Nachdem ich mich endlich mit dem Kriegsdienstverweigerer Yurii Sheliazhenko getroffen habe (dessen Prozess am 27. August begonnen hat), berate ich mich mit Anna Polo und wir beschließen, dass es besser ist, das ukrainische Territorium zu verlassen, bevor wir den Text des Interviews veröffentlichen.
Ein Italiener, dessen Personalien ich nicht nenne, den ich aber für eine zuverlässige Quelle halte, hatte mir von dem Treffen abgeraten: Die Sicherheitsdienste überwachen alles und für sie ist Yurii ein Staatsfeind.
„Yurii hat sich klar gegen die russische Invasion und gegen Putin ausgesprochen“, wandte ich ein.
„Das macht seine Position sogar noch schlimmer und gefährlicher, denn wenn er pro-russisch wäre, hätte er keinerlei Glaubwürdigkeit unter den Ukrainern, die ein Ende des Krieges wollen, aber gegen die Invasion sind. Seien wir ehrlich – hier werden Leute auf der Straße aufgegriffen, die dem Aufruf zu den Waffen nicht gefolgt sind, und Yurii unterstützt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung… Wer geht dann an die Front?
Für sie ist er ein Landesverräter, auch wenn das Gegenteil der Fall ist. Wenn du dich mit ihm triffst und sogar einen Artikel schreibst, werden sie es wissen und du kommst auf die schwarze Liste. Nimm also meinen Rat an und vergiss es“, riet er mir.
Auf dem Maidan-Platz sehe ich, wie eine bewaffnete Patrouille einen jungen Mann anhält, und ich mache mir Sorgen um ihn, weil einer der beiden Soldaten lange an einem Computer herumfummelt, um seine Status in Bezug auf den Fronteinzug zu überprüfen. Da verstehe ich die Worte meines Gesprächspartners.
Von einer anderen Quelle – einer Frau, die ich in der Straßenbahn getroffen habe und deren Mann an der Front ist – erfahre ich, warum es so viele Armeeshops gibt: Hier tauchen wieder die Geschichten unserer Eltern oder Großeltern auf: die italienische Armee, die den Deutschen folgend Russland mit „ Kartonstiefeln“ erobern wollten, die im Schnee auseinanderfielen, und der Skandal der Armeeladen-Verkäufer, die davon profitierten, dass diese Jungen in den Tod geschickt wurden.
Die Männer sind nicht nur gezwungen, an die Front zu gehen, sondern müssen sich, wenn sie eine bessere Überlebenschance haben wollen, ihre eigene Ausrüstung und vielleicht ein schönes Messer kaufen; die Waffen allerdings bekommen sie von uns Westlern.
Kurzum, ich versuche, Kiew so schnell wie möglich zu verlassen, und erlebe eine böse Überraschung: Die Tickets für die Busse, die aus der Ukraine herausführen, werden nur online verkauft und meine App funktioniert nicht. Schließlich gelingt es mir, einen Platz in einem Bus nach Chișinău zu finden, der Hauptstadt der Republik Moldau, einem neutralen Land. Der Bus ist voll, aber ein Sitzplatz ist noch da und ich bezahle in bar.
Die Fahrt ist lang und wir kommen auch durch Odessa, am Schwarzen Meer, ein paar Kilometer von der Krim entfernt, wo es Russen gibt, sowohl als Einwohner als auch als Soldaten, aber bei dem kurzen Halt sehe ich keine Anzeichen von Krieg.
Schade, ich hätte gerne Blumen zum Gewerkschaftshaus gebracht, um die armen, in diesem Fall russischsprachigen Opfer der ultranationalistischen und faschistischen Gewalt zu ehren.
Von Odessa geht es weiter zur moldawischen Grenze, die von der Armee ebenfalls mit gepanzerten Fahrzeugen bemannt ist. Vor der Grenze steigen alle Männer aus.
Ein ukrainischer Soldat steigt ein und als er mich sieht, macht er einen Gesichtsausdruck wie: „Du bist ein Mann, was glaubst du, wo du hin willst?“ Dann sieht er meinen italienischen Pass, lächelt mich an und mein Herz beginnt wieder regelmäßig zu schlagen.
Die Grenze ist wegen ihrer Nähe zur Enklave der selbsternannten Republik Transnistrien abgesperrt, die von den UN-Mitgliedsstaaten nicht anerkannt wird, da diese sie immer noch als Teil der Republik Moldawien betrachten. Sie wird von einer pro-westlichen Regierung regiert, nachdem die ersten freien Wahlen nach der Unabhängigkeit von der UdSSR die Kommunistische Partei Moldawiens zum Sieger erklärt hatten.
In kleinerem Masse wiederholt sich das, was in der Ukraine passiert ist, in Moldawien: pro-westliche nationalistische Parteien auf der einen Seite stehen prorussischen politischen Strömungen auf der anderen Seite gegenüber, nur dass in der Ukraine die Regierung die Oppositionsparteien und jetzt sogar die orthodoxe Kirche, die dem Moskauer Patriarchat treu ist, verboten hat und damit Millionen russischsprachiger Ukrainerinnen und Ukrainer daran hindert, sich frei zu ihrem Glauben zu bekennen.
Die separatistische Abspaltung der schmalen Region Transnistrien, einer Enklave, die hauptsächlich von einer russischsprachigen Bevölkerung bewohnt wird und zwischen dem moldawischen Westen und dem ukrainischen Osten eingezwängt ist, hatte vor Jahren zu bewaffneten Zusammenstößen und dem Eingreifen russischer Luftlandetruppen geführt. Ein Kriegsbeginn, der mit einem Waffenstillstand endete, der aber durch die Präsenz russischer Truppen in der abtrünnigen Republik garantiert wurde. Kurz gesagt, ein ziemlich prekärer Frieden, von dem wir hoffen, dass er hält und sich festigt, der aber durch den Krieg in der Ukraine unsicher wird.
Ende der 1990er Jahre war die Lage der Republik Moldau tragisch, und das Land lag bei den Wirtschaftsindikatoren der europäischen Staaten auf dem letzten Platz. Seitdem hat es sich dank der Geldsendungen von Arbeitsmigranten erholt, von denen viele nach Italien gekommen sind, um dort zu arbeiten: Frauen als Hausangestellte oder Pflegekräfte und Männer als Maurer und Arbeiter.
Im Zentrum von Chișinău, der Hauptstadt, kann man die Zeichen dieses Wohlstands sehen, der so viel Anstrengung gekostet hat und noch kostet, aber das Land wieder in Schwung bringt… wenn der Krieg es zulässt, versteht sich.
Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!