Hitzewellen, Dürren, Flut- als auch Feuerkatastrophen nehmen stetig zu, der IPCC und die UN schlagen Alarm. Kürzlich attestierte sogar ein Bericht der National Oceanic and Atmospheric Administration NOAA (Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten) der Welt Negativrekorde in weiten Bereichen: Noch nie war die Konzentration von Treibhausgasen so hoch und der Anstieg des Meeresspiegels sowie der Temperaturen so enorm wie in den letzten Jahren.

Doch wie hängt das alles wirklich zusammen, sind es tatsächlich unsere Autofahrten und Flugreisen, die angeblich an allem schuld seien, oder gibt es da noch mehr Faktoren, von denen vielleicht immer noch nicht genügend gesprochen wird? Was ist zum Beispiel mit der Agrarindustrie und ihrem steigenden Pestizideinsatz oder den globalisierten Handelsströmen? Inwieweit trägt unser eigener Konsum tatsächlich zu all dem bei? Und vor allem: Ist das unser Schicksal als Menschheit, ist es schon zu spät oder können wir die katastrophale Zukunft, die uns die Wissenschaft prognostiziert, noch abwenden und falls ja, wie?

Diese und andere Fragen stellen wir Fred Hageneder, Ethnobotaniker, Naturforscher und -aktivist sowie Autor des neuen Buches “Nur die eine Erde – Globaler Zusammenbruch oder globale Heilung – unsere Wahl“.

 

Fred, du hast die letzten drei Jahre damit verbracht, in akribischer Kleinarbeit alle neuesten Entwicklungen, wissenschaftliche Berichte und Fachartikel zum Zustand unseres Heimatplaneten zu recherchieren und in deinem neuen Buch zu verarbeiten. Wie lautet deine Prognose für die Zukunft?

Die Lage ist sehr, sehr ernst, Punkt. Aber noch ist es möglich, eine lebenswerte Zukunft für alle Erdenbewohner zu erreichen – und mit “alle Erdenbewohner” meine ich nicht nur die menschliche Spezies, sondern alle Arten, die zur Biodiversität dieses einzigartigen Planeten beitragen. Ich denke – übrigens wie viele andere im Bereich der Ökologie –, dass die 2020er Jahre das alles entscheidende Jahrzehnt für die Zukunft der Menschheit und des Planeten sein werden.

Und dafür sind wir jetzt alle gefragt! Es gibt kein Verstecken hinter dem Sofa mehr. Wir müssen jetzt alle unser Rückgrat finden, uns entscheiden, ob wir für einen gesunden, lebendigen Planeten – also das Leben selbst – einstehen, und diese unsere Wahrheit dann auch aussprechen und verteidigen. Charles Eisenstein hat dazu jüngst ein wunderbares Plädoyer veröffentlicht: The rehearsal is over (“Das Proben ist vorbei”).

Im Buch benennst du drei große Hauptprobleme, denen sich die Menschheit gegenüber sieht: neben der Klimazerrüttung sind das auch das Massenaussterben der Arten und die weltweite Kontamination durch Mikro- und Nanoplastik. Zunächst zum Artensterben: Haben einzelne Arten wirklich eine so große Bedeutung für das ganze, das Ökosystem, oder gar die Ökosphäre? In den Medien hört man ja darüber eher weniger…

In der Tat verbreiten die Leitmedien leichtfertig den Eindruck, dass die Klimakrise das größte oder gar einzige ökologische Problem sei. Dabei haben der Biodiversitätsverlust, die Plastikkontamination, aber auch die Verschwendung und Verseuchung von Trinkwasser sowie die Bodendegradation durch industrielle Landwirtschaft alle das Potential, der Menschheit noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts den Garaus zu machen. Lange bevor die oft beschworenen steigenden Meeresspiegel für alle Nationen zu einem Kernproblem würden.

Zuerst einmal: Artenvielfalt ist nicht gleich Biodiversität. Der letztere Begriff ist leider lang und eher abstrakt, ist aber der umfassendere Begriff. Biodiversität bedeutet Vielfalt auf drei Ebenen: nicht nur der Arten, sondern auch der genetischen Vielfalt innerhalb von Arten sowie der ökologischen Vielfalt von Lebensräumen. Dazu kommt, dass auch eine einzige “Art” in sich schon reicher ist, als die meisten Menschen ahnen, denn eine Art setzt sich zusammen aus Unterarten, Varietäten und lokalen einzigartigen Populationen. Man denke z.B. an Äpfel: Der Kulturapfel (Malus domestica) als Art ist alles andere als ausgestorben, aber vorbei sind die Tage, als es buchstäblich Hunderte von Apfelsorten gab, mit einem weiten Spektrum zwischen süß, sauer und astringent, und mit Myriaden von Aromen! Heute darf der Konsument zwischen Golden Delicious, Granny Smith, Cox und Gala wählen, das war’s dann. Nur wenige Sorten erfüllen die kommerziellen Bedingungen der globalisierten Nahrungsmittelindustrie; Mensch und Biodiversität haben das Nachsehen.

Jede einzelne Tier-, Vogel-, Insekten- oder Fischart zählt, denn Vielfalt ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens auf der Erde. Planet (und Klima) brauchen eine Vielfalt von Landschaftsarten, Ökosysteme brauchen Artenvielfalt und Arten brauchen genetische Vielfalt, die ihnen Widerstandsfähigkeit gegen Umwelteinflüsse verleiht.

