US-Professor für Politik Peter Beinart sagt: «Einflusssphären von Grossmächten sind rund um den Globus eine Realität.»

Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber

Die USA würden nicht akzeptieren, dass die Ukraine zur Einflusszone Russlands gehöre. US-Aussenminister Antony J. Blinken sagte im Dezember 2021 wörtlich:

«Kein Land hat das Recht, einem anderen Land vorzuschreiben, mit wem es sich verbünden will. Kein Land hat das Recht auf eine Einflusszone. Dieser Begriff sollte auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt werden … Wir setzen uns für einen Nato-Beitritt der Ukraine ein.»

Viele Medien verbreiten unkritisch den Standpunkt der Nato, dass alle Länder, also auch die Ukraine und Georgien, das Recht hätten, der Nato beizutreten. Dies ist erstens falsch, weil es für einen Beitritt die Einstimmigkeit aller dreissig Nato-Länder braucht. Zweitens sind Einflusszonen der Grossmächte auch heute noch eine Realität.

Sie auf den Müllhaufen der Geschichte zu verbannen, sei zwar ein achtbarer Wunsch, meint Peter Beinart in der «New York Times». Beinart ist Professor für politische Wissenschaften an der City University in New York und Herausgeber des linken US-Magazins «Jewish Currents». Er hält Blinken die Realität entgegen:

«In ihrer eigenen Hemisphäre haben die USA das Prinzip der Einflusszone seit fast 200 Jahren hochgehalten. Dies seit Präsident James Monroe im Jahr 1823 in einer Botschaft an den US-Kongress erklärte, die USA sollten ‹jeden Versuch einer ausländischen Macht, irgendwo in unserer Hemisphäre Einfluss zu erlangen, als Gefahr für Frieden und Sicherheit betrachten›».

Diese Politik läuft seither unter dem Namen «Monroe-Doktrin». Wer jetzt Aussenminister Blinken zuhöre, könne meinen, die USA hätten diese Monroe-Doktrin aufgegeben, meint Beinart. Dies sei jedoch nicht der Fall. Noch 2018 erklärte Präsident Trumps Aussenminister Rex Tillerson, die Monroe-Doktrin sei «heute noch ebenso aktuell wie damals, als sie verkündet wurde». Ein Jahr später wiederholte Trumps Sicherheitsberater John Bolton: «Die Monroe-Doktrin lebt weiter.»

Kuba als Paradebeispiel

Allerdings würden die USA ihren Einflussbereich heute in Zentralamerika und in der Karibik nicht mehr mit Soldaten verteidigen und die CIA nicht mehr einfach linke Regierungen stürzen. Noch 1983 besetzten US-Truppen unter fadenscheinigen Vorwänden die Karibik-Insel Grenada, weil die dortige blockfreie Regierung nicht genehm war. 1989 griffen die USA mit 24’000 Mann Panama an und stürzten den dortigen Präsidenten Manuel Noriega.

Heute würden die USA ihre Ziele mit wirtschaftlichem Zwang und Boykotten gegen Regierungen erreichen, die mit feindlichen Regierungen anbandeln, erklärt Beinart. Er erinnert an das jahrzehntealte Embargo gegen Kuba. Offiziell soll der Wirtschaftsboykott Kuba zur Demokratie zwingen, aber selbst die meisten demokratischen Länder sähen darin politisches Mobbing.

Letztes Jahr habe die UNO-Generalversammlung das US-Embargo gegen Kuba mit 184 zu 2 Stimmen verurteilt. «Human Rights Watch» habe das Embargo angeprangert, weil es «der kubanischen Bevölkerung willkürliche Härten auferlegt».

Die Biden-Administration würde die Monroe-Doktrin zwar nicht mehr gross erwähnen, doch sie zeige den Ländern Mittel- und Südamerikas weiterhin die Muskeln. Das Embargo gegen Kuba bleibe bestehen und Venezuela, dessen autokratische Regierung mit Feinden der USA geflirtet habe, werde vom internationalen Handel ausgesperrt. Die USA würden die Bevölkerung Venezuelas sogar verhungern lassen, solange sie ihre Regierung nicht stürzt.

Beinart zitiert Historikerin Erika Pani, die sich in Mexiko mit den Beziehungen ihres Landes mit den USA beschäftigt:

«Die Regierungen Mexikos wussten schon immer, dass sie international nicht frei waren. Wenn man unmittelbar neben einem Elefanten lebt, weiss man, dass es besser ist, ihn nicht zu provozieren.»

Die Regierungen könnten aussenpolitisch zwar eine eigene Meinung äussern, aber auf keinen Fall eine militärische Allianz mit einem Kontrahenten der USA eingehen. Es sei unvorstellbar, dass Mexiko Truppen Russlands oder Chinas auf sein Territorium einlade.

