EU debattiert im Kampf gegen Flüchtlinge über die Zulassung völkerrechtswidriger Pushbacks und zieht Sanktionen gegen Fluggesellschaften in Betracht, deren Dienstleistungen Flüchtlinge nutzen.

In ihrem erbitterten Kampf gegen Flüchtlinge zieht die EU die Zulassung offener Völkerrechtsbrüche an den EU-Außengrenzen in Betracht und droht mit einer Sanktionsschlacht gegen Fluggesellschaften. Anlass sind die Flüchtlinge, die über die Grenze zwischen Belarus und Polen in die Union zu gelangen suchen. Warschau schottet die Grenze immer härter ab; mindestens acht Flüchtlinge sind mittlerweile im Niemandsland zu Tode gekommen. UN-Organisationen laufen Sturm. Obwohl zahlreiche Flüchtlinge aus Ländern stammen, die von europäischen Staaten per Krieg zerstört (Afghanistan, Irak) oder durch die Förderung bewaffneter Aufstände und durch Sanktionen ruiniert wurden (Syrien), ist die EU nicht bereit, sie aufzunehmen; stattdessen wird in Brüssel nun die Zulassung von Pushbacks diskutiert, die laut Genfer Flüchtlingskonvention illegal sind. Zudem stellt die Union Sanktionen gegen Fluggesellschaften in Aussicht, mit deren Flugzeugen Flüchtlinge nach Belarus gelangen; erwogen wird der Entzug von Landerechten. Betroffen sind Airlines aus der Türkei, aus Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und weiteren Ländern.

Nicht mehr kooperationsbereit

Die Situation der Flüchtlinge in Belarus, die nach Polen und damit in die EU reisen wollen, spitzt sich weiter zu. Minsk hatte lange Zeit mit Brüssel bei der Flüchtlingsabwehr kooperiert, eigens ein „Rücknahmeabkommen“ geschlossen, das Abschiebungen erleichterte, und sich schließlich sogar zum Bau eines Flüchtlingslagers bereiterklärt, in dem Personen festgesetzt werden sollten, die, aus Ländern wie Syrien, dem Irak und Afghanistan kommend, nach Westeuropa zu fliehen suchten.[1] Von der EU und deren Mitgliedstaaten nicht nur durch die Unterstützung von Umsturzversuchen bedroht, sondern auch durch immer mehr Sanktionen unter Druck gesetzt, rückte die belarussische Regierung von ihrer Zuarbeit zur EU-Flüchtlingsabwehr ab und ist zuletzt dazu übergegangen, Flüchtlingen nicht mehr nur freie Bahn zu lassen, sondern ihre Flucht auch zu begünstigen. Darauf haben zunächst Litauen und jetzt Polen reagiert, indem sie ihre Grenze mit Soldaten abschirmen und sie mit meterhohen Stacheldrahtbarrieren befestigen. Außerdem haben sie völkerrechtswidrige Pushbacks legalisiert. Warschau fordert, Flüchtlinge sollten etwaige Asylanträge an den regulären Grenzübergängen stellen. Einen ersten dieser Übergänge hat es freilich jetzt geschlossen.

Tod an der Grenze

Die Zustände unmittelbar an der Grenze sind nur ansatzweise bekannt, weil Polens Regierung im unmittelbaren Grenzgebiet den Ausnahmezustand verhängt hat und nicht nur Journalisten, sondern sogar Hilfsorganisationen den Zutritt verweigert. Klar ist, dass auf belarussischer Seite der Grenze oder im Niemandsland Tausende Flüchtlinge festsitzen – bei zunehmender Kälte und oft ohne Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser und Medikamenten. Polnische Grenzwächter setzen gegen Flüchtlinge, die die Stacheldrahtbarrieren an der Grenze überwinden wollen, Tränengas ein. Mindestens acht Flüchtlinge sind bisher im Niemandsland zu Tode gekommen; dabei könne die tatsächliche Opferzahl „viel höher“ sein, erklärte bereits Ende Oktober mit Blick auf die polnische Zugangssperre zum Grenzgebiet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.[2] Erst kürzlich hatte das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) protestiert, es sei „inakzeptabel“, dass an der EU-Außengrenze „Menschen sterben“.[3] Gestern übte zudem das UN-Kinderhilfswerk UNICEF heftige Kritik: Dass auch Kinder an der polnischen Grenze „unter entsetzlichen Bedingungen leben“ müssten, sei eine klare Verletzung der Kinderrechtskonvention. Kinder und ihre Familien hätten „das Recht, um Asyl zu ersuchen“.[4]

Stacheldrahtzäune und Mauern

Mittlerweile gewinnt nicht nur die Forderung neuen Zuspruch, die EU solle umgehend Mittel für den Bau von Stacheldrahtbarrieren an ihren Außengrenzen bereitstellen. Die Forderung wurde im Oktober von zwölf EU-Staaten schriftlich geäußert [5] und findet immer mehr Unterstützer – auch in Deutschland. Schon Ende Oktober hat Manfred Weber (CSU), EVP-Fraktionsvorsitzender im Europaparlament, auf Twitter erklärt, es sei „nicht zu verstehen“, weshalb die EU „keinen Zaun an der Grenze zu Belarus finanzieren könne“. Gestern äußerte der scheidende Bundesinnenminister Horst Seehofer, „wir“ bräuchten „die bauliche Sicherung der Grenzen“: „Da müssen wir auch öffentlich die Polen unterstützen!“[6] Seehofer schloss immerhin den „Schusswaffengebrauch“ an der Grenze aus. Offiziell weigert sich Brüssel noch – offenkundig mit Blick auf die potenziell verheerende Außenwirkung -, die bauliche Hochrüstung der Grenzen zu finanzieren. Erst kürzlich hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geäußert, man sei nicht dazu bereit, für „Stacheldrahtzäune und Mauern“ zu zahlen.[7]

