Wir haben den humanistischen Abgeordneten Tomás Hirsch interviewt, um zu erfahren, wie er das Scheitern des Verfassungsprojekts sieht, über das am 4. September in Chile abgestimmt wurde, und um zu versuchen, das Thema möglichst umfassend zu reflektieren.

Warum der Triumph der Ablehnung?

Ich denke, es ist immer noch sehr schwierig, mit Gewissheit eine gründliche Analyse durchzuführen, vor allem im Hinblick auf die Ursachen für dieses Ergebnis. Klar ist, dass es eine sehr schwere Niederlage für diejenigen von uns war, die eine neue demokratische Verfassung anstrebten, durch welche die Rechte in unserem Land garantiert würden. Und es ist sicherlich ein Ergebnis, das schmerzt.

Gleichzeitig, und das muss ich gleich zu Beginn dieses Interviews sagen, werden wir, die wir seit mehr als 40 Jahren für eine demokratische Verfassung in Chile gekämpft und das Erbe Pinochets hinter uns gelassen haben, die wir in den Jahren der Diktatur für diesen Kampf verhaftet wurden, die wir in unseren Präsidentschaftskampagnen Pinochets Verfassung über Bord geworfen haben, uns keineswegs davon abhalten lassen, diese soziale Forderung noch ein oder zwei Jahre weiter zu vertreten. Die Aufgaben, die Kämpfe und die Herausforderungen der Humanisierung hören nicht auf, wenn sie scheinbar scheitern. Silos Worte kommen mir in den Sinn, als er sagte: „Wir sind gescheitert, aber wir beharren, wir beharren, weil wir auf den Flügeln eines Vogels fliegen, der Absicht heißt“. Und das ist nicht nur eine Phrase, es hat mit einer Überzeugung zu tun, mit einem Lebensziel, das uns antreibt, weiter daran zu arbeiten, ein zutiefst unmenschliches System zu verändern.

Um auf die Frage zurückzukommen, warum der Triumph der Ablehnung so groß ist – ich denke, dass es sich um ein komplexes und multisektoriales Problem handelt. Angefangen bei den Fehlern, die beim Konvent schon zu Beginn gemacht wurden und zu einer großen Enttäuschung führten. Vom ersten Tag an, als uns einerseits die Rede von Elisa Loncón bewegte und andererseits das Spektakel einiger Konventsmitglieder, die den Konvent nicht arbeiten ließen. Und dann war da noch die durchgesickerte Tonaufnahme, in der der Sekretär des Konvents den Präsidenten fragte: „Was machen wir mit diesem Zirkus“? Oder die Lügen von Rojas Vade, die einen sehr starken Einfluss auf die Menschen hatten; wie diese Kandidatur auf einer Lüge aufgebaut war, und wie einer in der Dusche abgestimmt hat… nun, kurz gesagt, ich weiß nicht, ob es sich lohnt, so ins Detail zu gehen, aber es gab eindeutig Situationen im Konvent, die Distanz erzeugt haben.

Zweitens muss gesagt werden, dass es vom ersten Tag an eine Kampagne der politischen Elite und vor allem der wirtschaftlichen Elite, der Mächtigen in diesem Land gab, derjenigen, die den Prozess in Chile kontrolliert haben – eine brutale und intensive Kampagne, um die Möglichkeit einer neuen Verfassung der Rechte in Chile zu diskreditieren und zu disqualifizieren, und das hat sich durchgesetzt, weil sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel genutzt haben: die Medien, die sozialen Netzwerke mit einer Kampagne, die in die Millionen ging. Noch während wir dieses Interview geben, fordern US-Kongressabgeordnete, dass die Geschäftsführer von Facebook, Twitter und anderen Netzwerken eine Erklärung zu der Desinformations- und Fake-News-Kampagne abgeben, die in Chile durchgeführt wurde.

Andererseits glaube ich, dass eher nach Gefühl als inhaltlich abgestimmt wurde – auch wenn es inhaltliche Faktoren gab, die Zweifel und Ängste auslösten, welche durch diese Desinformationskampagne verstärkt wurden: dass die Menschen ihre Häuser verlieren würden, dass ihnen die Rentenersparnisse weggenommen würden, dass sie nicht mehr frei reisen könnten, dass nach einem anderen System Recht gesprochen würde – alles absolut unzutreffende Aussagen, die aber bestimmte atavistische Ängste bei den Leuten heftig schürten.

