Lettland ist einer der beiden baltischen Staaten, die eine Grenze zu Russland haben. Es waren die US-Spezialeinheiten (US-SOF) und die NATO, die es geschafft haben, die Aufmerksamkeit des lettischen Staates wieder auf die gewaltfreie zivile Verteidigung (GzV) zu lenken. Diese wird als integraler Bestandteil der nationalen Verteidigung dargestellt. Die Umsetzung dieses als „kombinierte Verteidigung” bezeichneten Konzepts ist in Lettland bis heute jedoch noch recht heikel – mit Ausnahme eines sehr überzeugenden Projekts zur Verteidigungserziehung [i].
„Whole-of-Society-Defense” (Gesamtverteidigung) ist ein militärisches Konzept der Vereinigten Staaten, das den Schwerpunkt auf eine breitere Beteiligung der Gesellschaft an der Verteidigung des Staatsgebiets gegen den Einfluss, die Invasion oder die Besetzung durch eine ausländische Macht legt. Da Zivilisten in der Lage sind, selbst Widerstandshandlungen – gewaltsame oder gewaltfreie – zu koordinieren, werden sie als einer der für die Landesverteidigung verantwortlichen Akteure angesehen [ii]. In der Praxis basiert die kombinierte Verteidigung auf der Zusammenarbeit zwischen Zivilisten und Streitkräften, die vom Staat, den Streitkräften und der Öffentlichkeit geplant und koordiniert wird [iii].
Die 1987 gegründeten US-Spezialeinheiten (US-SOF) sind ein übergreifendes Kommando, das die verschiedenen Zweige des US-Militärs bei gemeinsamen Operationen koordiniert. Ein Berater der US-SOF, der aus operativen Gründen anonym bleiben möchte, sagte, die Aufgabe der US-Spezialeinheiten bestehe darin, alle nicht-militärischen Optionen auszuschöpfen, um den Ausbruch eines bewaffneten Konflikts in anderen Ländern zu verhindern. Sie gelten als integraler Bestandteil der nationalen Verteidigung und somit als Ergänzung zu bewaffneten Operationen. Tatsächlich dienen gewaltfreie Aktionen dazu, die Verantwortung für die Verteidigung des Staatsgebiets zu dezentralisieren.
Es mag überraschend erscheinen, dass die US-SOF die lettische Regierung dazu ermutigen und beraten, gewaltfreie Aktionen zu nutzen. „Gewaltfreier Widerstand ist seit dem Zweiten Weltkrieg Teil der US-Doktrin”, erklärt meine US-Quelle und präzisiert, dass die Verweise eher konzeptioneller als operativer Natur sind. Warum? Weil er „von Zivilisten geführt werden muss”. Ihre Institutionen sind besser in der Lage, Streiks und zivilen Ungehorsam zu organisieren. Besatzung und in gewissem Maße auch Unterwerfung erfordern den Gehorsam des Volkes”, so meine Quelle, die sich damit den Denkern des zivilen Ungehorsams anschließt.
Dieser Artikel untersucht die Nuancen und Spannungen rund um die gewaltfreie zivile Verteidigung (GzV) und die kombinierte Verteidigung. Letztere ist heute in Lettland stärker vertreten, obwohl die GzV während der sowjetischen Besatzung umfassend und erfolgreich praktiziert wurde. Trotz der derzeitigen mangelnden Aufgeschlossenheit der Öffentlichkeit gegenüber allem, was mit Gewaltfreiheit zu tun hat, bereitet die lettische Regierung ihre Bevölkerung durch „Krisenvorsorgeprogramme” logischerweise auf eine GzV vor. Insbesondere hat sie ein überzeugendes und sehr beliebtes Verteidigungsbildungsprogramm an Gymnasien ins Leben gerufen, das sich an der umfassenden Verteidigung orientiert und bestimmte Elemente des gewaltfreien Korpus einbezieht.
„Krisenvorsorge”
Das lettische Verteidigungsgesetz wurde 2020-21 geändert, um festzulegen, was Zivilisten im Falle einer Besetzung in Bezug auf Nichtzusammenarbeit (aber auch in Bezug auf bewaffnete Aktionen) tun können. Im Jahr 2020 veröffentlichte das lettische Verteidigungsministerium auf seiner Website eine Broschüre mit dem Titel „Was tun im Krisenfall?”[iv].