Zur Rolle einzelner Arten möchte ich eines meiner Lieblingsbeispiele anführen, den Seeotter. Seegraswiesen und Tangwälder gehören zu den wichtigsten Ökosystemen im Meer, aber auch sie befinden sich im Niedergang. Doch sie erholen sich an jenen Küsten, an denen sich wieder Seeotter ausbreiten. Warum? Die Seeotter fressen Krabben, die sonst zu sehr die Meeresschnecken dezimieren, die wiederum von gewissen Algenarten leben, die auf dem Seegras wuchern und es ersticken. So halten die Seeotter die Seegrasbestände gesund, und auf ähnliche Weise auch die Tangwälder. Ähnliches kann man auch über andere Jäger und Beutegreifer am oberen Ende der Nahrungsketten sagen, z.B. Haie. Oder an Land Wölfe, Füchse, Großkatzen, die für gesunde Waldlandschaften sorgen, indem sie pflanzenschädigende Huf- und Nagetiere im Zaum halten.

Aber das Massenaussterben hat noch zwei weitere, schreckliche Aspekte. Zum einen geht es in der Ökosphäre nicht nur um Vielfalt, sondern ganz einfach auch um Menge, um Populationsgrößen. Auch die Masse bringt’s! Berichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert bezeugen z.B. Vogel- und auch Fischwärme, die mehrere Kilometer breit und noch viel länger waren! Eine unglaubliche Fülle machte die lebendige Erde aus. Das alles hat der Mensch weitgehend vernichtet. Auf das reine Lebendgewicht beziehen sich die heutigen Schreckensmeldungen, dass – je nach Tiergruppe – seit 1970 die Hälfte oder gar 80 Prozent verlorengegangen sind. Um das etwas verständlicher zu machen, habe ich diesen Sommer, als sich die Weltöffentlichkeit wieder einmal gern von einem Großereignis ablenken ließ, die wissenschaftlichen Daten zum Massenaussterben mit den olympischen Ringen verschmolzen:

Die lebendige Welt verschwindet! Das Gewebe des Lebens wird unter unseren Füßen weggezogen – was gibt unserer Existenz dann noch Halt? Und da auch die Gesundheit des Menschen abhängt von der Gesundheit der Ökosphäre brauchen wir uns nicht wundern, wenn es mit beiden parallel bergab geht.

Der andere Punkt ist der, dass das heutige, durch den Menschen verursachte Massenaussterben etwa eintausendmal schneller vor sich geht als das natürliche Hintergrundsterben in der Naturgeschichte des Lebens. Das Leben des Planeten blutet aus, so rasant wie nie zuvor.

Und ein weiterer gravierender Unterschied dabei ist, dass beim natürlichen Hintergrundsterben Arten zwar verschwinden, aber zumeist, indem sie langsam in neue Arten übergehen (Evolution). Die über lange Zeiträume angesammelte Erfahrung, die erworbene Adaptivität werden dabei an neue Lebensformen weitergegeben. Beim einem Massenaussterben hingegen enden die Linien abrupt und die erworbene genetische Komplexität jeder betroffenen Art, Unterart und Population ist für immer verloren.

Wenn man das Kapitel zur Plastikverschmutzung in deinem Buch liest, kann einem ganz anders werden. Es scheint, dass obwohl diese winzig kleinen Partikel inzwischen schon überall sind, in den Tiefen der Meere, in allen möglichen Organismen, sogar in unseren Körpern, die Wissenschaft trotzdem noch hinterherhinkt und weder exakte Messungen noch Wissen um die Langzeitwirkungen liefern kann. Woher kommt dieses Problem hauptsächlich und wie ist der aktuelle Wissensstand?

Das Problem liegt natürlich in der industriellen Produktion gigantischer Mengen von Plastik. Übrigens auch ein Ableger der Ölindustrie. Und die Produktion spiegelt den Verbrauch in den Konsumgesellschaften. Zugegeben: Ein Material, dass mehr oder weniger wasserdicht und geruchsversiegelnd, dazu hart und schützend aber gleichzeitig biegsam ist, und das zudem noch “hygienisch” (da leicht abwischbar) erscheint, ist doch eine geniale Sache! Wenn die Menschen einige hochqualitative Plastikartikel tatsächlich so lange benutzen und vererben würden wie beispielsweise Holzmöbel oder Schmuck, würde das vielleicht sogar eine Produktion im kleinen Maßstab rechtfertigen. Stattdessen handelt es sich meist um Einwegartikel wie Plastikflaschen, die dann bis zu vierhundert Jahre oder mehr brauchen, bis sie in der Natur “abgebaut” sind. Und mit dem “Abbau” gehen die Probleme erst richtig los, denn je kleiner die Kunststoffteilchen sind, umso verstärkter gelangen sie überall hin: in die Nahrungsketten, in die Zellen, sogar in die Zellkerne und DNA. Eine einfache Plastikflasche ist zudem nicht einfach “aus Plastik”, sondern enthält bis zu 2.000 verschiedene Kunststoffe. Das ist doch Overkill, natürlich findet sich da keine einfache Recyclingformel! Schon die Produktion muss sich also grundlegend ändern.

