UN-Generalsekretär fordert Waffenstillstand in Israel bzw. im Gazastreifen. Berlin sperrt sich dagegen – trotz über 3.000 Todesopfern. Gegen zivile Tote bei Angriffen von Verbündeten protestiert die Bundesregierung nie.

Berlin verweigert sich der weltweit mit steigender Dringlichkeit erhobenen Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Israel bzw. im Gazastreifen. UN-Generalsekretär António Guterres bekräftigte die Forderung am gestrigen Mittwoch in Beijing: Auch die Terrorakte der Hamas könnten „die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung nicht rechtfertigen“. Die Bundesregierung zieht sich demgegenüber auf „Israels Recht auf Selbstverteidigung“ zurück – auch, nachdem die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen die Schwelle von 3.000 Menschen überschritten hat und die israelische Regierung sich mit der Behauptung, der Angriff auf ein Krankenhaus mit 471 Todesopfern sei Palästinensern zuzuschreiben, zunehmend in Widersprüche verwickelt. Die Bundesregierung hat zu exzessiven zivilen Todesopfern schon in der Vergangenheit stets geschwiegen, wenn die Täter Verbündete waren – so im Fall der Schlacht um Mossul gegen den IS, bei der mindestens 3.000 Zivilisten durch westliche Angriffe ums Leben kamen. Die Schlacht um Aleppo hingegen, bei der im Herbst 2016 rund 1.000 Zivilisten russisch-syrischen Angriffen zum Opfer fielen, wurde in deutschen Medien als „Vernichtungskrieg“ attackiert.

„Nicht zu rechtfertigen“

Die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Israel bzw. im Gazastreifen wird weltweit mit rasch zunehmender Dringlichkeit erhoben. Exemplarisch tat dies am gestrigen Mittwoch etwa UN-Generalsekretär António Guterres. Guterres äußerte auf dem Belt and Road Forum in Beijing, die bitteren Klagen der Palästinenser „nach 56 Jahren Besatzung“ könnten die Terrorakte der Hamas vom 7. Oktober „nicht rechtfertigen“.[1] Ebensowenig rechtfertigen könnten aber diese Terrorakte „die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung“. Deshalb müssten die Waffen im Nahen Osten umgehend schweigen. Schon zweimal hat der UN-Sicherheitsrat in den vergangenen Tagen über Anträge abgestimmt, die Guterres‘ Forderung Rechnung trugen. Am Montag wies er einen Antrag Russlands zurück, der ein sofortiges Ende der Kämpfe forderte [2]; die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Japan stimmten mit Nein, da der Antrag die Hamas nicht namentlich als Täterin der Massaker vom 7. Oktober nannte. Am gestrigen Mittwoch legten die USA ihr Veto gegen einen Antrag Brasiliens ein, der die Hamas explizit erwähnte und sich sogar auf die Forderung nach „humanitären Pausen“ beschränkte; Washingtons UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield äußerte zur Begründung, der Antrag sei aus Sicht der Vereinigten Staaten unzureichend, weil er „Israels Recht auf Selbstverteidigung“ nicht erwähne.[3]

Der Zyklus der Gewalt

Auch Berlin blockt mit Verweis auf das Recht auf Selbstverteidigung Forderungen nach einem Waffenstillstand ab. Dies war am Dienstagmorgen der Fall, als Kanzler Olaf Scholz Jordaniens König Abdullah in Berlin empfing; während Abdullah sagte: „Es reicht! Wir können diesen Zyklus der Gewalt nicht so fortsetzen“, wiegelte Scholz mit der Äußerung ab, Deutschland stehe „unverbrüchlich“ an der Seite Israels.[4] Ob der „Zyklus der Gewalt“ Israel sicherer macht oder womöglich das Gegenteil erreicht, wird in Berlin nicht diskutiert. In der EU ruft die deutsche Position, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen übernommen hat, heftige Auseinandersetzungen hervor, da von der Leyen nicht einmal dazu bereit ist, die Abriegelung des Gazastreifens von der Versorgung mit Elektrizität, Nahrung und Wasser zu kritisieren; sie hält an ihrer Position trotz massiver Proteste mehrerer EU-Mitgliedstaaten, darunter etwa Frankreich, fest.[5] Von der Leyen will nun humanitäre Hilfe leisten und Hilfsgüter über Ägypten in den Gazastreifen bringen lassen.[6] Faktisch stützt dies die israelische Kriegführung: Es weckt den Anschein, der Not der Zivilbevölkerung Rechnung zu tragen, steht jedoch weiteren Bombardements nicht im Wege. Israel will allerdings humanitäre Hilfe lediglich im Süden des Gazastreifens zulassen.[7]

Keine Kritik

Auch der Angriff auf das Al Ahli-Krankenhaus in Gaza, bei dem am Dienstagabend laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza 471 Zivilisten zu Tode kamen, hat nichts an der Berliner Position geändert. Israelische Regierungsstellen haben inzwischen mehrere Stellungnahmen und Videos in sozialen Medien, die die israelische Urheberschaft entweder rechtfertigen oder abstreiten sollten, wegen offenkundig unzutreffender Angaben wieder gelöscht, erklären aber weiterhin, die Rakete, die das Krankenhaus getroffen habe, sei einer palästinensischen Organisation zuzuschreiben – eine Behauptung, die sogar von britischen und US-amerikanischen Korrespondenten in Israel bzw. im Gazastreifen als unglaubwürdig zurückgewiesen wird.[8] Unabhängig davon ist die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen inzwischen auf mehr als 3.000 gestiegen; einschließlich der Opfer aus dem Al Ahli-Krankenhaus belief sie sich am gestrigen Mittwoch auf 3.478 Personen, mindestens 12.065 wurden verletzt. Bereits bis Montag waren mindestens 23 Gebäude des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA) beschädigt und mindestens 14 UNWRA-Mitarbeiter getötet worden.[9] Auch dazu liegt bislang keine kritische Äußerung seitens der Bundesregierung vor.

