Überraschung bei der Abschlussfeier anlässlich der Diplomverleihung in Paris: Junge französische Agraringenieure sind nicht stolz auf ihr Diplom und fordern zum Desertieren auf – aus dem ausbeuterischen, heuchlerischen, verlogenen und zerstörerischen System, in dem sie in ihrer Ausbildung geschult wurden.

Ihre Schlussfolgerung: Dieses exzessiv industrialisierte, kapitalistische System ist nicht mehr tragfähig und daher zu desertieren. An alle, die noch Zweifel haben, lautet ihr eindringlicher Appell: Ihr seid nicht allein, wenn ihr spürt, dass etwas in unserem System nicht stimmt!

Sie prangern an, machen aber auch Vorschläge. Indem sie von ihrem vielfältigen Engagement berichten, laden sie dazu ein, sich an kollektiven, ökologischen, sozialen und altruistischen Antworten zu beteiligen.

Das folgende Video gibt die gesamte Rede der acht jungen Absolventinnen und Absolventen des Instituts AgroParisTech, einer französischen Hochschule und Eliteuniversität für Agrar-, Umwelt- und Ernährungswissenschaften, vom 30. April 2022 wieder. In den Video-Einstellungen können englische und spanische Untertitel gewählt werden. Es wurde bereits über 700.000 Mal angeklickt.

Wir publizieren untenstehend die deutsche Übersetzung dieser bemerkenswerten und historischen Rede, die es bis in die großen französischen Medien wie Le Monde geschafft hat.

 

 

Abschlussfeier der AgroParisTech: Aufruf zum Desertieren

Bei ihrer Abschlussfeier riefen acht junge Ingenieurinnen und Ingenieure der AgroParisTech ihre Kolleginnen und Kollegen dazu auf, von ihren Posten zu desertieren. „Warten wir nicht auf den 12. IPCC-Bericht, der zeigen wird, dass Regierungen und multinationale Konzerne die Probleme immer nur verschlimmert haben, und der seine letzte Hoffnungen in Volksaufstände setzt. Ihr könnt jetzt abzweigen“.

 

Die Absolventinnen und Absolventen von 2022 sind heute nach drei oder vier Jahren an der AgroParisTech ein letztes Mal zusammengekommen. Viele von uns wollen nicht so tun, als seien wir stolz und verdienstvoll, diesen Abschluss am Ende einer Ausbildung zu erhalten, die dazu anspornt, sich an den weltweit laufenden sozialen und ökologischen Verwüstungen zu beteiligen. Wir sehen uns nicht als „Talente eines nachhaltigen Planeten“ [neues Motto von AgroParisTech].

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Wir sehen die ökologischen und sozialen Verwüstungen nicht als „Herausforderungen“ oder „Aufgabe“, für die wir als Ingenieurinnen „Lösungen“ finden sollten.

Wir glauben nicht, dass wir „alle Landwirtschaften“ brauchen.

Wir sehen vielmehr, dass die Agrarindustrie überall auf der Erde einen Krieg gegen das Lebendige und die Bauernschaft führt.

Wir sehen Wissenschaft und Technik nicht als neutral und unpolitisch an. Wir glauben, dass technische Innovationen und Start-ups nichts anderes als den Kapitalismus retten werden.

Wir glauben weder an nachhaltige Entwicklung, noch an grünes Wachstum oder die „ökologische Transition“, ein Ausdruck, der impliziert, dass die Gesellschaft nachhaltig werden kann, ohne dass die herrschende Gesellschaftsordnung beseitigt wird.

