Noch nie tötete ein Krieg in kurzer Zeit so viele Kinder und Frauen, schreibt die New York Times. Ein Grund sei die Art der Waffen.

Urs P. Gasche für die Onlinezeitung InfoSperber

Vor der Feuerpause «starben Zivilisten unter israelischem Sperrfeuer in historischer Geschwindigkeit». Selbst eine vorsichtige Schätzung der Opferzahlen im Gazastreifen zeige, dass die Todesrate während des israelischen Angriffs nur wenige Präzedenzfälle in diesem Jahrhundert habe.

Den Tod von Zivilisten stellte Israel als bedauerlichen, aber unvermeidlichen Teil eines modernen Konflikts dar und verwies auf die hohen Opferzahlen der Militäreinsätze, welche die USA im Irak und in Syrien durchführten.

Doch Experten für Konfliktopfer seien erstaunt, wie viele und wie schnell Menschen in Gaza getötet wurden, schreibt die NYT. «Frauen und Kinder machten fast 70 Prozent aller im Gazastreifen gemeldeten Todesfälle aus – ein aussergewöhnlich hoher Anteil», sagte Rick Brennan, regionaler Notfalldirektor des WHO-Büros für den östlichen Mittelmeerraum.

70 Prozent aller Todesopfer in Gaza sind Frauen und Kinder. Unabhängige Stellen halten die Zahl der Hamas-Behörde von bisher über 14’000 Todesopfern für realistisch. © Gesundheitsbehörden Gaza/Grafik: NYT

2000-Pfund-Bomben

Es sei nicht nur die Intensität der Angriffe: Israel gab an, bis zur Waffenruhe mehr als 15’000 Ziele angegriffen zu haben. Sondern es liege auch an der Art der Waffen: «Israels freizügiger Einsatz sehr grosser Waffen in dichten städtischen Gebieten, einschliesslich von 2000-Pfund-Bomben aus den USA, die ein Wohnhochhaus platt machen können, ist nach Ansicht einiger Experten überraschend.»

Die NYT zitiert Marc Garlasco, Militärberater der niederländischen Organisation PAX und ehemaliger leitender Geheimdienstanalyst im Pentagon: «Das übersteigt alles, was ich in meiner Karriere gesehen habe. Um einen historischen Vergleich für so viele grosse Bombenabwürfe in einem so kleinen Gebiet zu finden, müssen wir vielleicht nach Vietnam oder in den Zweiten Weltkrieg zurückgehen.»

In den ersten zwei Wochen des Krieges seien etwa 90 Prozent der von Israel im Gazastreifen abgeworfenen Munition satellitengesteuerte Bomben mit einem Gewicht von 1000 bis 2000 Pfund gewesen, zitiert die NYT einen hochrangigen US-Militärbeamten, der nicht befugt war, die Angelegenheit öffentlich zu erörtern.

Israel verfüge auch über Tausende kleinerer Bomben aus den USA, die dazu bestimmt wären, den Schaden in dichten städtischen Gebieten zu begrenzen, erklärte Marc Garlasco, Berater der PAX.

In einem dokumentierten Fall setzte Israel am 31. Oktober während eines Luftangriffs auf Jabaliya, ein dicht besiedeltes Gebiet nördlich von Gaza-Stadt, mindestens zwei 2000-Pfund-Bomben ein, die – laut einer NYT-Analyse von Satellitenbildern, Fotos und Videos – Gebäude platt machten und Einschlagskrater von 12 Meter Breite erzeugten. Airwars bestätigte unabhängig, dass dabei mindestens 126 Zivilisten getötet wurden, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder.

Im ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte heisst es:

«Es ist verboten, Waffen, Geschosse und Material sowie Methoden der Kriegführung zu verwenden, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen.»

Im Kampf gegen den IS in städtischen Gebieten wie dem irakischen Mosul und dem syrischen Raqqa hielten US-Militärs sogar die gängigste US-Fliegerbombe – eine 500-Pfund-Waffe – für die meisten Ziele für viel zu gross.

Das israelische Militär erklärte, es habe einen Hamas-Kommandanten und Kämpfer ins Visier genommen, räumte aber ein, dass es wusste, dass Zivilisten anwesend waren. Oberstleutnant Richard Hecht, ein israelischer Militärsprecher, meinte, die Opfer seien eine «Kriegstragödie».