Wir atmen, essen und trinken Nanoplastik-Teilchen. Sie lösen sich aus allen Plastikprodukten, schon während ihrer Benutzungsphase. Die größten Quellen der Kunststoffdurchseuchung unserer Körper sind jedoch synthetische Teppiche und Kleidungsstücke (deren Fasern werden entweder im Haus von uns eingeatmet oder gelangen aus der Waschmaschine in die Wasserwege) sowie der Reifenabrieb aus dem Straßenverkehr. Der synthetische Feinstaub aus den Reifen verteilt sich mit Wind und auch durch das Regenwasser über die Landschaft und letztendlich den ganzen Planeten.

Medizinische Studien zur Auswirkung von Nanoplastikteilchen auf den Organismus habe ich bisher immer noch keine gefunden, obwohl das Problem ja nun auch schon seit mindestens 20 Jahren bekannt ist. Ich habe aber bei mir selbst einen Bluttest machen lassen, der die mitochondriale DNA der Leukozyten auf Kontaminierung mit Nano-Fremdstoffen untersucht. Das Ergebnis: u.a. findet sich 6,7 ng/ml PBB (polybromiertes Biphenyl) an meine DNA angedockt. PBBs werden als Flammschutzmittel sowie als Weichmacher in Kunststoffen eingesetzt. Weichmacher lösen sich aus Plastiktrinkflaschen, aber v.a. durch fetthaltige Lebensmittel, die in Plastikcontainern aufbewahrt werden. Obwohl ich seit den 1980ern darauf achte, möglichst wenig fetthaltige Nahrungsmittel (z.B. Käse) in Plastik eingeschweißt zu kaufen, zeigt sich dieser Wert. Ohne meine Vorsicht wäre er wohl viel höher. Dass PBBs in der EU seit 2003 gar nicht mehr verwendet werden, bezeugt, dass sie tatsächlich biologisch kaum abbaubar sind. Dazu kommen – bei uns allen! – Dutzende weitere Kunststoffe sowie Schwermetallmoleküle, die unsere DNA verkleben. (Es lagern sich eben nicht alle Giftstoffe einfach nur im Fettgewebe ab, wie Mediziner in den Massenmedien uns mitunter Glauben machen.)

Solche Verunreinigungen – ich stelle mir das vor wie die mikroskopische Version eines Kaugummis, den jemand auf meinen USB-Port geklebt hat – halten die DNA natürlich davon ab, ihre natürlichen Aufgaben zu erfüllen. Jede Andockstelle, die durch Umweltgifte besetzt ist, kann durch die körpereigenen RNA-Moleküle nicht benutzt werden, die den DNA-Zugang aber brauchen, um eine gesunde Eiweißsynthese aufrechtzuerhalten. Im Falle der Leukozyten schwächt das das Immunsystem.

Anzustreben ist 1. ein starker Rückgang des Kunststoffverbrauchs (entgegen dem quasireligiösen Gebot des immerwährenden Wirtschaftswachstums) und 2. der Ersatz der gängigen Kunststoffarten durch wirklich biologisch abbaubare Materialien, z.B. aus Cellulose. Alle Materialien für Gebrauchsgegenstände, Kleidung, Auslegeware und Reifen MÜSSEN biologisch und planetarisch langfristig verträglich werden (ich vermeide hier absichtlich den schwammigen Begriff “nachhaltig”).

Du verwendest im Buch bewusst den Begriff “Klimazerrüttung“ und kritisierst “Klimawandel“ als zu sanft. Suchst du nach einem angemesseneren Ausdruck für das Ausmaß der Zerstörung?

Ja, genau. Der im deutschen Sprachraum immer noch bevorzugte Begriff “Klimawandel” dient v.a. der unterbewussten Beruhigung. Ich bin überzeugt, dass seine Erfindung und Verbreitung von Lobbyisten der Mineralölbranche forciert wurde. Der international gängige Begriff climate change bedeutet einfach “Klimaveränderung”, das ist wenigstens neutral und nicht schönfärberisch.

Wissenschaftler wählen diesen Begriff (climate change) seit Jahrzehnten immer wieder, um neutral zu bleiben – das ist ja auch ihr Job. Aber wenn wir heutzutage dieses Thema in allgemeinen Medien aufgreifen, sollten wir Begriffe wählen, die der Lage auch gerecht werden, inklusive ihrer sozialen und humanen Implikationen. Klimawissenschaft ist ja längst keine Theorie mehr, die sich in Computermodellen erschöpft – wie ihr bis 2012 oft vorgeworfen wurde. Die Klimakrise ist längst Realität: Das Schmelzen der Eiskappen und der Gletscher, die Erwärmung der Meere, die Verstärkung von Dürren und Hitzewellen, und nicht zuletzt die enorm ansteigende Frequenz und Vehemenz großflächiger Feuerkatastrophen schüttelt ja langsam auch die letzten Skeptiker wach. Es gibt bereits Millionen von Klimaflüchtlingen. Wir können Menschen, die alles verloren haben, nicht sagen, sie seien nun mal vom “Wandel” ereilt worden! Nein, es geht um die – menschengemachte – Zerrüttung des Weltklimas, der Zerstörung lokaler Lebensbedingungen.