Da ist noch ein anderer Faktor: es gab nämlich eine Tendenz, die Jastimmen mit der Unterstützung dieser Regierung in Zusammenhang zu bringen; wenn man sich die Umfragen-Ergebnisse ansieht, lag die Zustimmungsquote für den Präsidenten bei 37 oder 38%, was millimetergenau dem Prozentsatz der Jastimmen entsprach. Mit anderen Worten: Es besteht ein direkter Zusammenhang.

Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist, dass die Wahl diesmal obligatorisch war, und weil sie obligatorisch war, haben Millionen von Menschen teilgenommen, die das normalerweise nicht tun, die im Allgemeinen zu den uninformiertesten, desillusioniertesten Bevölkerungskreisen gehören, die das System und die Lebensumstände, in denen sie sich befinden, am meisten ablehnen. Daher überrascht es mich nicht, dass sie mit ihrer Stimme auch ihre Ablehnung eines Systems im Allgemeinen und der Verpflichtung, wählen zu gehen, zum Ausdruck gebracht haben.

Ich denke also, es ist die Summe dieser Faktoren.

Das Kurioseste von allem ist: ich habe den Eindruck, dass der vom Konvent vorgeschlagene Text ein sehr guter Text ist, der der großen Mehrheit unseres Landes nützt. Es ist daher widersprüchlich oder inkohärent, dass die Bevölkerungsgruppen, die möglicherweise vom Recht auf Wasser, von der Anerkennung indigener Völker, von der Gleichstellung der Geschlechter und von so vielen anderen Themen profitieren könnten, dagegen stimmen. Und das spricht für eine schwerwiegende Fehlinformation, die mit dem neoliberalen Modell zusammenhängt: dieses hat den Glauben suggeriert, man werde das, was man hat, verlieren – was ziemlich illusorisch ist, aber Teil dessen, was in diesem Modell vor sich geht.

Angesichts dieses überwältigenden Phänomens erwiesen sich alle Umfrageergebnisse als falsch, stattdessen fand eine Ablehnung statt, die fast eine neue und andere „Explosion“ des Konservatismus darstellt. Mit welchen Konsequenzen rechnest du?

Erstens stimme ich nicht zu, dass wir vor einem „Ausbruch“ des Konservatismus stehen. Wir stehen nicht vor einem „Ausbruch“, der Ausbruch war das Erwachen eines ganzen Volkes, eines Landes, das sich gegen Ungerechtigkeit, gegen Misshandlung, gegen den Mangel an Würde erhoben hat, und das im Oktober 2019 einen tiefgreifenden Wandel in unserem Land gefordert hat, was in der Forderung nach einer neuen Verfassung mündete. Was wir erleben, ist also nicht ein Ausbruch und schon gar nicht ein Ausbruch des Konservatismus, denn es geht nicht um die Forderung nach einem konservativeren System mit weniger Veränderungen. Was wir hier haben, ist eine Menge Fehlinformation, Angst und Individualismus, der auf falschen Drohungen beruht. Das ist es, was am meisten präsent war, eine Menge Fehlinformationen über den Inhalt der neuen Verfassung, und was es gab, war eher ein Gefühl. Ein Gefühl, das Wirkung hatte, und nicht eine Ablehnung dieses oder jenes Inhalts, obwohl es auch das gab, aber ich glaube, es war vor allem ein allgemeines Gefühl in Bezug auf den Konventionsprozess.

