Überall spürbar in Mexiko ist die Dringlichkeit, ja die zwingende Notwendigkeit sich mit der schwerwiegendsten sozialen Krise der letzten hundert Jahre auseinanderzusetzen. Diese Dringlichkeit und Notwendigkeit sind nicht Ergebnis eines blinden Aktionismus. Im Gegenteil, sie sind Reaktion auf das Versagen des Staates, das Verschwinden von Personen aufzuklären, es aufzuhalten und Gerechtigkeit herzustellen. Doch es ist nicht nur der fehlende Wille: Es ist die aktive Rolle des Staates in kriminellen Strukturen, die dazu führt, dass er das Leben seiner Bürger*innen nicht schützen kann.
Auf dieses Problem reagieren einige Künstler*innen in der Ausstellung Performatividades de la búsqueda (Performativitäten der Suche) in der Galería Metropolitana UAM in Mexiko-Stadt. Nicht etwa, um sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, sondern um die Familien auf der Suche nach ihren geliebten Menschen zu begleiten. So sollen aus der Kunst heraus eine Sprache, Narrative und Ansätze entstehen, mittels derer die Gesamtbevölkerung für das Thema sensibilisiert werden kann. „Wie gelingt künstlerischer Aktivismus, ohne den Schmerz der Hinterbliebenen auszunutzen? Indem man einen Dialog auf Augenhöhe kreiert und nicht den Künstler in den Mittelpunkt stellt“, sagt Fabiola Rayas (eine der ausstellenden Künstlerinnen und Mitbegründerin des Projekts Familiares Caminando por Justicia, Anm. d. Redaktion). Seit ihrer Ausbildung befasst sie sich in ihrer Arbeit mit dem Verschwinden von Personen und der Suche nach ihnen.

Die in der Ausstellung Performatividades de la Búsqueda (Performativitäten der Suche) gezeigten Werke sind wie ein Zusammentreffen der verschiedenen Formen der Suche. Hier geht es nicht um das nüchterne Ausstellen von Kunst in einem Museum, sondern um die tiefe Liebe, die die Hinterbliebenen für die Vermissten empfinden und die verschiedene sichtbare Formen annimmt. Die Arbeiten von Künstler*innen wie Fabiola Rayas, Laura Valencia, Lukas Avendaño, Tania Andrea Olea, Sabina Aldana, Laura Uribe, Luz María Sánchez, Rafael del Río, Daniela Guillén, Juliana Spinola, Laura Loredo und dem Projekt Huellas de la Memoria (Spuren der Erinnerung) ermöglichen eine Annäherung an das, was die Suche für die Angehörigen bedeutet. Dieses kollektive Einfühlungsvermögen macht aus der Ausstellung einen Spiegel, der mit der gleichen Intensität, mit der der Staat sich so häufig seiner Verantwortung zu entziehen versucht, den Verschwundenen ein Gesicht gibt, Erinnerung ermöglicht, gegen das Vergessen wirkt und die Suche aufrecht erhält. „Die Kunst“, sagt Rayas weiter, „ist als Medium zu verstehen und nicht als ein Selbstzweck. Mir ist bewusst geworden, dass es wenig bringt, Kunst zu diesem Thema zu machen, ohne die Familien einzubinden. Man kann nicht losgelöst vom Kontext künstlerisch tätig sein, das ergibt keinen Sinn.“

Foto: Heriberto Paredes

 

„Wir werden nie gehen, wir sind nie gegangen“

Entfernung wird manchmal auf relative Art und Weise gemessen, genauso wie die Nähe, die Anwesenheit und die Abwesenheit. So konnte ich auch über die Entfernung hinweg mit einer der Personen in Kontakt treten, die durch ihre Sensibilität und künstlerische Erfahrung die Ausstellung als Raum der künstlerischen Reflexion mitgeprägt hat. Lukas Avendaño teilte über WhatsApp so viele treffende Antworten, so viele persönliche Erfahrungen, dass ich davon nur einige wiedergeben kann. Nämlich die, von denen ich glaube, dass sie dem Kern dieser höchst ästhetischen und politischen Ausstellung am nächsten kommen. Mit seiner bedächtigen Stimme gibt er einen Rhythmus vor, in dem aus Worten Bilder entstehen, die ich gerne im Ganzen teilen möchte:

„Ich engagiere mich seit dem Verschwinden meines Bruders im Jahr 2018. Es war keine bewusste Entscheidung, ebenso wenig wie das Verschwinden freiwillig ist. Es gibt eine Menge Faktoren, die Einfluss darauf haben, ob man sich entscheidet, mit dem Geschehenen in Stille zu leben oder aber hinaus auf die Straße zu gehen und für die Rechte des Verschwundenen einzustehen. Meine Beteiligung an dem Projekt ist das Ergebnis vieler Aktionen, die wir in den vier Jahren seit dem Verschwinden meines Bruders organisiert haben, z.B. Flashmobs oder die Kreation von QR-Codes, die zu einem kurzen Doku-Video verlinken. Auch animierte Bilder, die wir bei einer Aktion vor dem mexikanischen Konsulat in Barcelona am 21. Juni 2018 verwendet haben.

