„Jedem, der Präsident werden möchte, sollten Sie sofort sagen: ‚Diesem Typen möchte ich nicht weiter zuhören!‘“

Am 7. Dezember 2020 erschien im Verlag Graswurzelrevolution ein Buch, das sich ausdrücklich dem Anarchismus-Verständnis Noam Chomskys widmet. Noam Chomsky prägte mit seiner Transformationsgrammatik zur Entstehung und zum Aufbau von Sprache die Linguistik (1). Sein Ansatz wurde weltweit zum Lehrgegenstand aller Studiengänge, die sich mit Sprache und Spracherwerb auseinandersetzen.Seine Forschungen und seine Mitarbeit am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston seit 1955 sicherten ihm früh internationale Aufmerksamkeit, die er politisch einsetzte, als er sich in der Bürgerrechtsbewegung gegen den Vietnamkrieg engagierte und damit seine zweite, ebenfalls öffentlichkeitswirksame Rolle als Kritiker der US-Politik einnahm (2). Seine Medienkritik und Medienanalyse „Manufacturing Consent“, „Consent without Consent“ etc. in der er die Mechanismen blosslegte, wie in Demokratien Meinungsmanipulation eingesetzt wird und was sie bewirkt, kann als eine Art Vertiefung und Fortsetzung von George Orwells „Newspeak“ gewertet werden.Auch wenn in den 1980er/90er Jahren die grossen Medien und Verlage ihm eher selten eine Plattform boten und es so schien, dass es manchmal etwas ruhiger um ihn wurde, bildete seine Kritik und Analyse der amerikanischen Aussenpolitik kontinuierlich den Schwerpunkt seiner publizistischen Arbeit, die gern von kleineren, linken und anarchistischen Verlagen, alternativen Radiostationen, den Zeitschriften der Gegenöffentlichkeit und letztlich dem US TV-Sender „Democracy Now“ verbreitet wurde.Mit der Globalisierung und dem Entstehen des Weltsozialforums stieg das Interesse an ihm als einem langjährigen Sachkenner von Zusammenhängen, die oftmals die Frage aufwarfen, woher bezieht er all diese Insider-Informationen? Er selbst beantwortete diese Frage recht einfach: zum einen nutzt er alle offiziellen Quellen und zum zweiten kennt er weltweit andere Aktivist*innen, die sich ebenfalls Zugang zu Quellen in ihren Ländern verschaffen und sich mit ihm im Austausch befinden. Das erklärt beispielsweise auch seine gute Sachkenntnis zu Israel. Die Anerkennung weltweit stieg, in Deutschland verlieh ihm die Carl-von-Ossietzky-Universität den gleichnamigen Preis, den er in Oldenburg persönlich ebenso gerne in Empfang nahm wie den Erich Fromm-Preis in Stuttgart.

Was treibt Chomsky an?

Nachdem die Frage nach den Quellen für seine Sachkenntnis geklärt ist, stellt sich natürlich die Frage, was treibt ihn an? 1928 geboren, im 93. Lebensjahr, könnte er sich zur Ruhe setzen und niemand würde sich wundern. Stattdessen meldet er sich ununterbrochen zu Wort. Seit der rechtsnationalistischen Präsidentschaft Trumps, der vertieften Spaltung der US-Gesellschaft und den Gefahren durch die Wirtschaftspolitik der USA war seine Analyse besonders gefragt. Man kann davon ausgehen, dass es ihn stark umtrieb, was in dieser Zeit passierte, weil er in diesem Zusammenhang bereit war, entgegen einer puristischen Anarchismus-Haltung, staatliche Elemente wie die Sozialversicherungen als Schritt in eine bessere Richtung ins Gespräch zu bringen. Insofern kommt das neue Buch von dem Herausgeber und Übersetzer Rainer Barbey zu seinem Anarchismus-Verständnis genau zum richtigen Zeitpunkt.