In Anbetracht der oben genannten Tatsachen wäre es meiner Meinung nach ein großer Fehler, wenn ein politischer Bereich versuchen würde, von diesem Ergebnis zu profitieren. Der rechte Flügel würde sich zu Unrecht als Sieger bezeichnen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die für das Nein Verantwortlichen alle wichtigen Persönlichkeiten dieser Welt verstecken mussten, von ihrem Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast bis hin zum ehemaligen Präsidenten Sebastián Piñera, um triumphieren zu können; die gesamte rechte politische Führung wurde komplett versteckt und getarnt und es wurden Leute vorgeschoben, die aus der Mitte-Links-Welt kamen, aus der Ex-Concertación, von denen wir aber wissen, dass sie Teil der so genannten Partei der Ordnung waren, also derjenigen, die das neoliberale Modell in den letzten 30 Jahren aufrechterhalten und vertieft haben. Ich denke, wir müssen vorsichtig sein, wenn wir versuchen, den Sieg einem bestimmten politischen Sektor zuzuschreiben, denn das war nicht der Fall.

Das bedeutet nicht, dass diejenigen von uns, die tiefgreifende Veränderungen des derzeitigen Modells anstreben, nicht darüber nachdenken und Selbstkritik üben sollten, wie wir uns vernetzen, wie wir kommunizieren und wie wir näher an das Herz grosser Bevölkerungsgruppen herankommen können, insbesondere der verschiedenen Welten der Landbevölkerung, der Indigenen, der Arbeiter:innen usw., die wir mit unserer Botschaft eindeutig nicht erreicht haben.

Natürlich gibt es nach wie vor die Probleme der Medien, die Fake News, die Milliarden von Pesos, auf die der rechte Flügel und die Ablehnenden gezählt haben, aber unabhängig davon müssen wir eine Selbstkritik und eine Bewertung vornehmen, ohne uns selbst herabzusetzen, mit dem Finger zu zeigen oder uns gegenseitig zu beschuldigen. Wir können aus dieser Situation lernen, um zu verstehen, wie wir mit zukünftigen Prozessen umgehen müssen, denn ich habe keinen Zweifel, dass dieser Prozess weitergehen wird.

Wie stellst du dir die Kontinuität des Verfassungswandels in Chile vor?

Der Verfassungsprozess muss und wird weitergehen. Weil die Verfassung von 1980 tot ist. Obwohl sie aus rechtlicher Sicht heute noch in Kraft ist, hat sie jede Gültigkeit verloren. Niemand mehr erkennt sie als Rahmen für die zukünftige Entwicklung unseres Landes an.

Zweitens, weil nach dem Plebiszit die Verpflichtung eingegangen wurde, eine neue Verfassung zu erarbeiten. Achtzig Prozent der Wählerinnen und Wähler sprachen sich für eine neue Verfassung aus, und sie sagten auch, dass sie von einem zu 100 % gewählten Konvent ausgearbeitet werden sollte.

Deshalb sagen wir jetzt, dass es eine neue Verfassung geben wird, dass sie von einem Konvent erarbeitet werden muss, dass dieser zu 100% gewählt werden muss, dass er paritätisch sein muss, da es nie wieder Prozesse geben darf, in denen die Geschlechter nicht absolut paritätisch vertreten sind, dass die indigenen Völker beteiligt werden müssen, da niemand in Chile akzeptieren kann, dass sie ausgeschlossen sind, und dass die Unabhängigen und die Vielfalt unseres Landes beteiligt werden müssen.

Wir werden praktische Fragen klären müssen, Termine, wie viele Konventsmitglieder, wie sie gewählt werden … kurz gesagt, es gibt viele Fragen, die wir bereits zwischen den verschiedenen politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen diskutieren, aber klar ist, dass der Prozess weitergehen wird, bis wir eine neue Verfassung haben.

Obwohl der neue Prozess mit einem leeren Blatt Papier beginnen muss, habe ich keinen Zweifel daran, dass der Text des Konvents, der gerade zu Ende gegangen ist, ein hervorragender Ausgangspunkt sein wird, um die vielen darin festgelegten Rechte aufzugreifen und sicherlich auch umzusetzen.

Kurz gesagt: Dieser Prozess wird länger dauern, als uns lieb ist, er wird sich ein oder zwei weitere Jahre hinziehen, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass wir in Chile eine Verfassung haben werden, die demokratisch, geschlechterparitätisch und unter Beteiligung der indigenen Völker entstanden ist und die einen Staat festschreibt, der die Rechte für alle garantiert.

Übersetzung aus dem Spanischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!