Von Observatorio Argentino

In Argentinien lanciert die Regierung Mauricio Macris, im Verein mit Öl-, Bergbau und Agro-Konsortien, eine brutale und mörderische Attacke gegen indigene Gemeinschaften überall im Land, mit wohlwollender Unterstützung durch die Justiz und die grossen Medienkonzerne. Die internationale Gemeinschaft und ihre Institutionen müssen das Massaker stoppen, bevor es zu spät ist.

Ein rassistischer Staat braucht einen bestialen und gewalttätigen Feind, von dessen Vernichtung das Wohl der Gemeinschaft abhängt. Es ist der Tod des dämonisierten Anderen –des Juden, des Moslems, des ‚Indianers’– der die Gemeinschaft, die ‚rechtschaffenen Leute’ überleben lässt: dies ist die furchtbare Logik des modernen Rassismus. Am 25. November, kurz vor dem Abstecher des G20-Gipfels in das patagonische Tourismusparadies Bariloche, wurde dort der 22-jährige Lehrling Rafael Nahuel von hinten erschossen, inmitten einer Operation einer Eliteeinheit der Präfektur gegen die Mapuche-Gemeinschaft Lafken Winkul, die sich gegen die Enteignung ihrer Stammesgebiete zur Wehr setzt. Die Operation war vom Bundesrichter von Bariloche, Gustavo Villanueva angeordnet worden — demselben Richter, dem nun die Aufklärung des vermeintlichen ‚Todesfalls unter ungeklärten Umständen’ übertragen wurde, obgleich das Kaliber der Patrone, die Rafael Nahuel tötete, exakt mit dem der Maschinenpistolen der Präfektur übereinstimmt. Wenige Monate zuvor war während eines Polizeiangriffs auf die Mapuche-Gemeinschaft Lof Cushamen –koordiniert durch den Stabschef des Innenministeriums, Pablo Noceti, zu Gast auf Luciano Benettons Ranch, dem die Mapuche die Aneignung ihrer Siedlungsgebiete vorwerfen– der junge Aktivist Santiago Maldonado verschwunden. Maldonados lebloser Körper wurde später unter dubiosen Umständen im Wasser eines Flusses treibend aufgefunden. Bis heute hat die Regierung nicht erklären können, warum Maldonado, ein Nichtschwimmer, sich ausgerechnet während des Polizeiangriffs durch die nationale Gendarmerie ‚freiwillig’ in den Fluss geworfen haben soll.

Die offziellen Reaktionen auf den Tod Rafael Nahuels waren noch erschreckender. ‚Im Zweifel müssen wir immer den Sicherheitskräften recht geben,’ erklärte die Vizepräsidentin Gabriela Michetti. ‚Wir brauchen überhaupt nichts zu beweisen,’ fügte Innenministerin Patricia Bullrich hinzu und beschuldigte die Mapuche ohne jede Grundlage, Mitglieder einer ‚bewaffneten terroristischen Vereinigung’ zu sein. ‚Für uns ist immer die Version der Präfektur die Wahrheit,’ erklärte Bullrich. Dabei hat selbst die gerichtliche Untersuchung keinerlei Indizien für Waffen auf seiten der Opfer gefunden. Im Gegenteil, alles deutet darauf hin, dass diese sich lediglich mit Steinen und Stöcken gegen den Überfall durch Elitetruppen zur Wehr setzten und daraufhin die Flucht in den Wald einschlugen, als eine Kugel Rafael Nahuel in den Rücken traf. Dennoch gratulierten Bullrich und ihr Kollege im Justizministerium, Germán Garavano, sich nur wenige Stunden später selbst zum Erfolg der Mission: ‚Die guten Leute im Süden können wieder ruhig schlafen, Recht und Ordnung sind wiederhergestellt.’