Bei einigen Zahlen, die so in den Medien herumschwirren, scheint es Fragezeichen zu geben. So wird ja oft von den 14% Anteil gesprochen, die die industrielle Landwirtschaft an der Klimakrise haben soll. Doch mehrere Studien und Berichte beziffern diesen Anteil als viel höher. Ist das so, oder wo bleiben die im allgemeinen Diskurs verwendeten Zahlen noch unter dem tatsächlichen Niveau?

Dazu möchte ich eine ganz fundamentale Aussage aus meinem Buch zitieren: “53 Prozent der europäischen Landnutzung werden praktisch importiert, hauptsächlich aus Brasilien, Russland und China.” In anderen Worten: Nicht einmal die Hälfte der gesamten land- und forstwirtschaftlichen Produktion, die Europa konsumiert (oder exportiert), wird auf Flächen innerhalb Europas erzeugt. Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie eine menschliche Population – eben die Bevölkerung Europas – die ökologische Tragfähigkeit ihrer Heimatregion überschreitet. Das ist Overshoot. Europa ist überbevölkert, zumindest, wenn wir die gängigen Lebensstandards voraussetzen – würden wir unsere Bedürfnisse dagegen auf den durchschnittlichen Lebensstandard Indiens oder Chinas zurückschrauben, würde es auch ohne diese gigantischen Importe gehen können. Aber mit Saus und Braus ist das nicht vereinbar. Status ist: Wir – hier im reichen Europa, in Nordamerika und Australien – konsumieren die Welt, wir saugen die Arbeitskraft aus den ärmeren Völkern und die Lebenskraft aus der gesamten lebendigen Welt. Und ein immer größer werdender Teil dieser Lebenskraft endet schließlich im Cyberspace der Offshore-Bankkonten der Milliardäre, auf die wir einfachen Konsumenten auch keinen Einfluss mehr haben. Darum muss ein “grüne Revolution” auch eine soziale sein.

Solange europäische Regierungen also verschweigen, dass über die Hälfte der europäischen Lebens- und Wirtschaftskraft importiert wird, können sie davon sprechen, dass der Agrarsektor nur etwa 14 Prozent der Treibhausgase ausmachen würde, der Verkehr aber deutlich mehr. Wenn wir jedoch die Landzerstörung, die wir heimlich importieren, mitberechnen – also die Zerstörung des Amazonas-Regenwalds für Sojafuttermittel und Rindfleisch, die Zerstörung der indonesischen Regenwälder für Palmöl, usw. – kehren sich die Verhältnisse um. Weltweit kommen etwa 14,2 Prozent der Treibhausgasemissionen allein aus der Viehwirtschaft, die Autos und Transporter der Welt tragen dagegen “nur” 8 Prozent bei. Insgesamt stellt die industrielle Landwirtschaft den zweitgrößten Treiber nicht nur der Klimazerrüttung sondern der Zerstörung der gesamten Ökosphäre dieses Planeten dar. (Der größte Treiber ist der weltweite Raubbau von “Rohstoffen” wie fossilen Brennstoffen, Mineralien, seltenen Erden).

Diese selbstgefällige Augenwischerei des industrialisierten globalen Nordens geschieht übrigens auch in den anderen Sektoren der Wirtschaft. Die für das Klima und die Ökosphäre schädlichsten Industrien hat man längst nach China und in den globalen Süden ausgelagert. Dort treiben sie die Klimabilanz anderer Länder in die Höhe, aber nicht unsere. Sogar die USA sind da noch ehrlicher als die EU, denn sie haben mehr Land, mehr Agrarflächen, und auch mehr Industrieanlagen (wie z.B. die Raffinerien in Texas). Die Raffinerien für europäische Motorenbrennstoffe dagegen stehen in Russland, dem Nahen Osten oder Afrika. Auch unser Plastik- und Elektromüll findet sich zum großen Teil in Asien oder Afrika wieder, wo er verbrannt oder einfach auf Müllkippen geworfen wird.

Die tatsächlichen Verhältnisse finden sich nirgends besser illustriert als in einer der genialen Weltkarten des Geographen Benjamin Hennig, siehe Abbildung 2 (Quelle: Benjamin Hennig, www.viewsoftheworld.net/?p=680).

Abb. 2: Die Länder der Welt, optisch verzerrt gemäß ihrer Verantwortung für ihre versteckten CO2-Emissionen. Die Größe der jeweiligen Landesfläche zeigt den Gesamtanteil an den globalen Emissionen, die Farbe die Höhe des Pro-Kopf-Verbrauchs, also die Höhe des verschwenderischen Lebensstandards. Wenn man beides zusammennimmt sind die Hauptverantwortlichen die USA, Deutschland und Großbritannien.

Diese Karte bezieht sich wohlgemerkt NUR auf den CO2-Ausstoß. Würde sie alle klimaaktiven Gase berücksichtigen, wären die Unterschiede noch extremer.

Im Buch sind auch viele anschauliche Graphiken enthalten. Eine davon zeigt den Jetstream. Was ist der Unterschied zum Golfstrom und welche Bedeutung haben beide für das Klima auf der Erde bzw. was passiert, wenn sie kippen?

Der Golfstrom ist eine Meeresströmung, der Jetstream eine atmosphärische. Beide bedingen ein stabiles und angenehm warmes Klima in Europa, haben aber auch für andere Weltregionen enorme Auswirkungen auf Klima und Wetter.

