Am 9. August 2021 erschien der Sechste Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC Sixth Assessment Report). Die Kernbotschaft “Code Red” – “Alarmstufe Rot” – zündete in vielen Ländern, zusammen mit der Information, dass wir wirklich nur noch dieses Jahrzehnt haben, um das Ruder der Klimazerstörung herumzureißen.

Doch in deutschen Medien kam die Botschaft mal wieder nicht so richtig an, “Alarmstufe Rot” als Headline ist so gut wie unbekannt geblieben. Kein Wunder, denn Deutschland ist das Land der Euphemismen, man denke nur an das Märchenwort “Klimawandel”, welches weiterhin beharrlich für “Klimaveränderung”, geschweige denn “Klimazerrüttung” benutzt wird, oder den Begriff “Plastikverschmutzung”, welcher die Erkenntnis der totalen Verseuchung durch Mikroplastikpartikel verhindert. Aber selbst deutsche Schönfärberei kommt an ihre Grenzen:

Die Zerrüttung des Klimas nimmt zu

Es ist nun offiziell, dass wir den bisher erreichten Stand der globalen Klimastörung – sprich: Polar- und Gletscherschmelze, Aufheizung der Meere und der Atmosphäre, großflächige Degradation des Amazonas-Regenwaldes sowie häufige und heftige Extremwetterlagen auf allen Kontinenten – zu Lebzeiten nicht wieder rückgängig machen werden… können! Wir können nur noch – aber das ist auch noch sehr viel! – Schlimmeres verhindern. Und uns gleichzeitig, so wird uns von inaktiven Politikern gesagt, mit der unbequemer werdenden Situation abfinden.

Darum ist rechtzeitig das Wort “Resilienz” in Mode gekommen (bzw. gebracht worden). Es bezeichnet Widerstandsfähigkeit, Belastbarkeit, Zähigkeit, elastische Rückfederung. Das gilt für Städte und Gemeinden (sollen sie doch lokale Programme aufstellen, um irgendwie über Wasser zu bleiben!) und auch für Individuen. (Alle paar Jahre mal sein Zuhause durch eine Flut- oder Feuerkatastrophe zu verlieren, gehört nun mal zum Leben dazu! Die Versicherungen zahlen das eh bald nicht mehr. Jede/r sollte Taschenlampe, Schwimmweste, Gasmaske und ein gutes Buch immer im Überlebensrucksack unter dem Bett parat haben!) Ja, Resilienz statt Jammern wird zunehmend vom Volk gefordert.

So ändern sich die Menschen und die Zeiten. Nur Politik und Großindustrie ändern… nichts.

"Alarmstufe Rot": Endlich aufwachen und mit echtem Klimaschutz beginnen!

Abb. 1: Britische Zeitungen blieben die ganze Woche nach dem IPCC-Bericht im “Code Red”. Selbst die rechtskonservativen Murdoch-Publikationen leugnen die brennende Lage nicht mehr.

 

Aber waren die apokalyptischen Nachrichten des Weltklimarats wirklich eine Überraschung? Manche hatten sich vielleicht tatsächlich schon gewundert, warum UN-Delegierte in den letzten Monaten immer schärfere Töne zum Thema anschlugen, wie z.B. UN-Generalsekretär António Guterres im April 2021: “Wir stehen am Rande des Abgrunds.” (auch das kam übrigens kaum in die deutschen Medien). Wer den Begriff “apokalyptisch” in diesem Zusammenhang immer noch für übertrieben hält, sollte sich einmal das Video in diesem Guardian-Artikel anschauen (zwei Drittel nach unten scrollen), das einen gerafften Überblick nur über den Juli 2021 gibt. Oder die Retweets von Greta Thunberg.

Doch insgesamt bleibt das wahre Ausmaß der klimaschädlichen Emissionen der Menschheit vor der Öffentlichkeit gut verborgen.

Ich will kurz erläutern, warum ich diese provokante Aussage mache. Wenn von Emissionen gesprochen wird, ist fast immer nur die Rede von der Verbrennung fossiler Brennstoffe und dem daraus resultierenden Kohlendioxid (CO2). Da war es schon eine Pionierarbeit, als der norwegische Klimawissenschaftler Glen Peters und sein Team 2017 eine Studie veröffentlichten, die zu dem CO2 aus der Verbrennung auch solches aus der “Landnutzungsänderung” hinzufügte. “Landnutzungsänderung” ist übrigens wieder so ein Euphemismus, dieses Mal aber ein internationaler: Er steht für die Zerstörung von Naturflächen, meist Wäldern, und deren Überführung in Agrarland. Vornehmlich betrifft das die Vernichtung des Tropenwaldes in Indonesien für Palmölplantagen und die des Regenwaldes im Amazonasbecken für Viehweiden und Sojaanbau (Viehfutter). Diese „Änderungen“ gehören zu den größten Ökoziden der Gegenwart.