In Fällen von Mord und Repression, so scheint es, ist das Recht mit den Mächtigen. Dies ist die brutale neue Staatsräson in Argentinien: ein Opfer ist immer verdächtig. Die Wahl von Begriffen aus der Kolonialzeit –la gente, ‚die guten Leute’– ist kein Zufall: wie schon zu Zeiten der Eroberung, sind auch heute nur diejenigen ‚Leute’ und im Genuss von Rechten, die auf der Seite des Staates und der Interessen stehen, die dieser beschützt. Das gleiche zynische Drehbuch kommt auch gegenüber anderen Gruppen wie LehrerInnen und SchülerInnen zur Anwendung, die bei Demonstrationen für höhere Gehälter oder bei der Besetzung von Schulen aus Protest über Bildungskürzungen brutal zusammengeschlagen wurden. Bei Demonstrationen, die Gewalt gegen Frauen anklagten, mussten wir zusehen, wie AktivistInnen und JournalistInnen mit brachialer Gewalt davongezerrt, ihre Kameras zerstört, und für Stunden in Isolationshaft gehalten wurden, wie zuletzt in Zeiten der Militärjunta, als alle Verfassungsrechte ausser Kraft gesetzt waren. Die Liste der Beispiele liesse sich beliebig verlängern, doch es sind zweifellos die indigenen Gruppen, die das Gros der Todesfälle und gewaltsamen Übergriffe, der Verhaftungen und öffentlichen Erniedrigungen erlitten haben In den Provinzen Salta und Formosa wurden die Wichí- und Guaraní-Aktivisten Agustín Santillán, Roberto Farías und César Arias inhaftiert; in Jujuy sitzt die Parlamentarierin und Qulla-Aktivistin Milagro Sala entgegen verbindlicher Anordnungen durch die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen gegen willkürliche Haft und den Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte seit beinahe zwei Jahren im Gefängnis.

Die Regierung Macri und die Mainstream-Medien haben in Argentinien den Rassismus zur dominanten Logik der Politik erhoben. Dieser Schritt muss vor dem Hintergrund einer seit der Kolonialzeit nahezu ununterbrochenen Serie von Landraub, Massakern, ‚heiligen’ und anderen Kriegen in Argentinien und in ganz Nord- und Südamerika gesehen werden, einer Geschichte der Unterdrückung und Diskriminierung der indigenen Völker. Der aktuelle Diskurs über die ‚illegalen’ Aktionen der Mapuche verletzt nicht nur zahlreiche internationale Konventionen und Verträge –die UNO-Deklaration über die Rechte der Indigenen Völker (2009) und die Konvention zu Indigenen und Stammesgesellschaften der Internationalen Arbeitsorganisation (1989)– sondern vor allem auch die argentinische Bundesverfassung, deren Artikel 75 unmissverständlich die Verpflichtung ausspricht, ‚die ethnische und kulturelle Präexistenz der indigenen Völker Argentiniens anzuerkennen (…) Das gemeinschaftliche Eigentum sowie das Eigentum der traditionellen Siedlungsgebiete ist anzuerkennen; und die Bereitstellung von anderen (Ländereien) ist zu regulieren, die für menschliche Nutzniessung und Entwicklung angemessen und ausreichend sind; diese sind weder veräusserbar noch übertragbar, noch dürfen sie Gegenstand von Einschränkungen oder Beschlagnahmungen sein.’

Herren des Landes

Doch es ist nicht allein die Notwendigkeit, den Rassissmus als erfolgreiche politische Formel zu etablieren, um trotz Lohnkürzungen und galloppierender Inflation auf die Unterstützung der städtischen Mittelklasse zählen zu können, aufgrund derer Indigene heute der Staatsfeind Nummer eins in Argentinien sind. Wie überall in Lateinamerika, erleben wir auch in Argentinien den rapiden Vormarsch extraktiver Industrien in Gebiete mit hoher Biodiversität, oftmals bewohnt von Indigenen, um Zugang zu Gas-, Öl- und Mineralienreserven zu erhalten oder für die Anlage riesiger Wasserkraftanlagen, um die Energiezufuhr an die neue kontinentale Raubbau-Front zu gewährleisten. In nur wenigen Jahren ist Lateinamerika zur gefährlichsten Region der Welt für MenschenrechtsaktivistInnen geworden, vor allem für Indigene. In Honduras wurde 2016 die indigene Bürgerrechtlerin Berta Cáceres niedergeschossen, nur wenige Monate nach ihrer Auszeichnung mit dem renommierten Goldman Environmental Prize. Die Täter waren gedungene Mörder im Sold eines transnationalen Wasserkraftkonzerns, die mit stillschweigender Unterstützung durch Justiz und Staatsbehörden agierten. Brasilien ist, gefolgt von Kolumbien und Peru, heute weltweit das Land mit der höchsten Mordrate an indigenen und UmweltaktivistInnen, laut Daten der NGO Global Witness: jede Woche kommt im Land des Regenwaldabbaus eine AktivistIn ums Leben.

