Der Gedanke, die Menschenrechte im Rahmen eines kapitalistischen Systems in vollem Umfang ausüben zu können, ist ein Irrtum und eine völlige Naivität. Eine Fehleinschätzung, die nicht spontan entstanden ist, sondern absichtlich von denjenigen herbeigeführt wurde, die die Vorherrschaft in diesem System innehaben und denen jeglicher Einfallsreichtum fehlt.

Es steht außer Frage, dass die Menschenrechte als Konzept eine unbestreitbare moralische Gültigkeit haben, auch wenn ihre tatsächliche Verwirklichung weit vom theoretischen Kanon entfernt ist. Die Kluft zwischen den beiden ist neben der Bestätigung bereits bestehender Realitäten ein semantischer Hinterhalt und liegt, wie üblich, nicht im Diskurs, sondern in den unterschiedlichen Bedeutungen, die dieser grundlegenden Referenz zugeschrieben werden.

Der von der angelsächsischen Ethik dominierte Westen, der Nachfolger der ehemaligen imperialen Mächte, beschränkt den Begriff der Menschenrechte auf den Bereich der individuellen Bürgerrechte, die Praktiken einer abgewerteten liberalen Demokratie und vor allem das Eigentumsrecht. Der Geist, der in den dreißig Artikeln der Allgemeinen Erklärung zusammengefasst ist, erkennt hingegen die sozialen Rechte und die Notwendigkeit eines menschenwürdigen Umfelds für die menschliche Existenz an.

Die enge Bedeutung relativiert und konditioniert nicht nur die universelle, uneingeschränkte, gerechte Anwendung der Menschenrechte in ihrem vollen Sinn, sondern beurteilt und verurteilt darum nicht die Gewalt, auf der das bisher bestehende ungerechte Kräfteverhältnis beruht, welches wiederum diese Rechte verändern soll.

Dennoch verleihen die bloße Bekräftigung des Charakters der „Rechte“ und die kollektive Akzeptanz durch alle Nationen und Völker der Erde diesen Postulaten den Charakter einer unschätzbaren kulturellen Eroberung.

Geld gegen Menschenrechte

Die Unfähigkeit des Kapitalismus, jedem Menschen ein Mindestmaß an Wohlstand zu sichern, wird jeden Tag deutlich. Eine schwache Unterstützung des Systems ist die weit entfernte Illusion der Mehrheit, zu dem winzigen wohlhabenden und „erfolgreichen“ Kern zu gehören, was eher der Möglichkeit eines Lottogewinns oder der einfachen Resignation des Überlebens durch die Akzeptanz eines räuberischen, konkurrenzbetonten und exklusiven Modells gleicht.

Die Menschenrechte beschränken sich dann auf die Möglichkeit, durch kollektive, staatliche und kommunale Anstrengungen langsame Fortschritte zu erzielen – gegen die Wünsche und Kräfte der multinationalen Konzerne und Investmentbanken.

Es ist ein ungleicher Kampf, in dem das Kapital die Schlupflöcher des politischen Willens der Bürgerinnen und Bürger kauft, mietet oder manipuliert und damit die „Demokratie“, die seine an der Universität ausgebildeten Figuren oft einfordern, völlig missachtet.

Die Verwendung des Begriffs ist so derangiert, dass diejenigen, die es wagen, die aufgezwungenen Modalitäten in Frage zu stellen, in der diplomatischen Sphäre gerade als „systematische Menschenrechtsverletzer“ verunglimpft werden.

Wie Silo in seinem neunten „Brief an meine Freunde“ feststellt: „Einmal mehr wird die Souveränität und Selbstbestimmung der Völker durch die Manipulation der internationalen Friedens- und Solidaritätskonzepte gefährdet“.

Das soll nicht heißen, dass die Völker, die sich dafür entscheiden, ihr Leben ausgeglichener und egalitärer zu gestalten, nicht unter diesen Verstößen leiden, wie man auch täglich sehen kann. Was behauptet wird, ist, dass der heute vorherrschende Kapitalismus eine Quelle wirtschaftlicher Gewalt ist und damit in krassem Gegensatz zur Verwirklichung der Menschenrechte steht.

Der radikale Widerspruch zwischen Kapitalismus und Menschenrechten zeigt sich in Kriegen, einem Anachronismus, der nach wie vor angezettelt und geführt wird, um sich Ressourcen anzueignen, Infrastrukturen zu zerstören, Märkte zu erobern, politische Gegner zu unterwerfen oder ganz einfach, um die Kassen der Investoren in Rüstungsunternehmen weiter zu füllen. Das alles sagt natürlich nichts über die vermeintlich abgedroschene Verteidigung der „Menschenrechte“ aus, die vergiftete Rhetorik der Kriegstreiber des globalen Nordens.