Peters‘ Verdienst war, dass er für 2016 nicht nur 36 Gt (Gigatonnen = 1 Milliarde Tonnen) CO2 aus der Verbrennung errechnete, sondern weitere 5 Gt für “Landnutzungsänderung” anerkannte. Das tat sonst niemand, nicht einmal der Weltklimarat! Statt über 36 Gt hätte sich die Menschheit 2017 über die weltweiten Auswirkungen von 41,5 Gt Gedanken machen müssen.

"Alarmstufe Rot": Endlich aufwachen und mit echtem Klimaschutz beginnen!

Abb. 2: Peters’ inzwischen veraltetes Diagramm (Daten von 2016) der globalen CO2-Emissionen. Ca. 36 Gt CO2 aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe plus ca. 5 Gt CO2 aus “Landnutzungsänderung”.

 

Bitte merken Sie sich kurz: 41. Die Menschheit hat 2016 über 41,5 Milliarden Tonnen CO2 ausgestoßen.

Dennoch beschränkten sich die öffentlichen Diskussionen in den Jahren danach meistens auf die Kohlenstoffwerte allein aus der Verbrennung. In der UN macht man sich Sorgen, dass die weltweiten CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe immer noch nicht sinken. Sie waren 2019 (dem derzeit letzten vollständig ausgewerteten Jahr) auf 38 Gt gestiegen. Vom Pariser Abkommen und irgendeiner Reduzierung weiterhin keine Spur.

Innerhalb dieses CO2-Rahmens sagte schon der IPCC Sonderbericht von 2018, dass der Menschheit vom Global Carbon Budget nur noch 420 Gt verblieben, wenn man das 1,5-Grad-Ziel einhalten wolle. D.h.: Der Weltklimarat sagt offen, dass das Carbon Budget noch vor 2030 vollständig aufgebraucht sein wird. 420 geteilt durch 38 gleich 11; also elf Jahre von 2018 bis 2028. Politiker, die lediglich von einer Halbierung des CO2 bis 2030 sprechen, und von Net Zero (Null) Carbon bis 2050, tanzen in Wolkenkuckucksland.

Dabei berücksichtigte der IPCC noch nicht einmal die 5,5 Gt “Landnutzungsänderung”. Wenn wir die mit einrechnen, bleiben uns sogar nur noch sieben Jahre (ab 2018), um unter 1,5°C Erderhitzung zu bleiben. Aber es kommt noch dicker:

Deflektion: CO2 vs. Treibhausgase

Alle diese Berechnungen und politischen Erwägungen (von “Maßnahmen” kann man ja immer noch nicht sprechen!) beziehen sich lediglich auf Kohlenstoff-Freisetzung. Es gibt aber noch andere klimaaktive Gase. Erinnern Sie sich an den anscheinend völlig aus der Mode gekommenen Begriff “Treibhausgase”? Vielleicht nicht: Google findet heutzutage achteinhalb Mal mehr Einträge zu “Kohlendioxid” als zu “Treibhausgase”; das müsste aber umgekehrt sein.

Treibhausgase (THG) sind alle anthropogenen (“vom Menschen verursachten”) Substanzen, die einen Klimaeffekt haben und zur globalen Erhitzung beitragen. Neben CO2 sind das v.a. Methan, daneben Lachgas und Fluorkohlenwasserstoffe. Aber Informationen sind rar geworden. Regierungen wollen kaum etwas von “Treibhausgase insgesamt” wissen, und selbst der Weltklimarat behandelt die THG bisher stiefmütterlich. Nur eine einzige Quelle gibt das vollständige Bild: Der UNEP Emissions GAP Report, der jährlich unverblümt über eben dieses “Gap”, die Kluft zwischen Versprechen (Pariser Abkommen) und Wirklichkeit, berichtet.

Um es kurz zu machen: CO2 stellt nicht 100% der chemischen Ursache des Klimaproblems dar, sondern nur zwei Drittel!

Hier ist das Original-Diagramm aus dem GAP Report 2020 (Seite xv):

"Alarmstufe Rot": Endlich aufwachen und mit echtem Klimaschutz beginnen!

Abb. 3: Alle Quellen globaler THG-Emissionen (1990 bis 2019). UN GAP Report 2020.

 

Der GAP Report enthüllt:

  • Das berühmt-berüchtigte CO2 aus fossiler Verbrennung stellt in Wahrheit nur zwei Drittel der klimaschädlichen Emissionen dar (“Fossil CO2”, orangefarben).
  • Dazu kommen Methan (CH4, violett), Lachgas (N2O, rot), fluorierte Gase (orangegelb) sowie die Emissionen aus der “Landnutzungsänderung”.

Erinnern Sie sich an die Zahl, die Sie sich oben merken sollten?
Ja: 41.
Nun sprechen wir von 59.

2019 hat die Menschheit global 59,1 Gt CO2e (Kohlendioxid-Äquivalent) Treibhausgase erzeugt.

Und da man ja nicht darüber spricht, bleiben zwei wesentliche Fragen offen:

1. Wenn der Rauch aus Waldverbrennung zur “Landnutzungsänderung” mit einfließt (“Regenwald für Hamburger”), wird hier auch der Rauch aus Feuerkatastrophen, die nicht zur “Landnutzungsänderung” geplant waren (z.B. Kalifornien, Sibirien, Australien) mitgerechnet?