Argentinien ist keine Ausnahme in dieser traurigen Reihe. In Patagonien, einem Gebiet riesiger Latifundien im Besitz einer Handvoll argentinischer und ausländischer Landherren –des Bahamas-Steuerbürgers Joe Lewis, des Nordamerikaners Ted Turner, des Italieners Luciano Benetton– hat Präsident Macri schon von Beginn seiner Amtszeit an klargestellt, auf wessen Seite er steht. Schon mehrfach hat er, anreisend per Staatshubschrauber, seine Ferien in Lewis’ paradiesisch gelegener Villa am Lago Escondido verbracht, dem ‚versteckten See’ — dessen Ufer in traurigem Ruhm stehen, seitdem Lewis mehreren Rechtsurteilen zum Trotz alle öffentlichen Zugangswege bulldozern liess. Strassenblockaden sind offensichtlich dann akzeptabel, wenn sie von reichen weissen Männern verübt werden. Zum einem Zeitpunkt, an dem die Zukunft des Planeten aufgrund der Auswirkungen katastrophaler Klimaerwärmung auf dem Spiel steht, haben in Lateinamerika die alten Landbesitz-Eliten aufs neue die Zügel in der Hand: zahlreiche MinisterInnen und hohe Amtsträger im Kabinett Macri sind direkte Abkömmlinge der Militärs und Politiker, die im 19. Jahrhundert den Vernichtungskrieg gegen die indigenen Völker orchestrierten. Gemeinsam mit ihren europäischen und nordamerikanischen Kompagnons haben diese alteingesessenen Herren über Land und Leute endlich den Widerspruch gelöst, an dem die progressiven lateinamerikanischen Regierungen des letzten Jahrzehnts gescheitert sind: den Widerspruch zwischen dem Ausbau der Bürgerrechte und der Ausweitung des Rohstoffabbaus.

‚Aufrecht und menschlich’

Die Unterdrückung indigener Gemeinschaften ist Teil der systematischen Erosion der Bürger- und Menschenrechte in Argentinien, welche seit dem Ende der letzten Militärdiktatur die Grundlage des demokratischen Paktes gewesen sind. Die aktuelle Regierung hat die Menschenrechtsorganisationen zu einem ihrer Hauptfeinde erklärt. Kein Land hat mehr Akkreditierungen von internationalen NGOs annulliert als Argentinien bei Antritt der G20-Präsidentschaft, ein Anschlag auf die freie Meinungsäusserung, der –so Global Justice Now– ‚unter Beweis stellt, dass Mauricio Macris Regierung weder die Demokratie noch den Pluralismus respektiert’. Woher diese Obsession der Regierung und der grossen Medienkonzerne mit der Zerschlagung der Menschenrechtsbewegung? Daher, dass diese Bewegung kulturelle und juristische Mittel aufgebaut und öffentlich gemacht hat, mit denen der systematische Amtsmissbrauch und die Brutalität von Sicherheitskräften mit einer langen Tradition von Straflosigkeit und Staatsterrorismus im Zaum gehalten wurde. Dagegen erteilt die Regierung Macri diesen Sicherheitskräften ein immer expliziteres Vertrauensvotum und macht aus der Niederschlagung von Protesten eine Publicity-Kampagne, während sie zugleich sicherstellt, dass Gewaltexzesse ohne juristische Folgen bleiben. Für eine Regierung, die ein Law-and-Order-Image ausstrahlen will, während die soziale Schere zunehmend auseinanderklafft, sind Menschenrechte ein Hindernis, das aus dem Weg geräumt werden muss.