Diese Broschüre erklärt konkrete Maßnahmen, die im Falle von Stromausfällen oder anderen durch „Krisen” wie Naturkatastrophen, Pandemien oder militärische Operationen verursachten Problemen zu ergreifen sind. Im Abschnitt „Maßnahmen der Einwohner im Kriegsfall” ist eine Seite dem „Widerstand” gewidmet. Dort wird festgestellt, dass gewaltfreie Aktionen der Einwohner (Aktionen der Nichtzusammenarbeit, Streiks usw.) im Instrumentarium des Widerstands nicht unbedingt einen geringeren Stellenwert einnehmen als bewaffnete Aktionen. Sie wurden rationalisiert und integriert.
Aufgrund der langen Geschichte der GzV des lettischen Volkes scheint die Regierung davon überzeugt zu sein, dass der Widerstand eine wichtige Rolle in der Landesverteidigung spielt[v] – heute mehr denn je, um dem hybriden Krieg Russlands zu begegnen. „Gewaltfreier Widerstand ist ein Thema, über das diskutiert wird, und wir versuchen, ihn sogar in der militärischen Ausbildung umzusetzen“, vertraut mir eine Quelle aus dem lettischen Verteidigungsministerium an, die anonym bleiben möchte. Angesichts der lettischen Erfahrungen während der sowjetischen Besatzung und der aktuellen Situation in der Ukraine würden Befürworter eines „gewaltfreien Widerstands“ oder einer sogenannten „Gewaltfreien zivilen Verteidigung“ jedoch wahrscheinlich als naiv angesehen werden.
„Die Menschen sind sehr daran interessiert, zu erfahren, wie sie sich vorbereiten und die Armee unterstützen können. Sie sind begierig darauf, Informationen zur Krisenvorsorge zu erhalten. Sie sind sehr patriotisch und unterstützen die Militäraktion. Die Menschen sind sehr gut vernetzt und wissen genau, was in der Ukraine vor sich geht. Sie glauben nicht, dass sie mit gewaltfreiem Widerstand etwas erreichen können“, schließt meine Quelle.
Ich schließe daraus, dass die Regierung einen neuen Rahmen für die GzV und die damit verbundenen Konzepte innerhalb der kombinierten Verteidigung gefunden hat. In diesem Rahmen werden gewaltfreie und bewaffnete Aktionen auf die gleiche strategische Ebene gestellt. Aber selbst dann bleiben die Methoden zur Bekämpfung von Cyberkrieg und Desinformation – die Hauptmerkmale des russischen Hybridkriegs – sowie die in der Broschüre des Ministeriums erwähnten Streiks und die Verweigerung der Zusammenarbeit völlig gewaltfrei [vi].
Bildung und Verteidigungsbereitschaft
Während in der Vergangenheit die Verteidigung der Kultur und Sprache gegen den sowjetischen Einfluss ein zentrales Anliegen war, sind heute der Kampf gegen russische Propaganda sowie die Förderung der Verteidigungs- und Medienerziehung aktuelle Prioritäten des Verteidigungsministeriums [vii]. Cyberangriffe, Desinformation, Propaganda… Mit diesen Taktiken der hybriden Kriegsführung wurde den Letten bewusst, dass sie ihre Anstrengungen verstärken müssen, um den Verteidigungsgeist und die Widerstandsfähigkeit in den Schulen zu fördern. Und die lettischen Schüler sind offenbar daran interessiert, mehr über die nationale Verteidigung in all ihren Dimensionen zu erfahren.
„Wir können sie als Zielgruppe wirklich erreichen“, sagt mir meine Quelle. „Erwachsene zu schulen ist schwieriger, insbesondere ältere Menschen, die sich nur schwer zusammenbringen lassen. Außerdem haben sie bereits ihre eigenen Lebenserfahrungen und Überzeugungen.“ Kinder bringen neues Wissen über die Bedeutung der Wahlbeteiligung und der Medienkompetenz mit nach Hause und sind daher eine vielversprechendere Zielgruppe für Bildungsinitiativen im Bereich der Verteidigung.
Es gibt (noch?) keine Programme, die sich ausdrücklich mit gewaltfreiem Handeln befassen. Das Verteidigungsprogramm des Staates umfasst jedoch die Geschichte des lokalen Widerstands (einschließlich gewaltfreier Formen), Strategien der Cyberabwehr, zivilgesellschaftlichen Aktivismus, Patriotismus, kritisches Denken, Abenteuer-Training sowie Überlebenstraining für den Wald und den Winter. Das Programm startete 2018 als Pilotprojekt und ist nun für Schüler der 11. und 12. Klasse verpflichtend. Es besteht aus einer eintägigen Sitzung pro Monat.
Der Kurs wurde meiner Quelle zufolge von den Schulen und Schülern sehr gut angenommen. Er startete mit zwölf Schulen, im folgenden Jahr kamen fünfzig hinzu und seitdem hat er sich weiterentwickelt. Die größte Herausforderung besteht darin, genügend Instruktoren auszubilden.