Mexiko trennt von den USA eine sehr lange Grenze, ähnlich wie die Ukraine von Russland.

«Geopolitik ist eine brutale Tatsache»

Die Ukraine könne ähnlich wie Mexiko eine unabhängige Aussenpolitik führen. Doch Bündnisse mit Russlands Gegnern sollten nicht in Aussicht gestellt werden. Solange Russland dafür keine Garantien erhalte, mindestens stillschweigende, werde Russland weiterhin versuchen, die Ukraine zu destabilisieren. Denn eine unstabile Ukraine verspreche am ehesten, dass die Nato das Land nicht aufnehme.

Der Politologe empfiehlt der US-Regierung, dafür zu sorgen, dass die Ukraine innenpolitisch eine freie Gesellschaft bleibe (oder es werde), jedoch davon Abstand nehme, die Ukraine ins westliche Militärbündnis aufzunehmen. Die US-Regierung solle die «brutale Tatsache» von Einflusssphären anerkennen. Washington könne nicht weiter behaupten, dass «nur brutale Tyrannen wie Putin auf Nachbarländer Einfluss nehmen wollen». Denn die USA würden sich damit «selber belügen».

Nur wenn die USA die Einflusssphäre Russlands respektieren, wäre garantiert, «dass der russische Einfluss die Ukraine nicht zerstört und dass Europa nicht in einen Krieg hineingezogen wird.»

«Einkreisungsängste haben zum Entstehen von Kriegen beigetragen»

Unter dem Titel «Es gibt Einflusszonen, die die Bündnisfähigkeit von Ländern beschränken» veröffentlichte die NZZ ein grosses Interview mit Herfried Münkler, vormals Professor für Politikwissenschaften an der Berliner Humboldt Universität. Zur Ukraine erklärte Münkler:

«Man kann feststellen, dass die Russen so etwas wie Einkreisungsängste haben. Diese haben schon immer bei der Entstehung von Kriegen eine bedeutende Rolle gespielt. Ein Mittel dagegen sind Pufferzonen. Sie dienen einer gewissen Stabilität und schaffen Flexibilität bei Verhandlungen zwischen Grossmächten.»

Möglich wäre eine aussenpolitisch neutrale Ukraine, versehen mit Sicherheitsgarantien. Unter dem Titel «Neutralität als Garant von Freiheit und Unabhängigkeit – Die Ukraine kann von Finnlands Erfahrungen lernen» schrieb NZZ-Chefökonom Peter A. Fischer am 22. Januar 2022:

«Dank der strikten Neutralitäts- und Versöhnungspolitik der finnischen Präsidenten … gelang es den Finnen, weiterhin unabhängig und nach westlichen Vorstellungen freiheitlich zu leben und sich wirtschaftlich immer stärker mit dem übrigen Westen zu integrieren … Statt von Moskau gelenkt oder gar in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, konnte sich Finnland auf eine wirtschaftliche Aufholjagd konzentrieren. Während die Finnen am Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen mit den Russen, Polen, Portugiesen und Spaniern zu den Ärmsten Europas gehörten, entwickelten sie sich dank ihrer Neutralitätspolitik danach ähnlich dynamisch wie Deutschland.»

Anders sieht es Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen: Putins Vorbild sei Otto von Bismarck. Er wolle die Weltordnung neu definieren und überall mitentscheiden (Interview im Tages-Anzeiger vom 16 Januar 2022).

Und Christof Münger, Leiter des Auslandressorts beim «Tages-Anzeiger» übernimmt in einem Leitartikel vom 15. Januar 2022 das Wording der Nato: «Die Nato darf und wird sich nicht diktieren lassen, wen sie aufnimmt und wen nicht … Putin fürchtet nicht die Nato, sondern die Demokratie.»

Keine Kuba-Krise mehr?

Falls es allerdings kein Problem mehr darstellt, wenn Grossmächte ihre Militärbündnisse und Militärbasen bis an die Grenzen anderer Grossmächte ausweiten, dürfte heute auch Kuba Russland einladen, eine Militärbasis mit Raketen im Karibikstaat zu installieren und sich im gleichen Zug noch eine grosse Einnahmequelle zu verschaffen. Wenn die USA die Monroe-Doktrin tatsächlich auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen haben, werden sie nichts mehr dagegen einwenden. Im Jahr 1962 war dies anders: Als Fidel Castro die Sowjetunion einlud, auf Kuba Mittelstreckenraketen zu installieren, drohten die USA mit Krieg und es kam zur gefährlichen Kuba-Krise.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor hat Studien der Internationalen Beziehungen am IUHEI in Genf mit dem Master abgeschlossen.

Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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