Ein Recht auf grösstmöglichen Schutz

Die fundamentalistische Terrororganisation Hamas foutiert sich komplett um das humanitäre Völkerrecht. Das haben der Terroranschlag in Israel und das Halten von Geiseln erneut in krasser Weise gezeigt. Israel hat das Recht, die Führung der Hamas auszuschalten.

Doch «Auge um Auge, Zahn um Zahn» ist nicht erlaubt. Israel muss das humanitäre Völkerrecht respektieren. Freilich ist dies in einem dicht besiedelten Gebiet, in dem die Hamas zivile Einrichtungen als Schutzschild benutzt, eine äusserst schwierige Aufgabe. Trotzdem haben insbesondere die 1,5 Millionen Frauen und Minderjährigen – 70 Prozent der Bevölkerung – ein Recht auf grösstmöglichen Schutz.

Israel ist verpflichtet, so vorsichtig wie möglich vorzugehen, auch wenn dies den Krieg verlängern sollte.

Das israelische Militär macht geltend, dass der Gazastreifen ein Schlachtfeld wie kaum ein anderes sei. Gaza sei klein und dicht besiedelt mit Zivilisten, die neben oder sogar über Hamas-Kämpfern leben, die sich auf Tunnelnetzwerke verlassen, um sich und ihre Waffen zu schützen. Dadurch würden die Bewohner direkt in die Schusslinie geraten. Israels Einsätze konzentrierten sich darauf, die militärische Infrastruktur des Gazastreifens zu zerstören, die oft in der Nähe von Häusern und zivilen Einrichtungen gebaut oder unter ihnen begraben ist. «Um dieses Ziel zu erreichen», so Oberst Conricus, Sprecher der israelischen Armee, müsse das Militär «grössere Bomben mit einer höheren Sprengkraft» einsetzen.

Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant erklärte in den Tagen nach den Hamas-Angriffen: «Der Gazastreifen wird nicht wieder zu dem werden, was er vorher war. Die Hamas wird es nicht mehr geben. Wir werden alles eliminieren.»

Vergleiche mit anderen Kriegen

Israelische Behörden zogen als Vergleich die neunmonatige Schlacht um die irakische Stadt Mosul heran. Dort hatten beide Kriegsparteien nach Schätzung der AP 9’000 bis 11’000 Zivilisten getötet.

Im Gazastreifen wurde bereits in weniger als zwei Monaten eine ähnliche Zahl von Frauen und Kindern getötet.

Im Irak 2003 hatten die US-Streitkräften und ihre internationalen Verbündeten im gesamten ersten Jahr der Invasion rund 7’700 Zivilisten getötet, schätzt der Iraq Body Count. In Gaza wurden innerhalb von weniger als zwei Monaten mehr Frauen und Kinder getötet.

Grössere Bomben – viel grössere Schäden

Die Bomben, die in Gaza eingesetzt wurden, waren grösser als die, welche die USA im Kampf gegen IS in Städten wie Mosul und Raqqa verwendeten. Sehr grosse Bomben eigneten sich eher zum Zerstören unterirdischer Infrastrukturen wie Tunnel, sagte Brian Castner, ein Waffenermittler von Amnesty International und ehemaliger Kampfmittelbeseitigungsoffizier bei der US Air Force. «Sie setzen extrem grosse Waffen in extrem dicht besiedelten Gebieten ein», sagte Castner. «Es ist die schlimmstmögliche Kombination von Faktoren.»

Satellitenanalysen zufolge wurden im Gazastreifen mehr als 60’000 Gebäude beschädigt oder zerstört, darunter etwa die Hälfte aller Gebäude im Norden des Gazastreifens. Seit Kriegsbeginn mussten über 1,7 Millionen Menschen – fast 80 Prozent der Bevölkerung – ihr Zuhause verlassen. Das schreibt das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA.

UNRWA-Chef Philippe Lazzarini erklärte dem Schweizer Fernsehen: «Ich war vergangene Woche selber im Gazastreifen und habe dort eine Schule besucht, in der wir zurzeit 35’000 Personen beherbergen. Es fehlt den Menschen an allem, sie haben alles verloren, mussten alles zurücklassen. Sie haben ihre Häuser und Wohnungen verloren, haben Verwandte verloren. Sie besitzen nicht einmal mehr eine Decke oder eine Matratze. Seit Kriegsbeginn tragen sie dieselben Kleider. Die hygienischen Bedingungen sind absolut bemitleidenswert. Sie müssen stundenlang warten, um auf die Toilette gehen zu können.»

