vom Kriegshelden unterscheidet: Kein erzwungener Kniefall, kein politisches Kalkül – aus Einsicht und innerer Freiheit beugt sich der wahre Held. Demut gepaart mit Vernunft, Kompromiss- und Dialog-Bereitschaft sind seine Schlüssel zum Frieden.
Literatur:
- Campbell, Joseph „Der Heros in tausend Gestalten“, Frankfurt/Main 1978
- Croissier, Gertrude R. „Die mythische Reise – Der archetypische Weg des Helden und der Heldin“, Schalksmühle 2022
- Croissier, Gertrude R. „Grenzgang – Krieg oder Frieden“, Schalksmühle 2024