2. Die unterschiedlichen THG haben ja auch eine unterschiedlich intensive Klimawirkung. So galt Methan lange als 21 mal klimaschädlicher als CO2 (gerechnet über einen Zeitraum von einhundert Jahren). Aber 2019/2020 setzte sich die Erkenntnis durch, dass wir für unser grauenhaftes Klima-Management gar kein Jahrhundert mehr haben, und über einen viel realistischeren Zeitraum von 20 Jahren ist Methan 86 mal klimaschädlicher als CO2.

Die größten Treiber für die Klimazerrüttung sind nicht Flugzeuge und privater Personenverkehr, sondern die industrielle Landwirtschaft sowie die Extraktionswirtschaft (Abbau und Verarbeitung von “Ressourcen”). Daher muss sich im Großen etwas ändern! Das zeigt sich z.B. auch gut anhand der Corona-Lockdowns 2020: Die Lockdowns haben zwar regional vorübergehend für viele kleine Wunder gesorgt (blauer Himmel, sauberere Luft, lokale Wiederkehr von Insekten, Vögeln und anderen Tieren), aber die jährlichen Emissionen der Welt haben sich im Lockdown-Jahr 2020 kaum verringert: nur 7% weniger CO2, das entspricht sogar nur 4,5% weniger THG. “Sooo gut fürs Klima” war Corona dann doch nicht. Aber v.a. zeigt es, wie gering der Anteil der “Verbraucher” gegenüber der Industrie ausfällt.

Insgesamt kommen wir beim derzeitigen Business-As-Usual nicht einmal auf unter 2°C (Erderhitzung bis 2100). Falls plötzlich alle Pariser Versprechen implementiert würden, käme die Welt auf 2,4°C. Und wenn alles so weiterschleift, auf mindestens 2,9°C. Dabei sind Kipppunkte noch gar nicht einberechnet, weil sie ja unbekannt sind.

Anmerkung für Google-Fans

Die Suchmaschine ist längst nicht mehr die neutrale und allwissende Informationsquelle, für die viele sie immer noch halten. Bei einer Google-Suche nach “Treibhausgase weltweit 2019” führen gegenwärtig über 90 Prozent der (ersten) Suchergebnisse unweigerlich zu reinen CO2-Informationen, und wenn doch einmal von THG die Rede ist, dann sind es lediglich nationale Statistiken.

Selbst die direkte Frage “Wie viele Treibhausgase werden weltweit produziert?” führt zum gleichen Resultat. Und selbst unter Headlines, die von THG sprechen, befinden sich Artikel, die sich nur auf CO2 beziehen. Die Website des Europäischen Parlaments spricht tatsächlich von THG, aber exklusive “Landnutzungsänderung”, und mit (insgesamt unglaubwürdig niedrigen) Zahlen aus den Jahren 2015 bis 2017.

Unfähigkeit der besten Suchmaschine der Welt oder Absicht? Jedenfalls hilft diese riesige Informationslücke der Ölindustrie. (Mehr dazu in meinem Artikel “Der neue Klima-Krieg”.)

Selbst aktiv werden

Es braucht wohl geniale Ideen, Politiker zu finden, die nicht den Industrie-Lobbys zutiefst verbunden sind, sondern wirklich ihrem Volk sowie den (auch nicht-menschlichen) Lebensgemeinschaften dieses Planeten dienen wollen.

Da wir nicht so lange warten können, sind die örtlichen Klimagruppen, die seit der letzten Verlautbarung des IPCC wie Pilze aus dem Boden schießen, ein sehr guter Ansatz. Unter dem Dach von GermanZero z.B. gibt es gereits über 50 Lokalgruppen. Eine andere Möglichkeit, zivil aktiv zu werden oder gar Bürger:innenversammlungen zu etablieren, bieten die Lokalgruppen von Extinction Rebellion. Es ist unglaublich wichtig, dass sich BürgerInnen überall selbst arrangieren und Verantwortung zu übernehmen beginnen.

Außerdem kommt Fridays For Future langsam wieder aus der digitalen Versenkung. Am 24. September 2021 soll ein großer bundesweiter Klimastreik stattfinden. Da finden hoffentlich wieder alle Altersgruppen zusammen, wie schon im Herbst 2019, bevor die Corona-Maßnahmen die Straßen leerfegten.

Wenn ganze demokratische Staaten in Überwachungskapitalismus und Technokratie versinken, müssen sich einfach überall Menschen zusammenschließen und lokal und regional alles tun, was sinnvoll und liebevoll ist. Ökologischer Landbau, lokal wirtschaften, produzieren und einkaufen, kommunale Arbeit, soziales Engagement und Miteinander, zusammen tanzen, singen und sich austauschen.

Ein gesundes Leben auf einem gesunden Planeten kann möglich werden. Aber wir alle müssen jetzt wirklich etwas dafür tun.

 

Das neue Buch von Fred Hageneder „Nur die eine Erde – Globaler Zusammenbruch oder globale Heilung – unsere Wahl“ ist soeben im Neue Erde Verlag erschienen und kann ab sofort im Buchhandel bestellt werden.