In Argentinien sind die Unabhängigkeit der Justiz und die freie Meinungsäusserung brutal verstümmelt worden. Rassistische Demagogie und die Kriminalisierung jedweder Form von Opposition haben Demokratie und Rechtsstaat an den Rand des Abgrunds getrieben. Es liegt heute an uns, der internationalen Gemeinschaft, zum Schutz der Opfer des neokonservativen Autoritarismus unsere Stimme zu erheben. Im Namen des Observatorio Argentino –einer Vereinigung von WissenschaftlerInnen aus aller Welt– sprechen wir dem UN-Komitee zur Eliminierung der Rassendiskriminierung unsere Unterstützung aus, das seine Besorgnis über die gewaltsame Vertreibung und Repression gegen indigene Gemeinschaften in Argentinien zum Ausdruck gebracht hat, und wir unterstützen nachdrücklich die Initiative von Abgeordneten des Europaparlaments, welche die Einstellung der Handelsgespräche mit dem Mercosur in Reaktion auf die Kriminalisierung der Mapuche verlangen. Schon einmal, während der Fussball-WM von 1978, fiel es der internationalen Öffentlichkeit zu, den Ruf nach Wahrheit und Menschenrechten am Leben zu erhalten, während die Militärdiktatur die Schreie der Gefolterten mit dem Slogan ‚In Argentinien sind wir rechts und menschlich’ zum Verstummen zu bringen suchte. Lassen wir es nicht zu, dass Argentinien aufs neue in der Finsternis versinkt.

Observatorio Argentino, 10 de diciembre de 2017

Brigitte Adriaensen (Universiteit Nijmegen, Holanda), Flavio Aguiar (Traductor y publicista, Berlín, Alemania), Ignacio Aguiló (University of Manchester, Reino Unido), Jens Andermann (Universidad de Nueva York, Estados Unidos), Carmen Arndt (arquitecta, Berlín, Alemania), Andrés Avellaneda (Universidad de Florida, EE UU), Edoardo Balletta (Università di Bologna, Italia), Vikki Bell (Goldsmiths College, Reino Unido), Jordana Blejmar (University of Liverpool, Reino Unido), Ben Bollig (University of Oxford, Reino Unido), Rike Bolte (Universität Osnabrück, Alemania), Natalia Brizuela (University of California, Berkeley, EE UU), Ana Estefanía Carballo (University of Melbourne, Australia), Alejandra Crosta (University of Oxford, Reino Unido), Francisco Domínguez (Middlesex University, Reino Unido), Geneviève Fabry (Université Catholique de Louvain, Bélgica), Liliana Ruth Feierstein (Humboldt-Universität Berlin, Alemania), Anna Forné (Göteborgs Universitet, Suecia), Alessandra Ghezzani (Università di Pisa, Italia), Gabriel Giorgi (New York University, EE UU), Gisela Heffes (Rice University, EE UU), John Kraniauskas (Birkbeck College, Reino Unido), Milton Läufer (New York University, EE UU), Cara Levey (University of Cork, Irlanda), Graciela Montaldo (Columbia University, EE UU), Daniel Ozarow (Middlesex University, Reino Unido), Andrea Pagni (Universität Erlangen-Nürnberg, Alemania), Fernanda Peñaloza (University of Sydney, Australia), Emilia Perassi (Università di Milano, Italia), Fernando Reati (Georgia State University, EE UU), Federica Rocco (Università di Udine, Italia), David Rojinsky (Kings College, Reino Unido), Fernando Rosenberg (Brandeis University, EE UU), Pablo Rosso (Ingeniero, Berlín), Isis Sadek (Investigadora independiente, Ottawa, Canadá), Kathrin Sartingen (Universität Wien, Austria), Dardo Scavino (Université de Pau, Francia), James Scorer (University of Manchester, Reino Unido), Cecilia Sosa (University of East London, Reino Unido), Sven Pötting (Universität zu Köln, Alemania), Claudia Tomadoni (Freidrich Schiller Universität Jena, Alemania), Patricia Willson (Université de Liège, Bélgica), Yanina Welp (Universität Zürich, Suiza), Valeria Wagner (Université de Genève, Suiza), Regina Tapia (El Colegio Mexiquense, México), María del Mar Quiroga (Monash University, Australia), Jorge J. Locane (Universität zu Köln, Alemania), Gabriela Mejías (investigadora independiente, Berlín, Alemania), Kristine Vandenberghe (Université de Liège, Bélgica), Liliana Reales (Universidade Federal de Santa Catarina, Brasil), Luz Souto (Universidad de Valencia, España)

 

 

 

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