AgroParisTech bildet jedes Jahr Hunderte von Studentinnen und Studenten aus, um auf vielfältige Weise für die Industrie zu arbeiten:

– Pflanzen im Labor für multinationale Konzerne zu manipulieren, die die Versklavung von Landwirtinnen und Landwirten verstärken,

– Fertiggerichte und Chemotherapien zu entwerfen, um die verursachten Krankheiten anschließend zu heilen,

– Labels für das „gute Gewissen“ zu erfinden, damit Manager glauben können, sie seien heldenhaft, weil sie besser essen als die anderen,

– Entwicklung sogenannter „grüner“ Energien, die es ermöglichen, die Digitalisierung der Gesellschaft zu beschleunigen, während sie gleichzeitig die Umwelt verschmutzen und am anderen Ende der Welt ausbeuten,

– Erstellung von CSR-Berichten („Corporate Social Responsibility“) , die umso länger und wahnwitziger sind, je skandalöser die Verbrechen sind, die sie verschleiern; oder auch Zählen von Fröschen und Schmetterlingen, damit die Betonierer sie legal verschwinden lassen können.

In unseren Augen sind diese Jobs zerstörerisch, und sie zu wählen bedeutet, zu schaden, indem man den Interessen einiger weniger dient.

Dennoch wurden uns während unseres gesamten Studiums an der AgroParisTech genau diese Möglichkeiten aufgezeigt. Von den Absolventinnen und Absolventen, die diese Berufe eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösungen betrachten und sich deshalb zum Desertieren entschieden haben, wurde uns hingegen nie berichtet.

Wir wenden uns an diejenigen, die Zweifel haben:

An euch, die ihr einen Job angenommen habt, weil man „eine erste Erfahrung braucht“, an euch, deren Angehörige daran arbeiten, das System aufrechtzuerhalten und die ihr das Gewicht ihres Blicks auf eure Berufswahl spürt, an euch, die ihr hinter einem Schreibtisch sitzt, aus dem Fenster schaut und von Ferne und Freiheit träumt, an euch, die ihr jedes Wochenende mit dem Hochgeschwindigkeitszug fahrt, auf der Suche nach einem nie gefundenen Wohlbefinden, an euch, die ihr in euch ein aufkommendes Unwohlsein fühlt, es aber nicht benennen könnt, die ihr oft findet, dass diese Welt verrückt ist, die ihr Lust habt, etwas zu tun, aber nicht so recht wisst, was, oder die ihr gehofft habt, die Dinge von innen heraus verändern zu können und aber schon nicht mehr daran glaubt.

Wir möchten euch sagen, dass ihr nicht allein sind mit eurer Meinung, dass etwas nicht stimmt, denn es stimmt wirklich etwas nicht.

Wir haben gezweifelt, und manchmal zweifeln wir immer noch. Aber wir weigern uns, diesem System zu dienen, und wir haben beschlossen, nach anderen Wegen zu suchen und unseren eigenen Weg zu gehen.

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Wie hat das alles angefangen?

Wir trafen Menschen, die kämpften, und folgten ihnen auf die Felder, auf denen sie kämpften. Sie zeigten uns die Kehrseite der Projekte, die wir als Ingenieure hätten durchführen können.

Ich denke an Cristiana und Emmanuel, die sehen, wie der Beton über ihr Land auf dem Plateau de Saclay fließt.

Oder an dieses ausgetrocknete Loch, das ein lächerlicher Ausgleich für einen Teich voller seltener Wasseramphibien ist, und an Nico, der von seinem Hochhaus aus sieht, wie die Volksgärten seiner Kindheit für den Bau eines „Eco-Viertels“ platt gemacht werden.

Hier und dort haben wir Menschen getroffen, die mit anderen Lebensweisen experimentieren, die sich Wissen und Können wieder aneignen, um nicht mehr vom Monopol umweltverschmutzender Industrien abhängig zu sein, Menschen, die ihren Boden verstehen, um von ihm zu leben, ohne ihn auszubeuten, die aktiv gegen schädliche Projekte kämpfen, die im Alltag eine volksnahe, dekoloniale und feministische Ökologie praktizieren, die wieder Zeit finden, um gut zu leben und füreinander zu sorgen.

