Politiker werfen Gouverneur Versagen und unnötige Härte vor
Auch NGOs kritisieren das Vorgehen der Polizeien scharf als unverhältnismäßig

Brasilianer sind Gewalt im Alltag zwar durchaus gewohnt, aber das, was sich am vergangenen Dienstag (28. Oktober 2025) im Norden der Metropole Rio de Janeiro, in den Communidades (vulgo Favelas) Complexo Alemão und Penha abspielte, schockte auch die Cariocas zutiefst. Mit laut offiziellen Angaben 2.500 Einsatzkräften führte die Polizei eine Operation gegen den organisierten Drogenhandel durch. Dabei kamen laut letzten Angaben mindestens 121 Menschen ums Leben, darunter vier Polizisten. 113 Personen wurden festgenommen.

Es waren Bilder, die da über die sozialen Netzwerke von Anwohnern verbreitet wurden, die an Krieg erinnerten. Schwerbewaffnete Einsatzkräfte stürmten die engen Gassen dieser unübersichtlichen Gegend. Mit brennenden Autobarrikaden hatten Mitglieder des Drogenkartells Comando Vermelho (CV) versucht, die Operation zu bremsen.

Operação contenção, was auf Deutsch so viel bedeutet wie „Eindämmungsmaßnahme“, war die nüchterne verwaltungstechnische Beschreibung des Vorgangs, der hinterher als „unverhältnismäßiges Blutbad“ und der gewalttätigste Polizeieinsatz der letzten 15 Jahre in Rio de Janeiro in Erinnerung bleiben wird. Ziel der Operation war das Comando Vermelho (CV), das mit Abstand größte und mächtigste Drogenkartell in Rio. Die 100 Haftbefehle, die die Regierung des Bundesstaats erwirkt hatte, versuchten die Einsatzkräfte mit teils brutaler Gewalt zu vollstrecken.

Kriminelle versteckten sich hinter dem neuen Regelwerk

Der Hintergrund: Brutale Polizeigewalt und Straffreiheit sind in Rio de Janeiro und Brasilien allgemein an der Tagesordnung und 2019 hatte die Partei PSB dazu veranlasst, beim Obersten Bundesgericht (STF) eine Verfassungsklage wegen Verletzung grundlegender Prinzipien einzureichen. In dieser wies sie auf Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe durch Polizeibeamte während Polizeieinsätzen hin. Sie wurde als ADPF das Favelas, ADPF 635, bekannt. Der vollständige Name der Verfassungsklage lautet “Ação de Descumprimento de Preceitos Fundamentais” – auf Deutsch: Klage wegen Verletzung grundlegender Prinzipien.

Der STF entschied zunächst, die Polizeieinsätze in den Favelas, den Einsatz von Polizeihubschraubern und Scharfschützen zu beschränken und legte im April dieses Jahres ein entsprechendes Regelwerk vor. Demnach dürfen unter anderem Einsatzorte nicht verändert werden, bevor sie den Ermittlungsbehörden zugänglich gemacht wurden; zudem muss die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden, und die Forensik ist verpflichtet, die Leichen vollständig fotografisch zu dokumentieren.

Diese Regelung schränkte die Polizeiarbeit offenbar so stark ein, dass schon nach kurzer Zeit zahlreiche Kriminelle aus Banden im ganzen Land Zuflucht in Rio suchten, da die Polizei die Favelas nicht mehr wie gewohnt betreten durfte. Es kam zu unzähligen Gewalttaten im Zusammenhang mit dem Drogenhandel, ohne dass die Polizei etwas dagegen unternehmen konnte. Bei der Operation nun wurden auch Personen aus den Bundesstaaten Ceará, Pará, Amazonas und Pernambuco festgenommen.

Jüngste Vorfälle sowie die Anträge der Landesregierung auf Aufhebung dieser Entscheidung veranlassten den STF, seine Entscheidung zu überdenken, und das Gericht legte eine Reihe von Verfahren fest, damit diese Einsätze durchgeführt werden konnten. Es entschied auch, dass der Staat die vom Drogenhandel kontrollierten Gebiete zurückerobern müsse, um diesen Bevölkerungsgruppen und der Stadt Sicherheit zu bringen.

Operation mit 100 Haftbefehlen im Gepäck

Auf dieser Grundlage plante die Polizei diese Operation, um mehr als 100 Haftbefehle gegen bekannte Drogenhändler zu vollstrecken. Die Kriminellen waren offenbar bereits informiert, da entsprechende Details durchgesickert waren, und konnten der Polizei mit brennenden Barrikaden den Zutritt verwehren.

Auffällig war der Einsatz schwerer Waffen durch die Drogenhändler, der Einsatz von Drohnen mit Bomben und Guerillataktiken mit Straßensperren in der ganzen Stadt. Es zeigte sich, dass sie militärisch ausgebildet sind, da viele von ihnen in Reih und Glied, in Tarnuniformen, mit Rucksäcken und kugelsicheren Westen aus verschiedenen Orten flohen. Es kam zu Fällen von Straßenraub und zur Plünderung von Supermärkten.

In einer Pressekonferenz im Abgeordnetenhaus warfen die Abgeordneten der Regierung von Rio de Janeiro vor, ein „Massaker” zu veranstalten, und forderten Änderungen in der Sicherheitspolitik des Bundesstaates. Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses der Abgeordnetenkammer, Abgeordneter Reimont (PT-RJ), befürchtet gar, dass die Operation möglicherweise mehr als 200 Tote gefordert haben könnte. „Es ist das größte Massaker in Brasilien, das sogar das von Carandiru übertrifft”, erklärte er.