„Vernichtungskrieg“

Das deutsche Schweigen zu der rasant zunehmenden Zahl an Todesopfern im Gazastreifen erklärt sich wie üblich aus dem taktischen Umgang der Bundesregierung mit Humanität und Menschenrechten. Dies zeigt ein Vergleich mit früheren Fällen, in denen im Nahen und im Mittleren Osten dicht besiedelte Gebiete im Kampf gegen islamistische Milizen angegriffen wurden. Ein Beispiel bietet die mit russischer Unterstützung durchgeführte Offensive der syrischen Streitkräfte im Herbst 2016 auf Aleppo, wo sich islamistisch-jihadistische Milizen verschanzt hatten; ihr fielen zwischen dem 22. September und dem 22. Dezember 2016 laut den Angaben zweier Organisationen der syrischen Opposition (Violations Documentation Center, Syrian Observatory for Human Rights) rund tausend Zivilisten zum Opfer, eventuell eine begrenzte Zahl mehr.[10] Mit Blick auf die zivilen Todesopfer verlangte die damalige Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, Berlin müsse neue „Sanktionen gegen Russland“ verhängen.[11] Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, erklärte, eine „Sanktionslosigkeit schwerster Kriegsverbrechen wäre ein Skandal“.[12] In deutschen Medien war sogar von „ethnischen Säuberungen“ [13] oder einem „Vernichtungskrieg“ [14] die Rede.

Doppelte Standards

Anders verhielt es sich, als in den Jahren 2016 und 2017 eine westliche Kriegsallianz gegen die Jihadisten des IS kämpfte, die sich in der syrischen Großstadt Raqqa und in der irakischen Großstadt Mossul verschanzt hatten. Allein in der Schlacht um Raqqa kamen von Juni bis Oktober 2017 laut einer detaillierten Studie von Amnesty International sowie der britischen NGO Airwars mehr als 1.600 Zivilisten durch Luftangriffe US-amerikanischer, britischer und französischer Bomber oder durch US-Artillerieangriffe zu Tode.[15] Kein Berliner Politiker forderte Sanktionen gegen Washington, London oder Paris; kein deutsches Medium prangerte „ethnische Säuberungen“ oder einen „Vernichtungskrieg“ an. Nichts davon war auch der Fall, als Zivilpersonen zwischen Oktober 2016 und Juli 2017 in der brutalen Schlacht um Mossul Luftangriffen der westlichen Anti-IS-Koalition zum Opfer fielen. Die Nachrichtenagentur AP veröffentlichte im Dezember 2017 das Ergebnis umfangreicher Recherchen zur Zahl der zivilen Todesopfer in Mossul. Demnach wurden in der Stadt insgesamt zwischen 9.000 und 11.000 Zivilpersonen getötet; mindestens ein Drittel von ihnen, also mindestens 3.000 Menschen, starben bei Bombardements der westlichen Kriegskoalition oder bei Angriffen mit ihr verbündeter irakischer Truppen.[16] Die damalige Gesamtzahl an toten Zivilisten ist im Gazastreifen freilich schon nach zehn Tagen erreicht.


[1] Secretary-General’s remarks at the 3rd Belt and Road Forum for International Cooperation. un.org 18.10.2023.
[2] UN Security Council rejects Russia’s resolution on Gaza that fails to mention Hamas. apnews.com 17.10.2023.
[3] Israel-Gaza crisis: US vetoes security council resolution. news.un.org 18.10.2023.
[4] Eckart Lohse, Christian Meier, Matthias Wyssuwa: Besuch mit mehreren Botschaften. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.10.2023.
[5] Thomas Gutschker: Israels Vorgehen entzweit die EU-Spitze. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.10.2023.
[6] EU kündigt Luftbrücke für Gazastreifen an. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.10.2023.
[7] Netanjahu will Hilfslieferungen in den Gazastreifen zulassen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.10.2023.
[8] Bedrettin Bölükbasi: Angriff auf Gaza-Krankenhaus: Gelöschte israelische Beiträge nähren Spekulationen. fr.de 18.10.2023.
[9] Franca Wittenbrink: Keine Zuflucht in Gaza. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.10.2023.
[10] After more than 2700 civilian casualties and injuries in Aleppo province, 30 hours of no-bombing over the eastern neighborhoods. syriahr.com 19.10.2016. Regime forces re-gain control and advance over rebels in Aleppo city. syriahr.com 12.11.2016. Hundreds of civilians, rebels evacuated from Aleppo. dawn.com 16.12.2016.
[11] Katrin Göring-Eckardt: Der Druck auf Assad und Putin muss wachsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.10.2016. S. dazu Die zivilen Opfer der Kriege (II).
[12] CDU-Politiker fordern Sanktionen gegen Russland. www.tagesspiegel.de 07.10.2016.
[13] Christoph Sydow: Kriegsverbrechen lohnen sich. spiegel.de 29.11.2016.
[14] Rüdiger Schaper: Aleppo-Demonstration in Berlin. tagesspiegel.de 07.12.2016.
[15] Syria: Unprecedented investigation reveals US-led coalition killed more than 1,600 civilians in Raqqa ‘death trap’. amnesty.org 25.04.2023.
[16] S. dazu Deutschlands Interventionsbilanz (I).

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