All diese Begegnungen haben uns inspiriert, unsere eigenen Wege zu finden: Ich bin gerade dabei, mich mit einer Imkerei in der Dauphiné niederzulassen. Ich lebe seit zwei Jahren in der ZAD (Zone À Défendre) Notre Dame des Landes, wo ich unter anderem in der kollektiven Landwirtschaft tätig bin und Lebensmittel anbaue. Ich habe mich der Bewegung „Soulèvement de la Terre“ (Aufstände der Erde) angeschlossen, um gegen die Vereinnahmung und Betonierung von Agrarland in ganz Frankreich zu kämpfen.

Ich lebe in den Bergen, wo ich einem Saisonjob nachgehe, und beginne mit dem Zeichnen. Wir lassen uns als Kollektiv im Tarn auf einem Bauernhof Terres de Liens nieder, zusammen mit einem Bauer/Bäcker, Bierbrauern und Baumpflegern.

Ich engagiere mich gegen Atomkraft in der Nähe von Bure. Ich bilde mich heute weiter, um mich morgen niederzulassen und mit meinen Händen zu arbeiten.

Wir halten diese Lebensweisen für mehr als notwendig und wissen, dass sie uns stärker und glücklicher machen werden.

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Habt ihr Angst davor, einen Schritt zur Seite zu machen, weil es in eurem Lebenslauf nicht gut aussehen würde? Euch von eurer Familie und eurem sozialen  Netzwerk zu entfernen? Die Anerkennung zu verlieren, die euch eine Karriere als Agraringenieur einbringen würde?

Aber welches Leben wollen wir?

Einen zynischen Chef, ein Gehalt, mit dem man sich das Fliegen leisten kann, einen 30-jährigen Kredit für ein Einfamilienhaus, gerade mal fünf Wochen im Jahr, um in irgendeiner Ferienunterkunft zu verschnaufen, einen Elektro-SUV, ein Fairphone und eine Treuekarte für die Biocoop (größte Biosupermarktkette der Welt mit etwa 700 Filialen und Sitz in Paris; Anm.d.Ü.)?

Und dann… ein Burn-out mit 40 Jahren?

Lasst uns nicht unsere Zeit verschwenden!

Und vor allem sollten wir die Energie, die irgendwo in uns schwelt, nicht ungenutzt lassen! Desertieren wir, bevor wir durch finanzielle Verpflichtungen in die Enge getrieben werden.

Warten wir nicht darauf, dass unsere Kinder uns nach Geld fragen, um im Metaverse shoppen zu gehen, weil wir nicht genug Zeit hatten, sie von etwas anderem träumen zu lassen.

Warten wir nicht darauf, dass wir zu nichts anderem mehr fähig sind als zu einer Pseudo-Umschulung auf denselben Job, der nur grün angestrichen ist.

Warten wir nicht auf den 12. IPCC-Bericht, der zeigen wird, dass Regierungen und multinationale Konzerne die Probleme immer nur verschlimmert haben und der seine letzten Hoffnungen in Volksaufstände setzt.

Ihr könnt jetzt abzweigen.

Eine Ausbildung zum freien Bauer/Bäcker beginnen, für einige Monate Wwoofing (Worldwide Opportunities on Organic Farms) machen, an einem Workcamp in einer ZAD oder anderswo teilnehmen, sich in einer selbst-verwalteten Fahrradwerkstatt engagieren oder sich einem Aktionswochenende mit „Soulèvements de la Terre“ anschließen. So kann es beginnen.

Es liegt an euch, eure eigenen Abzweigungen zu finden.

 

Der französische Originaltext wurde vom Kollektiv „Des agros qui bifurquent“ („Agros, die abzweigen“) hier als Blog-Eintrag veröffentlicht.

Übersetzung aus dem Französischen und redaktionelle Bearbeitung von Evelyn Rottengatter vom ehrenamtlichen Pressenza-Team. Wir suchen Freiwillige!