Erinnerungen an Carandiru-Massaker wurden wach

Das Carandiru-Massaker folgte einem Häftlingsaufstand im Casa de Detenção de São Paulo, dem Gefängnis von São Paulo, am 2. Oktober 1992. Angehörige der Polizei des Bundesstaates schlugen den Aufstand mit äußerster Brutalität nieder, es starben 111 Gefangene.

Die Vorsitzende der linken Partei Psol, Abgeordnete Talíria Petrone (Psol-RJ), erklärte, die Operation zeige „mangelnde Planung“ und kritisierte das von der Landesregierung verfolgte Modell der Bekämpfung. „Was bisher gegen kriminelle Organisationen unternommen wurde, ist ein Blutbad.“ Gouverneur Cláudio Castro bezeichnete sie in diesem Zusammenhang als „inkompetent und feige“.

Der Abgeordnete Lindbergh Farias (PT-RJ) betonte, dass die Aktion „die tödlichste in der Geschichte Rio de Janeiros“ gewesen sei, und sprach sich für die Verabschiedung des Sicherheits-Verfassungszusatzes als Alternative aus, um „eine Sicherheitspolitik mit Intelligenz, Bürgersinn und Effizienz zu gewährleisten“. „Gouverneur Cláudio Castro hingegen beharre auf einem gescheiterten Modell, das statt Intelligenz und Integration Kriegseinsätze bevorzugt“, sagte der Abgeordnete, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Regierung im Nationalkongress ist.

Kritik kam auch von Seiten der Bundesregierung: In der Primetime-Nachrichtensendung Jornal Nacional erinnerte Finanzminister Fernando Haddad (PT) daran, dass Gouverneur Castro im März dieses Jahres eine Zusammenarbeit mit der Bundesregierung bei einer Operation gegen das organisierte Verbrechen abgelehnt hatte. Damals hatte die Bundespolizei (PF) einen landesweiten Schlag gegen den illegalen Kraftstoffhandel durchgeführt, der, so Haddad, eine wesentliche Finanzierungsquelle der Drogenbanden darstellt.

Der kritisierte Gouverneur Castro, ein Parteikollege des ehemaligen rechten Präsidenten Jair Bolsonaro, versuchte hingegen, die Kritik an sich abprallen zu lassen, und sprach von einer „erfolgreichen Operation“.

Deutsches Hilfswerk Misereor übt scharfe Kritik

Kritik an der Planung und Durchführung kam nicht nur von der politischen Opposition. Auch NGOs kritisierten die in ihren Augen unverhältnismäßige Härte. Das katholische deutsche Hilfswerk Misereor übt Kritik: „Die Regierung des Bundesstaates Rio rechtfertigte das Vorgehen mit dem Kampf gegen den so genannten ,Drogen-Terrorismus‘. Die Bundesregierung Brasiliens hingegen verurteilt das Vorgehen“, heißt es in einer Pressemitteilung. Zugleich forderte Misereor eine unabhängige Untersuchung der Geschehnisse und besseren Schutz für die Zivilgesellschaft vor Ort.

Die langjährige Misereor-Partnerin Raquel Ludermir von Habitat para a Humanidade Brasil kritisiert das gewaltsame Vorgehen der brasilianischen Polizei scharf: „‘Operationen‘ wie diese zeigen, dass für einige politische Akteure das Leben in den Favelas nichts wert ist. In den Favelas und städtischen Randgebieten sind Blutvergießen und Gewalt zur Routine geworden. Wenn so etwas geschieht, sind nicht nur die Angehörigen der Toten betroffen. Viele Kinder entwickeln Angststörungen und Panikattacken.“

Clara-Luisa Weichelt, Expertin für städtische Entwicklung bei Misereor, betont: „Was sich in Rio ereignet hat, sind kriegsähnliche Zustände. Wir sind schockiert. Das gewaltsame Vorgehen trifft erneut die strukturell benachteiligte Bevölkerung, die in den Favelas lebt – das sind insbesondere (alleinerziehende) Frauen, Schwarze und Indigene.“

Gewalt ist ein breites gesellschaftliches Problem in Brasilien. Das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA – Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada) veröffentlicht jedes Jahr einen Gewaltatlas über Brasilien. Demnach war die Zahl der gewaltsamen Tode im größten Land Südamerikas zuletzt zwar leicht rückläufig, jedoch auf extrem hohem Niveau. Mehr als 45.000 Menschen starben 2024 einen gewaltsamen Tod.

Der Bundesstaat Rio de Janeiro bildet dabei einen besonderen Hotspot. Nur die Bundesstaaten Amapá, Bahia und Mato Grosso haben noch höhere Quoten als Rio mit 21 Getöteten pro 100.000 Einwohnern. Allerdings verdeutlicht die Studie auch: Gewalt wird von der Bevölkerung als das größte Problem der brasilianischen Gesellschaft wahrgenommen. Deshalb unterstützen wesentliche Teile der Bevölkerung ein hartes Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität.


Quellen:

G1 – Operação da PF mantém 4 postos de combustíveis lacrados no Sul de MG – notícias em Sul de Minas
Operação no Alemão e na Penha contra o CV é a 2ª mais letal do RJ | Jornal de Brasília
Operação no Alemão e Penha tem 121 mortos, a mais letal da história
Entenda como Operação Contenção se tornou a mais letal da história do RJ | CNN Brasil
ADPF das Favelas: entenda decisão do STF sobre operações no Rio
Mais de 120 mortos: especialistas criticam operação mais letal do Rio | Radioagência Nacional
Operação policial no Rio tem críticas e defesas de deputados federais | Agência Brasil
Ipea – Atlas da Violencia v.2.8 – Atlas da Violência 2025