Ich habe Kunst nie als Selbstzweck betrachtet. Es ist einfach das Einzige, was ich kann. Wenn ich Anwalt oder Arzt wäre, würde ich mich anders engagieren. Aber was ich mache, hat mit Inszenierung zu tun und es ist mein Weg, dem Versagen des Staates entgegenzutreten. Ich möchte, dass der Beruf des Künstlers, der per se erstmal unpolitisch ist, sich politisiert und gegen die staatliche Gewalt vorgeht, der wir als hinterbliebene Familien ausgesetzt sind. Etwa vonseiten verschiedener staatlicher Institutionen, der Menschenrechtsbehörden oder des Marineministeriums.
Wir als Familien wollen der Generalstaatsanwaltschaft klarmachen, dass wir nicht aufhören werden, Aufklärung zu fordern. Und solange sie uns das Recht nehmen auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit und darauf, dass sich die Dinge nicht ständig wiederholen, müssen wir uns weigern zu vergessen, das Verschwinden als etwas Natürliches hinzunehmen, das Verschwinden von Personen zu normalisieren. Wir müssen die Behörden daran erinnern, dass sie immer wieder lügen, dass sie ineffizient sind und ihre bloße Existenz eigentlich sinnlos ist.

n der Ausstellung sind auch Videoaufnahmen von den Performances von Lukas Avendaño zu sehen. Foto: Heriberto Paredes

Menschen, die wie ich auf dem Land aufgewachsen sind, wissen, dass unsere Existenz voller ästhetischer Erfahrungen ist, voller sinnlicher Eindrücke, Geruchseindrücke, Geschmackseindrücke und voller Erinnerungen. Ich habe für mich entschieden, dass auch die Fallakten der Verschwundenen dazugehören und Teil meiner ästhetischen und künstlerischen Erfahrung sind. Es wäre ein grundlegender Fehler, anzunehmen, dass die Erfahrung des Verschwindenlassens nicht auch eine ästhetische Erfahrung ist und wir nicht auch das Recht hätten, diese Erfahrung zu nutzen.
Wir beginnen, uns an einen bewaffneten Frieden zu gewöhnen, an einen umzäunten Frieden, einen Zustand des Eingepferchtseins. Aber Menschen wie wir, die sich dieses Zustandes bewusst sind, erkennen sehr genau, wenn die Umzäunung enger wird. Und wir erkennen den Moment, in dem dieser bewaffnete Friede noch bewaffneter wird, bis auf den letzten Millimeter bewaffnet ist, und wenn er sich in unserem Bewusstsein einnistet wie ein ausgefeiltes System der Selbstüberwachung. Und wenn dies geschieht, ignorieren wir die ästhetischen und künstlerischen Erfahrungen, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht da wären.

Und wir gehen nicht, wir sind niemals gegangen. Obwohl sie uns verschwinden lassen wollen, wird es immer jemanden geben, der diese Leere füllen wird, und zwar mit den Mitteln, die wir haben als Menschen, die weniger als weniger als niemand sind*. Wir haben den Einspruch des Gewissens gegen jede unmenschliche Ordnung, eine Abwesenheit die Anwesenheit beschwört. Körper, die nicht da sind, und andere Körper, die nach diesen verlangen. Wir werden die Straflosigkeit und die Schande, die sich als Werte in unserer Republik und Demokratie verfestigt haben, vertreiben. Nicht aus Rache, sondern um Gerechtigkeit zu erlangen.“

Die Rolle der Kunst

Die Ausstellung Performatividades de la búsqueda ist noch bis März 2023 zu sehen. Sie ist eine Zusammenstellung verschiedener künstlerischer Vorgehensweisen, die sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren entwickelt haben. Ein Großteil der Forschungsarbeit, auf der die Ausstellung aufbaut, hat die Wissenschaftlerin Ileana Diéguez geleistet. Mit ihrer Arbeit will sie den Kampf der Familien sichtbar machen und ihnen nicht nur helfen, ihre Familienmitglieder wiederzufinden, sondern auch Gerechtigkeit zu erlangen.

Das Kunstprojekt Huellas de la Memoria zeigt Schuhe von Opfern gewaltsamen Verschwindenlassens. Foto: Heriberto Paredes

„Die Wissenschaftlerin Ileana Diéguez begleitet uns bereits seit mehr als sieben Jahren. Sie hat uns Hintergrundinformationen geliefert, sich intensiv mit unserer Suche auseinandergesetzt und uns dabei geholfen, unser Anliegen bekannter zu machen. All das tat sie mit dem Ziel, die Realität zu zeigen, die für uns so unerträglich ist. Wir könnten ohne die Unterstützung von Menschen wie Ileana die Suche nach unseren Vermissten nicht durchführen“, betont Lety Hidalgo in einer Sprachnachricht. Sie ist die Mutter von Roy Rivera Hidalgo, der am 11. Januar 2011 im Ballungsgebiet von Monterrey verschwunden ist. Für Lety spielt die Kunst bei der Suche eine zentrale und ganz klare Rolle: „Die Kunst sollte die Macht in Frage stellen, sollte die Realität, die wir leben, in Frage stellen. Wenn die Kunst Fragen stellt und die Lebensrealität von Menschen sichtbar macht, dann erst wird sie ihrer Aufgabe gerecht und stärkt darüber hinaus die Gemeinschaft.“ Auf Grundlage dieser Prämissen ist jedes einzelne Werk entstanden, dass in der Galería Metropolitana  derzeit zu sehen ist.
Für Fabiola Rayas bringt dieser künstlerische Prozess auch eine Dokumentation des Erinnerns hervor, die gleichzeitig auch eine Dokumentation der Geschehnisse ist, die zum Vorgang des Verschwindens gehören. „Wir werden dieses Erinnerungsdokument in der Gemeinschaft hinterlassen, in der es entstanden ist“, sagt sie.

*“Menos que menos que nadie“ ist ein von Lukas Avendaño formuliertes Konzept, um eine verschärfte Form der Marginalisierung zu beschreiben: Ein niemand zu sein bedeutet, am Rand der Gesellschaft zu existieren. Wer weniger als niemand ist, existiert an der Peripherie der Peripherie. Avendaño meint damit seine eigene Erfahrung der mehrfachen Diskriminierung als Person aus armen Verhältnissen, als Indigener und als Homosexueller. (Anm. d. Redaktion)

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