„Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“ ist eine Parole aus dem Pariser Mai 68.

Genau gegen dieses elende Überleben im herrschenden Unglück, gegen die Gewalt dieses Ausschlusses vom gesellschaftlichen Reichtum und die damit einhergehende Unwürde schliessen die aktuellen Kämpfe in Frankreich wieder an.

Auf zwei Dokumente des aktuellen französischen Widerstands möchte ich hinweisen: Der Dokumentarfilm „Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“ von Emmanuel Gras (Kinostart 2013) und das mit vielen Fotos versehene Buch „Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen“ von Luisa Michael (2019).

Der Film porträtiert die Gelbwestengruppe aus Chartres und zeigt anschaulich, wie sich durch die Durchbrechung der Scham der Armut und der Isolation ein kollektives revolutionäres Subjekt mit vielfältigen Gesichtern herausbildet. Wir sehen die Überlebensbedingungen, die Kommunikation, die Verbindungslinien mit den Demonstrationen in Paris, die Reflexionsprozesse, das Wachsen, die sozialen Beziehungen, die Niederschlagungen und internen Konflikte. „Fragend schreiten wir voran“, die Leitlinie der Zapatisten seit ihrer Erhebung 1994 in Chiapas, Mexiko, wird hier ganz selbstverständlich praktiziert, und auch, dass das Basiselement einer revolutionären Bewegung die freundschaftlichen Bindungen sind, wie es das Unsichtbare Komitee formuliert hat. Es ist ein genauer Film, ein wunderbarer Film ohne Pathos, aber mit der tiefen Berührung durch die Offenheit der Protagonist*innen. Eine Begegnung, die lange nachhallt.

Sehr gut ergänzt wird der Film durch das Buch von Luisa Michael, die ihre anfangs skeptische Beteiligung an einer Gelbwesten-Gruppe im Pariser Nordosten und in Montreuil beschreibt. Auch hier wird, noch ausführlicher und vielfältiger, von dem „fragenden Voranschreiten“ erzählt: Wie kommen wir zu einer echten Gegenmacht, wie erhalten wir unsere Autonomie, wie können wir die partikularen Kämpfe, also etwa die gegen die neo-koloniale Gewalt in den Vorstädten, die Lohnkämpfe und die gegen die Verschärfung des Arbeitsrechts, die feministischen und genderpolitischen Ansätze, die antirassistischen Bewegungen und Initiativen etc. verbinden?

In beiden Dokumenten wird die unmittelbare Entwicklung basisdemokratischer Strukturen deutlich: Vollversammlungen, Delegiertenwahlen für die Versammlung der Versammlungen, lokale Basiskomitees, maisons de peuple, Clubs zur Fortbildung und Reflexion über die ablaufenden Prozesse bilden ein weitmaschiges Gewebe, das sich durch die Erfahrungen verdichtet. Einvernehmlich ist die Ablehnung jeder politischen Repräsentation und ihrer Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, mediale Vermarktung) und der Wille zur Herausbildung anderer Strukturen des Gemeinsamen. Es war klar, dass niemand die Lösung hatte, jeder aber das Recht, sich zu irren. Es entwickelte sich ein Vertrauen in die kollektive Intelligenz.

Da die Gelbwesten auf den Kreisverkehren der Provinz (im November 2018) entstanden, ergaben sich mit deren Zusammenfliessen quasi automatisch die Verbindungslinien zwischen dem ländlich/periurbanen Raum und den Grossstädten. Und in den Grossstädten, speziell in Paris, kamen verschiedenartige Bewegungen zusammen, sogar auf internationaler Ebene durch die Exilanten aus Kämpfen und Bewegungen aus anderen Teilen der Welt. Neben den Demonstrationen auf der Strasse waren Blockaden des kapitalistischen Flusses ein erfolgreicher Störfaktor der kapitalistischen Maschine: Strassenblockierungen, Unterbrechungen der Lieferketten, Bestreikung der Logistikunternehmen und Raffinerien.

Immer wieder war es wichtig, sich Zeit für den Reflexionsprozess zu nehmen, langsam zu sein, die Vorstellungen voneinander und von den nächsten Schritten beweglich zu halten. Über die Ablehnung des Produktions- und Konsumsystems hinaus, das die Armut und den Ausschluss so vieler Menschen bedingt, war der Reflexionsprozess eine Ideensammlung für die Frage: Wie sieht eine andere Welt aus und wie gelangen wir dahin? Auch hier ging es um Selbstermächtigung und Würde.

Der gewaltige Repressionsapparat, der seit dem verhängten und nie zurückgenommenen Ausnahmezustand in Frankreich (2015 unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terror) aufgebaut wurde, schlug erbarmungslos zu. Der Einsatz von Gummigeschossen führte zu Hunderten Schwerverletzter, die Augen oder Hände verloren, zu mindestens einer Toten, die im offenen Fenster ihrer Wohnung erschossen wurde. Massenhafte Verhaftungen auf den Demonstrationen, Präventivverhaftungen und Straflosigkeit der Polizei und der paramilitärischen Einheiten führten zu einer immer weitergehenden fundamentalen Ablehnung des „Systems Macron“.

Heute wird das wieder aufgenommen. Die aktuelle Radikalität, Wut, Aussichtslosigkeit innerhalb des Bestehenden, Ungerechtigkeit der Verhältnisse nimmt die bei den Gelbwesten gemachten Erfahrungen wieder auf, die durch die einschneidenden Massnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus Anfang 2020 abrupt und totalitär abgebrochen wurden (Macron wähnte sich im Krieg!). Es geht vordergründig um die Rentenreform und ihre undemokratische Durchsetzung, aber darüber hinaus geht es um ein ganz anderes Leben. Ein Leben in Würde und Gerechtigkeit, ein Leben, das über das Überleben hinaus geht. Das gute Leben eben.

In dem Sinne heisst: „Wir sollten uns vertrauen“ auch: „Wir sollten uns etwas zutrauen“, was die vielen Menschen auf den Strassen Frankreichs gerade tun.

von Hanna Mittelstädt


Quellen:

„Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“ von Emmanuel Gras, Frankreich 2022 https://dropoutcinema.org/archive/3507/
Luisa Michael: Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen, Edition Nautilus Hamburg 2019. ca. SFr. 28.00
Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand (2010), An unsere Freunde (2015), Jetzt (2017), alle Edition Nautilus, Hamburg

Der Originalartikel kann hier besucht werden