Der Golfstrom wurde einst nach dem Golf von Mexiko benannt, verbindet aber beide Teile des Atlantik (Nord und Süd). Er wird nun durch die Klimazerrüttung schwächer, weil durch das Schmelzen nordpolarer Eismassen der Nordatlantik wärmer und weniger salzhaltig wird, was die physikalische Zugkraft für die Wasserströmung aus dem Süden verringert. Die Schwächung des Golfstromes schreitet voran und bringt immer weniger Wärme nach Europa – dadurch kommt es tatsächlich zu einer Verringerung der Temperaturen, was der globalen Tendenz der Erwärmung ja entgegensteht (und zweifellos vielen “Klimazweiflern” wieder Rückenwind geben wird).

Der nordpolare Jetstream ist ein Starkwindband in einer Höhe von 8 – 12 km über dem Meeresspiegel, das sich um die ganze Nordhalbkugel zieht. Es ist normalerweise einige hundert Kilometer breit und entsteht durch die Dynamik der Begegnung der Kaltluftfront der Polarzone und der Warmluft der südlichen Breiten. Unabhängig von der hohen Geschwindigkeit der eigentlichen Winde driftet das gesamte System langsam ostwärts. Und wichtig: Die Hoch- und Tiefdruckgebiete driften mit. All dies ist Teil einer gesunden Klimastruktur auf einem gesunden Planeten.

Durch die globale Erwärmung wird nun auch der Jetstream schwächer, denn die Temperaturunterschiede verringern sich durch die Aufheizung der Polarzonen. Dadurch kommt es zu immer mehr Extremwetterlagen wie flutartigen Regenfällen oder Dürren. Und weil auch die Ostdrift schwächer wird oder mitunter bereits wochenlang ganz zum Stillstand kommt, hängen auch die Extremwetterlagen lange an denselben Orten fest. Des weiteren weisen auch häufiger werdende absurde Nachrichten wie eine gleichzeitige Hitzewelle in Skandinavien und Schnee auf den kanarischen Inseln (so geschehen im Sommer 2020) eindeutig auf die Zerrüttung des Jetstreams.

Sowohl der Golfstrom als auch der Jetstream können einen “Kipppunkt” erreichen. In der Klimatologie bezeichnet man damit einen point of no return, einen Punkt ohne Wiederkehr, eine bleibende unumkehrbare Schädigung. Im Falle des Jetstreams würde das eine neue Ära einläuten, in der Europa, Asien und Nordamerika ihre jahreszeitlichen Wettermuster verlieren und unvorhersehbare Wetterwechsel inklusive extremer Stürme, Tornados, Hitze- als auch Frosteinbrüche zu schwerwiegenden Ernteausfällen führen würden.

Auch der Amazonas hat eine Auswirkung auf die Stärke des Golfstroms, und damit auf Europa. Der dortige tropische Regenwald ist immer noch der größte der Erde, aber inzwischen so fragmentiert und geschwächt, dass er gebietsweise unter Trockenheit und Dürre leidet (als Regen-wald!) und weiträumig die Bäume und Pflanzen deutlich weniger Wachstum aufweisen als früher. Dadurch und die verheerenden Waldbrände der letzten Jahre hat der Amazonas inzwischen seine Funktion als globale Kohlenstoffsenke verloren! Im Gegenteil setzt er nun mehr Kohlenstoff frei als es durch Baumwachstum zu binden. Der Verlust dieser global so wichtigen Funktion ist ein Riesenschlag für das globale Klimasystem. Aber es ist noch nicht der Kipppunkt des Regenwaldes selbst; dieser wird “erst” gegen 2040 erwartet.

Sollte der Amazonas-Regenwald aber wirklich kippen, wird das wahrscheinlich zu einem der befürchteten globalen Kipppunkte auswachsen, d.h. einer unumkehrbaren Kettenreaktion des Zusammenbruchs planetarischer Klimaelemente. Dann würde der Planet in das sogenannte Hothouse Earth-Szenario trudeln, ohne dass die Menschheit noch etwas daran ändern könnte.

Bei anhaltender Ignorierung der Pariser Klimavereinbarungen bewegen wir uns aber ohnehin in diese Richtung.

Wie beurteilst du die politische Aktivität der letzten Jahrzehnte und was erwartest du dir von der kommenden COP26 Anfang November in Glasgow?

Welche Aktivität?!? Außer schönen, sinnvollen Worten auf UN- und Regierungsebene ändert sich ja nichts. Die vergangenen Jahrzehnte sind verlorene Jahrzehnte. Nun bleibt uns nur noch ein einziges, um wirkliche Änderungen einzuleiten. Die politisch Verantwortlichen kennen diesen Begriff doch gar nicht; sie dienen einem extraktiven Wirtschaftssystem, dass in grenzenlosem Expansionismus die gesamte Ökosphäre des Planeten und alles Leben darin zu einem Warenlager gemacht hat, dass für die Geldmaschine des Hyperkapitalismus verheizt wird.