Der Gazastreifen sei nicht nur winzig, wenn man ihn mit Konfliktgebieten wie der Ukraine, Afghanistan oder dem Irak vergleicht, sondern Israel und Ägypten haben auch die Grenzen des Gebiets geschlossen, so dass es für die Zivilbevölkerung nur wenige, wenn überhaupt, sichere Fluchtorte gibt.

Die Zerstörung, die der Krieg hinterlässt, lässt die Überlebenden noch lange nach dem Ende des Konflikts um ihre Leben kämpfen. Allein die dezimierten Gesundheitssysteme und die beeinträchtigte Wasserversorgung können ein grosses Risiko für die öffentliche Gesundheit darstellen, so Neta C. Crawford, Professorin an der Universität Oxford und Mitdirektorin des Costs of War Project der Brown University. «Das ist in jedem Krieg so», meinte sie gegenüber der NYT. «Aber es ist das Ausmass der Verelendung über einen so kurzen Zeitraum, das wirklich schwer zu begreifen ist.»

What about Hiroshima und Nagasaki?

Premierminister Benjamin Netanjahu verwies in einer Rede am 30. Oktober auf die versehentliche Bombardierung eines Kinderkrankenhauses durch die britische Royal Air Force, als diese 1945 das Hauptquartier der Gestapo in Kopenhagen angreifen wollte. Und bei Besuchen von Aussenminister Antony J. Blinken in Israel beriefen sich israelische Beamte nach Angaben der NYT privat auf die US-Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945, die zusammen mehr als 100’000 Opfer gefordert hätten.

Als Reaktion auf die Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs hat die Staatengemeinschaft das moderne internationale Kriegsrecht entwickelt. In den Genfer Konventionen von 1949 wurde der Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten kodifiziert. Das Völkerrecht verbietet zwar zivile Opfer nicht, aber es besagt, dass Militärs nicht direkt auf Zivilisten zielen oder wahllos zivile Gebiete bombardieren dürfen, und dass zufällige Schäden und die Tötung von Zivilisten den direkt zu erzielenden militärischen Vorteil nicht übersteigen dürfen.

«NZZ»: «Israel sollte von seiner Strategie der Vergeltung abrücken«

Zum Vergeltungs- und Vernichtungskrieg gebe es Alternativen, schreibt «NZZ»-Auslandredaktor Andreas Ernst am 4. Dezember:

«Israel hat weltweit führende Geheimdienste und Spezialkräfte, die einen erfolgreichen Krieg gegen die Hamas führen können, ohne dabei Tausende Zivilisten zu töten. Israel sollte zur Strategie der begrenzten ­Anti-Terror-Operationen zurückkehren. Die Hamas-Spitze und die Täter des 7. Oktober müssen ausgeschaltet werden. Mit gezielten Tötungen beendeten 2005 die Sicherheitskräfte die zweite Intifada. Dahinter stand das Kalkül, das Leben palästinensischer Zivilisten (und israelischer Soldaten) zu schonen und gleichzeitig durch die ‹Köpfung› der Hamas deren Schlagkraft wirksam zu mindern.»

Entgegen der Behauptung Israels und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiers sei die Existenz Israels nie bedroht gewesen, weder am 7. Oktober noch seither. Diese Erzählung spiele nur der Hamas in die Hände, weil sie deren Bedrohungspotenzial überhöhe. Wenn die unpopuläre Regierung Netanyahu auf Vergeltung und Vernichtung setze, würde das Schicksal des Landes auf Jahre hinaus bestimmt. Nach einem Vernichtungskrieg würde Israel im Gazastreifen keine Verbündeten mehr finden:

«Die Ablehnung der Hamas, die es bei der Bevölkerung durchaus gab, ist im Bombenhagel pulverisiert worden. Israel treibt mit seiner massiven Gewalt die Palästinenser in die Arme der Hamas […] Wenn es Bomben hagelt, klammern sich die Wehrlosen an jene, die Waffen tragen.»

Ohne Verbündete aber müsse Israel als Besatzer vor Ort bleiben und würde im Sumpf des Konflikts feststecken.

Der Originalartikel kann hier besucht werden