Der „Kriegsfall“ als Ausnahme

Zugleich nehmen in Brüssel auch Forderungen zu, Pushbacks zu legalisieren, wie es Litauen und Polen schon getan haben. Pushbacks – die Zurückschiebung von Flüchtlingen ohne Prüfung ihres etwaigen Asylanspruchs – brechen die Genfer Flüchtlingskonvention, sind also völkerrechtswidrig. Polen macht sich nun aber Artikel 347 des EU-Vertrags zunutze, der Ausnahmen „im Kriegsfall“ und „bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung“ zulässt. Beobachter führen die Tatsache, dass Warschau Minsk explizit beschuldigt, einen „hybriden Krieg“ zu führen, auf die polnische Absicht zurück, Artikel 347 für sich in Anspruch zu nehmen.[8] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat unlängst angekündigt, sich mit der Forderung auseinanderzusetzen, „den rechtlichen Rahmen“ für das Vorgehen gegen Flüchtlinge „an die neuen Realitäten anzupassen“. Dies wird als Bereitschaft zur Debatte über eine Zulassung von Pushbacks interpretiert. Befürworter eines solchen Schritts können sich darauf stützen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Februar 2020 urteilte, Pushbacks an der Grenze der spanischen Exklave Melilla zu Marokko seien rechtmäßig gewesen. Das Urteil hat weithin Entsetzen ausgelöst (german-foreign-policy.com berichtete [9]).

Sanktionen gegen Airlines

Ergänzend geht die EU nun gegen Fluggesellschaften vor, deren Dienstleistungen von Flüchtlingen in Anspruch genommen werden, um nach Belarus zu gelangen. Kommissionspräsidentin von der Leyen teilte am Montag mit, Brüssel werde erkunden, wie man Sanktionen gegen Airlines aus Drittstaaten verhängen könne, die „im Menschenhandel aktiv“ seien.[10] Als Strafe komme „blacklisting“, also unter Umständen der Entzug von Lande- und Überflugrechten, in Betracht. Wie das begründet werden soll, ist nicht klar: Einem Kunden den Kauf eines Flugtickets zu verweigern, weil man ihn verdächtigt, fliehen zu wollen, wäre beispiellos. Der EU ist es dennoch schon Ende Juli gelungen, den Irak mit hartem Druck zur Einstellung sämtlicher Flüge nach Minsk zu zwingen.[11] In einem nächsten Schritt werden nun Strafmaßnahmen gegen Turkish Airlines, die syrische Cham Wings und die emiratische Billigfluglinie FlyDubai erwogen.[12] Darüber hinaus sind Maßnahmen gegen die russische Fluggesellschaft Aeroflot im Gespräch. Mittlerweile verlangt auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Landeverbote und weitere Strafen gegen Airlines zu verhängen, „die Migranten aufgrund der von Belarus missbräuchlich eingeräumten Visafreiheit befördern“.[13] Entsprechende Sanktionen könnten, so heißt es, bereits beim EU-Außenministertreffen am Montag kommender Woche beschlossen werden.

 

Mehr zum Thema: Flüchtlingssterben im Niemandsland sowie unsere Videokolumne: EU – eine „Werteunion“?

 

[1] S. dazu In der Sanktionsspirale (II).

[2] Judith Sunderland: Europe’s Deadly Border Policies. hrw.org 27.10.2021.

[3] Flüchtlingslage an Belarus-Grenze eskaliert. orf.at 08.11.2021.

[4] UNICEF deeply concerned about instrumentalization and pushbacks of children on Europe’s borders. reliefweb.int 09.11.2021.

[5] S. dazu Flüchtlingssterben im Niemandsland.

[6] Peter Tiede: Wir müssen den Polen an der Grenze helfen. bild.de 09.11.2021.

[7] Aufrüstung an EU-Außengrenze? Von der Leyen positioniert sich. t-online.de 22.10.2021.

[8] Thomas Gutschker: Pushbacks und Push-ins. Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.11.2021.

[9] S. dazu Der Tod der Genfer Flüchtlingskonvention.

[10] Nikolaj Nielsen, Andrew Rettman: Turkish Airlines risks EU ban over Poland border crisis. euobserver.com 09.11.2021.

[11] EU thanks Iraq for halting Belarus migrant flights. euobserver.com 07.09.2021.

[12] Nikolaj Nielsen, Andrew Rettman: Turkish Airlines risks EU ban over Poland border crisis. euobserver.com 09.11.2021.

[13] Flüchtlingskrise ruft EU-Staaten zu Hilfe. t-online.de 09.11.2021.

Der Originalartikel kann hier besucht werden