Wie sehr die Wirtschaftsmacht den Naturschutz und Planetenschutz hinauszögert, möchte ich anhand von drei Spiegeltitelbildern demonstrieren, die ich neulich in einem Archiv fand:

Abb. 3: “Der Spiegel“-Titelbild, 11. August 1986
Zitat: “Ozon-Loch, Pol-Schmelze, Treibhaus-Effekt: Forscher warnen – DIE KLIMA-KATASTROPHE“

Abb. 4: “Der Spiegel“-Titelbild, 29. März 1982
Zitat: “Keine gesellschaftliche Strömung ist so erfolglos wie die Naturschutzbewegung. Womöglich läuft die größte Vernichtung biologischer Vielfalt seit dem Sauriersterben vor 65 Millionen Jahren. Bonns Regierende aber spotten nur über die ‚Verrückten im grünen Mäntelchen‘.“

Abb. 5: “Der Spiegel“-Titelbild, 20. Nov. 1978
Zitat: “Es ist höchste Zeit für eine alternative Energiepolitik“

Nun ist dieses System an den natürlichen planetarischen Grenzen angekommen – der Planet wächst ja nicht mit –, und nun bleibt nur noch eines, um den Überlegenheitswahn der menschlichen Spezies zu befriedigen: den Druck nach innen zu erhöhen. D.h. die Effektivität (und damit die Profite) zu steigern, indem die wirklich letzten Refugien zu Geld gemacht werden: nicht nur die letzten Naturschutzgebiete, sondern auch persönliche Daten und Bewegungsmuster, Körperwärme, Gefühle, Interessen, Gedanken. Langsam spürt jeder, auch in den reichen Industrieländern, was es heißt, inhuman als bloße Ressource angesehen zu werden. Geschieht uns vielleicht ganz recht, denn Trafficking, Kinderarbeit und sadistische Massentierhaltung jucken uns ja auch nicht, solange sie anderswo stattfinden und solange unser eigener Luxus gesichert bleibt. Indigene, Menschen in (Neo-)Kolonien, Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe, Frauen, Kinder … sie alle kennen diese Ausbeutung schon lange. Tiere sowieso. Das letzte Ziel dieser Geisteskrankheit ist die totale Kontrolle über jeden Menschen, jedes Nutztier, jede Nutzpflanze. Einfach alles muss seinen optimalen Nutzwert zeigen und zu Geld gemacht werden.

Und Glasgow? Ein wenig mehr heiße Luft zur Kühlung des Planeten und der erregten Gemüter.

Ein sehr interessanter neuer Ansatz, über den du schreibst, ist der Ökozentrismus. Er stellt einen Gegenpol zum Anthropozentrismus der letzten Jahrhunderte dar, richtig? Kannst du uns grob umreißen, was genau Ökozentrismus ist, wo er herkommt und wie er uns weiterbringen kann?

Ökozentrismus kommt von griech. oikos, das “Haus, Zuhause”. Es ist die Ökosphäre, die Lebensschicht unserer Heimatplaneten, die hier ins Zentrum des Wertesystems gestellt wird. Während griech. anthropos den Menschen bezeichnet; und wenn der sich selbst in den Mittelpunkt aller Bedeutung und Wichtigkeit stellt, sprechen wir von Anthropozentrismus. Voraussetzung für letzteres ist, dass der Mensch sich als von der Natur getrennt betrachtet. Eine erstaunliche Wahnvorstellung, denn in Wirklichkeit sind und bleiben wir natürlich immer Teil der Ökosphäre dieses Planeten, und schon gar der “Natur” (des Universums) an sich.

Unsere vermeintliche Trennung von der Natur verschärfte sich ganz erheblich durch die rationalisierende “Aufklärung” und die industrielle Revolution, beide ab dem 18. Jahrhundert. Aber historisch lässt sich der Anthropozentrismus bis zum Beginn des Ackerbaus zurückführen: Während der Sammler und Jäger noch “eins” mit seiner Umgebung war, musste der Ackerbauer sein Feld, seine Scholle nun “gegen die Natur“ verteidigen, gegen Fraßfeinde, unerbetene Insekten oder Vögel, ungünstige Wetterlagen. Das ist etwa 10.000 Jahre her, und entsprechend tief und fest sitzt dieses psychologische Muster. Aber damit nicht genug. Der Wahn der Überlegenheit richtete sich nicht nur gegen Tiere und Pflanzen, sondern begann alsbald auch, den Geist gegen andere menschliche Gruppen zu vergiften; hier liegt die Wurzel für soziale Diskriminierung. Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Ableismus, Faschismus – alle Gedankenformen, in denen “Wir” angeblich besser seien als “die Anderen”. All dies führt zu Konkurrenzdenken und der Rechtfertigung, ja Verherrlichung von Krieg in unseren Wertesystemen.

Die ökozentrische Weltanschauung dagegen hat es meines Erachtens schon immer gegeben. Überall dort, wo sich menschliche Gruppen als Teil des großen Ganzen empfunden und dieses Ganze entsprechend respektvoll behandelt haben. Ich denke, der Ökozentrismus ist quasi unser natürliches Betriebssystem als Spezies Mensch, denn er garantiert die harmonische Zusammenarbeit mit allen Wesen und Ökosystemen, die es gibt. Der Gesamtorganismus der lebendigen Erde, auch Gaia genannt, funktioniert ja tadellos in seiner vielseitig vernetzten Zusammenarbeit aller Gruppen, Naturreiche und Ebenen, und der Mensch kann endlich zu einem – bewussten – Teil davon werden. In dieser Hinsicht kann die Zukunft, die jetzt möglich wird, noch viel großartiger und schöner werden als jegliche Zivilisation, die es jemals gab. Jetzt, an diesem Scheideweg, ist alles möglich! Darum spricht mein Buch im Untertitel ja auch von Zusammenbruch oder Heilung.