Was ein wenig irritiert ist, dass Barbey bei den Angaben zu den Texten zwar immer auf die amerikanischen Originale verweist, aber mit der Ausnahme von Kapitel 2 die bereits vorliegenden deutschen Übersetzungen nicht nennt. So ist das Kapitel 3 „Anmerkungen zum Anarchismus“ beispielsweise 1974 als „Bemerkungen zum Anarchismus“ in dem edition suhrkamp Bändchen „Aus Staatsraison“ in der Übersetzung von Burkhard Kroeber veröffentlicht worden. Das Kapitel 5 „Objektivität und liberale Wissenschaft“ kam als „Objektivität und liberales Gelehrtentum“ 1967 in der Suhrkamp Hardcover-Ausgabe „Amerika und die neuen Mandarine“ in der Übersetzung von Anna Kamp heraus. Und das Kapitel 7 „Ziele und Visionen“ wurde unter diesem Titel 1997 von Michael Schiffmann für die Nr. 60 des „Schwarzen Fadens“ übersetzt.

Barbey gibt in seinem zehnseitigen Vorwort einen gelungenen ersten Einblick in Chomskys Denken und rechtfertigt damit auch seine getroffene Auswahl. Den versammelten Texten auf den folgenden 200 Seiten liegt ein Menschenbild zugrunde, das als Erfüllung des Mensch-Seins die Fähigkeit nach kreativer Selbstäusserung benennt. Jeder Mensch soll in der Lage sein, alle Aspekte seines Lebens und Denkens frei kontrollieren zu können. Diesem Ziel widerspricht für Chomsky in erster Linie die entfremdete Arbeit, der die übergrosse Mehrheit der Menschen unterliegt.

In Diktaturen und im Staatssozialismus tritt dies offen zu Tage und lässt sich nicht beschönigen, deshalb betont Chomsky, dass auch in den Demokratien der Welt der Wirtschaftsbereich von jeder Mitbestimmung der Bevölkerung ausgespart blieb. Die sogenannten repräsentativen Demokratien beziehen ihren eh schon minimalen Anteil an Mitbestimmung nur auf den politischen Bereich, die Wirtschaft wird nicht tangiert. Stattdessen werden über Sportsendungen, Sitcoms, ausgesuchte TV-Diskussionsrunden und auch über das scheinbar harmlose Frühstücksfernsehen etc. die „richtigen Wertvorstellungen“ und Denkweisen indoktriniert.

Seine Kritik an den Methoden des vorherrschenden Kapitalismus speist sich aus den Beobachtungen und der Analyse von Ursachen und Wirkung. Die ideengeschichtliche Verankerung, aus der Chomsky seine Haltung zu den Erscheinungsformen und zur Wirkungsweise des Kapitalismus ableitet, nimmt er aus dem Anarchismus Michail Bakunins und Peter Kropotkins, dem Anarchosyndikalismus Rudolf Rockers und den Freiheitsgedanken Wilhelm von Humboldts. Dass letzterer seine Kritik der Macht nur am Staat und der Kirche festgemacht hat, sieht Chomsky der Epoche geschuldet. In Humboldts Zeit, so Chomsky, habe es noch keine ausgeprägte wirtschaftliche Machtkonzentration gegeben, die die menschliche Freiheit dermassen einschränken konnte, wie dies in unserer Gegenwart möglich wurde.

Wirtschaftliche Macht als grösste Bedrohung der Freiheit

Dass Chomsky in der wirtschaftlichen Macht jedoch die grössere Bedrohung für die menschliche Freiheit sieht, wurde erneut deutlich, als er die Entscheidungen Trumps – angefangen mit massiven Steuerentlastungen – zugunsten der Wirtschaftsvertreter und gegen die sozial Schwachen kritisierte und dabei den Sozialstaat als Zwischenschritt zur freien Gesellschaft in Kauf nahm. In diesem Zusammenhang verortet er im Übrigen die rechtspopulistische US-Partei der Libertarians auf Seiten Trumps und dessen republikanischen Nachbetern und nimmt deren Vertretern die von ihnen propagierten Freiheitsideale nicht ab.

Die antistaatlichen Gesellschaftsvorstellungen etwa Murray Rothbards nennt er grauenvoll und hasserfüllt, weil an die Stelle des Staates ein rücksichtsloser Egoismus der Reichen und damit wiederum der einflussreichen Wirtschaftsführer treten würde. Chomsky sieht die originären libertären Inhalte eindeutig mit freiheitlich sozialistischen Inhalten verknüpft. Dabei nennt er bewusst Ideen, die im Anarchosyndikalismus und im Rätekommunismus entwickelt wurden und verweist wiederholt auf Rudolf Rocker, Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek.