Kapitalismus und Subjektivität

Der Kapitalismus beschränkt sich nicht nur auf das Materielle, sondern wirkt auch permanent auf die Psyche ein und propagiert Einstellungen und Verhaltensweisen, die der Verwirklichung der verankerten universellen Rechte absolut zuwiderlaufen.

Grundlegende Begriffe wie Besitz und Aneignung fördern Enteignung und Differenz, was Gesellschaften von Aneignern und Enteigneten nährt, die im Gegensatz zum kollektiven Teilen des gesellschaftlich erzeugten Produkts stehen. Die Aneignung von Gütern und Vergnügen um jeden Preis durch die Entwürdigung der Existenz anderer, bis hin zu ihrer physischen Beseitigung, ist eine Quelle maximaler Gewalt, die in einem echten Menschenrechtssystem unvorstellbar ist.

Die Logik des Wettbewerbs, des Profits und der Machtakkumulation, die dem Kapitalismus innewohnt, ist das genaue Gegenteil von Zusammenarbeit, selbstlosem Handeln und persönlicher und kollektiver Selbstbestimmung – unersetzliche Elemente auf dem Weg zu Gesellschaften, die durch diese Rechte geschützt werden.

Die Verwirklichung der Menschenrechte in einer humanistischen Zukunft

Aus dem bisher Gesagten könnte man – fälschlicherweise – schließen, dass es ausreichen würde, die Bedingungen einer sozioökonomischen Gesellschaftsorganisation zu ändern, um automatisch zur vollen Verwirklichung der Menschenrechte zu gelangen.

Diese These, die im industrialisierten Europa des 19. Jahrhunderts doktrinär festgeschrieben wurde, ermutigte, zusammen mit der Brutalität und Verweigerung des herrschenden Sektors gegenüber den gerechten Forderungen der Entrechteten, zu gewaltsamen Volksaufständen in dem Glauben, dass eine zentrale Kontrolle der Produktionsmittel und der sozialen Aktivitäten die gewünschten Veränderungen herbeiführen würde.

Mit Hilfe der bikonditionalen Sätze der Logik lässt sich argumentieren, dass die harmonische Verteilung der Ressourcen eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für die Umsetzung der in der Allgemeinen Erklärung dargelegten Grundsätze ist. Diese ausreichende Bedingung ist die Einführung neuer ethischer Grundsätze, auf die als Achsen der sozialen Beziehungen, des intersubjektiven und persönlichen Verhaltens nicht verzichtet werden kann.

Gebote, deren Aufstellung, die, in großer Entfernung von der Moral, durch den Entwurf bestimmter Gruppen auferlegt wurde, die unsägliche Gewalt und die Inthronisierung von Mächten, die dem Wohlergehen der Völker fremd sind, verursacht haben, können nicht vertikal erzwungen werden.

Diese neue Ethik kann in einer Zeit der Globalisierung und der totalen Verflechtung der verschiedenen Kulturen der Erde keine andere Grundlage haben als die, die zu Recht die Seele der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bildet, nämlich die Anerkennung des Menschen als primäres Subjekt der Rechte, wie es in ihrem zweiten Artikel heißt, „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“.

Die Stärkung und Ausweitung dieser humanistischen revolutionären Moral ist Aufgabe des Volkes, ausgehend von einem alltäglichen Streben und Verhalten, das sich auf kollektive politische Äußerungen ausdehnt, in denen die Überzeugung, dass es keinen Fortschritt für irgendjemanden gibt, wenn er nicht für alle ist, Wurzeln schlagen sollte.

Um diese Einschätzungen konkret zu veranschaulichen, lässt sich feststellen, dass sechs Konzepte von Humanistinnen und Humanisten aus verschiedenen Kulturen eine gemeinsame Position bilden, nämlich: die Positionierung des Menschen als zentralem Wert und Anliegen; die Bejahung der Gleichheit aller Menschen; die Anerkennung der persönlichen und kulturellen Vielfalt; die Tendenz, Wissen zu entwickeln, das über das hinausgeht, was als absolute Wahrheit akzeptiert oder auferlegt wird; die Bejahung der Freiheit von Ideen und Überzeugungen; und die Ablehnung von Gewalt.

Dies unterstreicht die Notwendigkeit, ein humanistisches geistiges und soziales Umfeld zu schaffen, um die Erklärung, die nun 75 Jahre alt ist, wirksam umzusetzen. Eine Erklärung, für die wir als Motto vorschlagen könnten: „Nichts steht über dem Menschen und kein Mensch unter einem anderen“.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Heike Pich vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!