Aus ökozentrischer Sicht hat jede Kreatur einen ihr innewohnenden Wert. Es bedarf keines Leistungsbeweises, anderen Mitgliedern eines Systems oder einem größeren Ganzen zu dienen. Jedes Wesen hat ein Recht zu existieren, ganz einfach, weil es es gibt. Seeotter, Delphine und Wale, Wölfe, Spinnen, Bäume – für sie alle ist die Erde genauso ihr einziges Zuhause wie für uns Menschen. Wir haben keinerlei Recht, sie zu versklaven, ihren Lebensraum zu zerstören oder gar, sie ins Aussterben zu jagen.

Die moderne Form des Ökozentrismus hat ihre Wurzeln in der Tiefenökologie, die sich in den 1970er Jahren entwickelte. Die beiden ökozentrischen Vordenker Ted Mosquin und Stan Rowe brachten die Grundprinzipien des Ökozentrismus folgendermaßen auf den Punkt:

Die Grundprinzipien des Ökozentrismus
1. Die Ökosphäre ist das Wertzentrum der Menschheit.
2. Die Kreativität und Produktivität der Ökosysteme der Erde hängt von ihrer Unversehrtheit ab.
3. Das erdzentrierte Weltbild wird durch die Naturwissenschaften bestätigt.
4. Die ökozentrische Ethik gründet auf dem Bewusstsein für unseren Platz in der Natur.
5. Eine ökozentrische Weltsicht schätzt die Verschiedenheit der Ökosysteme und der Kulturen.
6. Eine ökozentrische Ethik unterstützt soziale Gerechtigkeit.

Die Ecocentric Alliance hat “Ein Manifest für die Erde“ von Mosquin und Rowe auch auf deutsch veröffentlicht.

Es sollte betont werden, dass der Ökozentrismus nicht gegen den Menschen gerichtet ist. Er weist ihm lediglich seinen verhältnismäßigen Platz innerhalb der Familie aller Erdenwesen zu. Die Betonung der gemeinsamen äußeren Realität der gesamten Menschheit und aller anderen Lebewesen bietet aber die erste vertrauenswürdige Grundlage für eine echte Naturschutzarbeit. Denn woran der Naturschutz in den letzten 50 Jahren, und heute mehr denn je, scheitert, ist, dass er grundlegend menschenzentriert bleibt und die Natur nur erhalten will, damit sie uns weiterhin – und “nachhaltig” – dienen könne.

Der allerwichtigste Punkt an deinem Buch scheint uns, dass trotz des düsteren Gesamtbilds, das sich ergibt – und das sicher auch nötig ist, um zu verstehen, dass jetzt wirklich alle mithelfen müssen –, es bereits viele ambitionierte Initiativen und Lösungsansätze gibt, zum Beispiel Staaten, die den Schutz der Erde und der Natur in ihre Verfassungen schreiben, aber auch Bewegungen wie “Degrowth“ und Modelle wie die Kreislaufwirtschaft. Im dritten Teil “Die menschliche Schnittstelle“ gehst du darauf detailliert ein. Was kannst du uns dazu sagen?

Ja, im Buch erwähne ich viele positive und hoffnungsvolle Ansätze und Initiativen. Von Menschen, die nicht länger warten, dass jemand anders etwas tut, sondern selbst Verantwortung übernehmen und aktiv werden. Aber um solche Initiativen zu unterstützen, oder erstmal überhaupt zu akzeptieren und zu begrüßen, braucht es ja eines Umdenkens, darin sehe ich das A und O der nötigen gesellschaftlichen Veränderung. Der Begriff “Umdenken” trifft es noch nicht einmal, denn es geht um eine Rekalibrierung unseres tieferliegenden Wertesystems und die Entschlüsselung unbewusster Paradigmen.

Auch ein “Umfühlen” ist notwendig, denn als gute Konsumenten sind wir alle Profis darin, mit der sogenannten “kognitiven Dissonanz” umzugehen: Wir können Schweinefleisch genießen, ohne an das unsagbare Leid in der Massentierhaltung zu denken (noch immer leiden 91 Prozent der Schweine an schmerzvollen Schleimbeutelentzündungen in den Gelenken; allein in deutschen Fleischbetrieben sterben jährlich fast 14 Millionen Schweine an Krankheiten, trotz des astronomischen Antibiotika-Einsatzes). Wir verbraten Aluminiumfolie ohne einen Gedanken an die Entrechtung und den Völkermord an indigenen Waldbewohnern im globalen Süden, in deren Territorien sich die Bauxitminen befinden. Wir bringen unseren Elektromüll zum Recycling und fühlen uns auch noch gut dabei, ohne uns zu fragen, wieviel davon in Afrika landen und ganze Familien vergiften.