Spätestens ab 1917 diente die Idee der Räte, der Kollektivierung und der Selbstverwaltung als Modell für eine Kontrolle der Arbeit durch die Arbeitenden selbst und als Modell für eine Mitbestimmung der Menschen an ihren Wohnorten, sei es in der Stadt oder auf dem Land. Dass dies nicht eins zu eins auf heute übertragen werden kann, versteht sich von selbst, aber als motivierender Ausgangspunkt für eine Anpassung an die heutigen Bedingungen und Möglichkeiten sollten diese Modelle zugunsten der Freiheit der Menschen weiterentwickelt werden.

Die Kritik an Chomsky, gerade auch von anarchistischer Seite, gilt den Zwischenschritten, die sich daraus ergeben können, dass man sich z.B. zugunsten einer ‚Krankenversicherung für alle’ auf sozialstaatliche Regelungen einlässt, oder aus der Gegenwart: dass man – zumindest in der Anfangsphase der Pandemie – zugunsten der Gesundheit der Menschen im Land mit Hilfe staatlicher Politik teilweise gegen wirtschaftliche Interessen entschied, etwas was in der Folge dann wieder zurückgenommen werden musste und zu dem – sich selbst permanent widersprechenden – kaum noch nachvollziehbaren Zickzackkurs geführt hat. Trotzdem gilt es zu bedenken, dass solche Fragen auch von einer freiheitlichen Gesellschaft beantwortet werden müssen.

Die ideengeschichtliche Verankerung, aus der Chomsky seine Haltung zu den Erscheinungsformen und zur Wirkungsweise des Kapitalismus ableitet, nimmt er aus dem Anarchismus Michail Bakunins und Peter Kropotkins, dem Anarchosyndikalismus Rudolf Rockers und den Freiheitsgedanken Wilhelm von Humboldts.

Für Chomsky geht kein Weg an einer guten Bildung vorbei; für ihn wurde auch die Soziale Revolution in Spanien 1936/37 nur umsetzbar durch die ausgiebige und langjährige Bildungsarbeit der Anarchosyndikalist*innen in den Ateneos vor Francos Putsch. Ohne dieses „Handwerkszeug“ wäre eine Kollektivierung in einer Industriestadt wie Barcelona genauso wenig möglich gewesen wie die Kollektivierungen auf dem Land in Aragon, Katalonien, der Levante etc.

Für Chomsky schliesst sich hier beispielhaft ein Kreis, Humboldts Bildungsideal für alle Menschen, um sie zur Erhaltung der Freiheit zu befähigen, Bakunins und Kropotkins Anarchismus als radikale und soziale Fortentwicklung des Liberalismus und Rockers rigorose Ablehnung jeder hierarchischen und totalitären Einflussnahme durch Parteien oder einer Symbiose von Staat und Partei für die Herausbildung einer freien Gesellschaft. Um diese zu erreichen werden Handlungen und Experimente hilfreich, die Erkenntnisse vermitteln, auch wenn sie innerhalb kapitalistischer Staaten ansatzweise ausprobiert werden.

In diesem Sinn ist Rainer Barbey zuzustimmen, wenn er in der langwierigen Umsetzung anarchistischer Ideen bei Chomsky den behutsam vorgehenden reformistischen Anarchisten entdeckt. Denn Vorrang hat für Chomsky, dass möglichst viele Menschen an Erfahrungen teilhaben, die vorgebliche Autoritäten überprüfen und hinterfragen. In „Radical Priorities“ schrieb er 1981: „Keine Bewegung für eine soziale Veränderung kann hoffen ihr Ziel zu erreichen, bevor sie nicht in den Bevölkerungsschichten verankert ist, die in jedem Bereich die produktive und kreative Arbeit machen.“

Wolfgang Haug
graswurzel.net

Noam Chomsky: Über Anarchismus. Beiträge aus vier Jahrzehnten, Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Rainer Barbey, Verlag Graswurzelrevo-lution, Heidelberg 2020. 246 Seiten. CHF ca. 23.00 ISBN: 978-3-939045-42-7

Fussnoten:

(1) Vgl. Noam Chomsky: Aspekte der Syntax-Theorie, Suhrkamp Wissenschaft 1973.

(2) Vgl. Noam Chomsky: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, edition suhrkamp 1971.

Der Originalartikel kann hier besucht werden