Wir fordern unser “Recht” auf freien Konsum, freie Bewegung und “unser Steak”. Wie Kinder. Aber wir müssen endlich erwachsen werden und auch die Verantwortung annehmen, die mit Freiheit einhergeht. Wenn wir unsere inneren Dissonanzen (wie die oben beispielhaft aufgeführten) endlich auflösen wollen, stoßen wir schnell auf das anerzogene Paradigma des Wir-sind-eben-besser-als-die-Anderen! “Mein Leben ist eben mehr wert als das des Schweines.” – Ach wirklich? Wer kann denn das in letzter Instanz beurteilen? “Ich bin eben mehr wert als diese Wilden im Wald.” “Ich bin eben mehr wert als diese Kinder, die an Bleivergiftung aus meinen Altbatterien dahinsiechen.” – Natürlich kann das niemand so über die Lippen bringen, aber wir handeln so, wir leben so! Es ist höchste Zeit, uns ehrlich einzugestehen, welche Auswirkungen unsere Lebensweise hat, und sie dann, nach und nach, aber konsequent, zu ändern. Und heute brauchen wir einen inneren Kompass mehr denn je, denn die Nachrichten-Manipulationen durch diverse Interessengruppen und die falschen Propheten nehmen zu (siehe dazu meinen Artikel “Der neue Klimakrieg“.)

In der Siedlung, in der ich aufwuchs, stand ein Denkmal. Ein Monolith, in den folgendes Zitat eingemeißelt war:

“Hab Ehrfurcht vor dem Leben.”
Albert Schweitzer

Ich denke, das sagt alles. Und “das Leben” bedeutet sowohl unser eigenes (d.h. wir achten darauf, unseren Körper gesund zu halten und lieben und ehren ihn als das biologische Wunderwerk, das er ist), als auch das Leben anderer Wesen (d.h. wir respektieren ihre Körper, ihre Gesundheit, ihr Existenzrecht und ihr Recht auf Erfüllung und Lebensfreude) als auch die gesamte Lebenssphäre unseres Planeten, d.h. die Unversehrtheit der Ökosysteme und des Klimasystems.

Aber wer kennt überhaupt noch das Wort “Ehrfurcht”? Es bedeutet “Hochachtung, Respekt vor der Würde und Erhabenheit einer Person, eines Wesens oder einer Sache”. Google findet dazu heutzutage (Oktober 2021) 6,93 Mio. Suchergebnisse. Zum Begriff “Nutzen” – “die Eigenschaft eines Gutes oder einer Dienstleistung [oder eines Lebewesens!!!] ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen” – findet Google 8,58 Mrd. Einträge. Das ist über 1.200 Mal so viel! Dieses Verhältnis muss sich umkehren.

Alle Ansätze zu einem ehrlicheren und konsequenteren Naturschutz sind geboten und hoch dringlich. Aber sie müssen aus dem richtigen Geist heraus entstehen! Sonst bleibt alles beim alten, nur mit Greenwashing übertüncht.

Etwas, das uns besonders gut an deinem Buch gefällt, sind die Tipps zum Selbst-aktiv-Werden am Ende jedes Abschnitts. Das zeigt, dass jeder einzelne sehr wohl einen wertvollen Beitrag leisten kann. Wie würdest du es kurz zusammenfassen, was kann jeder in sein alltägliches Leben integrieren und beherzigen?

Ja, es gibt Myriaden Möglichkeiten, wie wir alle kreativ und aktiv werden können. Reduce, reuse, recycle (Reduzieren, Wiederverwenden, Recyceln) ist ein sehr brauchbares Motto. Kreislaufwirtschaft erklärt sich ja fast von selbst. Der biologische und möglichst regionale Anbau von Lebensmitteln ist von entscheidender Bedeutung. Und für unsere Lebens- und Wirtschaftsweise ist “Degrowth“ überaus wichtig! Es bedeutet “Weniger ist auch noch reichlich”.

Jede/r einzelne zählt und kann einen Unterschied machen! Aber gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass sich bereits die Produktionsweisen und politischen Entscheidungen ändern müssen. Wir müssen Politik und Industrie herausfordern, im großen Stil etwas zu ändern – und ich meine nicht Richtung Smart Homes und digitale Überwachung, sondern Richtung Ehrfurcht vor dem Leben.

Und das halte ich für das wichtigste: Die innere Arbeit, unsere eigene Würde wiederzufinden und weiterzuentwickeln. “Will ich wirklich in einem System leben, dass mir allen möglichen Luxus erlaubt, indem es andernorts buchstäblich über Leichen geht?” Wir können unsere wahrhaftige eigene Ethik finden, uns dann zusammensetzen und zusammen erträumen, in was für einer Welt wir leben wollen. Und diese Impulse dann nach Außen teilen. Wenn das freudvoll geschieht, werden wir wiederum andere inspirieren. Dann werden Dominoketten des Lichts das Dunkel erhellen. Auch im Positiven kann es Kipppunkte geben, und vor denen brauchen wir keine Angst zu haben. Auf zu einem gesunden Leben auf einem gesunden Planeten!

Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass die meisten Menschen eine Welt wollen, die für alle Wesen fair und beglückend ist. Let’s get to work! Let’s share it.

Vielen Dank, Fred Hageneder, für dieses äußerst interessante und inspirierende Interview!

 

Fred Hageneder

Nur die eine Erde
Globaler Zusammenbruch oder globale Heilung – unsere Wahl

ISBN 978-3-89060-796-2
Klappenbroschur, 384 Seiten mit 25 Abbildungen
Neue Erde Verlag

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