Die strategischen Vorteile gewaltfreier Aktionen
Es ist schwer, die Wirksamkeit gewaltfreier Aktionen zu leugnen, wenn Streitkräfte sie in ihre strategische Doktrin und Ausbildung integrieren – selbst in Kriegszeiten. Es ist ein provokantes Thema, gewaltfreie Aktionen vollständig zu instrumentalisieren und sie von moralischen Fragen zu isolieren. Die Realität ist jedoch, dass Krieg und Konflikte weiterhin bestehen werden. Wir müssen gewaltfreie Aktionen in Kombination mit bewaffneten Aktionen untersuchen, wie sie sich in der heutigen realen Welt ganz offensichtlich manifestieren.
Vor allem darf die Verteidigungsausbildung nicht beim militärischen Konzept stehen bleiben, denn der gewaltfreie Korpus bereichert unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber moderner politischer Gewalt. Gewaltfreies Handeln ist ein kostengünstiges, inklusives und wirksames Mittel für das Volk, Demokratie und Freiheit aus eigener Kraft zu verteidigen. Und es beginnt mit Bildung.
Zivile Friedensintervention und gewaltfreie zivile Verteidigung: Welche Verbindungen gibt es?
In Wirklichkeit handelt es sich um zwei unterschiedliche Formen des gewaltfreien Engagements: Bei der zivilen Friedensintervention – oft auch als Ziviler Friedensdienst (ZFD) bezeichnet – handelt es sich um eine Intervention Dritter auf Ersuchen lokaler Akteure, die sich in einem gewaltfreien Kampf engagieren. Die Dritten ergreifen dabei keine Partei, sondern unterstützen die lokalen Akteure in ihrem Kampf – beispielsweise in Form eines zivilen Widerstands – indem sie beobachten und dokumentieren, Begleitpersonen stellen, bei lokalen Vermittlungen helfen und Gerüchte kontrollieren. Während man sich bei GzV selbst schützt, verteidigt man bei ZFD die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Völkerrechts.
Durch ihre Anwesenheit erinnern die zivilen Friedensakteure alle Beteiligten daran, dass es Grundrechte gibt, dass deren Verletzungen nicht vergessen werden und dass der Kampf für Würde nicht unsichtbar gemacht werden darf. Entscheidend ist, dass die ZFD auf dem Grundsatz beruht, dass diejenigen, die Grundrechte verletzen, ins Grübeln kommen, wenn man angesichts von Missbräuchen standhaft und solidarisch bleibt. Sie zögern, weil sie beobachtet werden, und beschränken ihre Übergriffe. Aus Angst vor möglichen rechtlichen Konsequenzen suchen sie nach Alternativen. In diesem Sinne könnten ZFD und GzV in Zukunft vielleicht komplementär zusammenarbeiten.
Cécile Dubernet und François Marchand
Anmerkungen
In Frankreich gibt es den Universitätsabschluss „Zivile Friedensintervention”, der vom Arbeitsministerium als berufliche Qualifikation anerkannt ist. Diese Ausbildung kann im Rahmen der beruflichen Weiterbildung finanziert werden.
Die Website des Studiengangs ist unter www.icp.fr/formations/diplomes-universitaires/diplome-universitaire-intervention-civile-de-paix zu finden.
Für Deutschland gibt es mehr Informationen zu Ausbildungsmöglichkeiten hier: https://www.ziviler-friedensdienst.org/de/arbeiten-im-zfd/qualifizierung
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers „Gewaltfreie Zivilverteidigung”, Ausgabe 213 (Sonderausgabe), Dezember 2024, der Zeitschrift „Gewaltfreie Alternativen”, veröffentlicht von Pressenza auf Französisch, Deutsch und Englisch.
Die Übersetzung aus dem Französichen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!
Die Autorin
Amber French ist Chefredakteurin der Zeitschrift „Minds of the Movement” (Internationales Zentrum für gewaltfreien Konflikt) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Frieden (IPP), wo sie die Arbeitsgruppe „Ziviler Widerstand, Gewaltfreiheit und Friedenskultur” mitbegründet hat.
Fußnoten:
[i] Die in diesem Artikel geäußerten Meinungen sind die der Autorin und spiegeln nicht unbedingt die Ansichten von ICNC oder IPP wider.
[ii] Siehe Jacques Semelin, Jean-Marie Muller und Christian Mellon, La Dissuasion civile, Paris, FEDN, 1985.
[iii] Anika Binnendijk und Marta Kepe, Civilian-Based Resistance in the Baltic States, RAND Corporation, 1. November 2021.
[iv] „72 HOURS: What to do in case of a crisis. “ Verteidigungsministerium, Republik Lettland.
[v] „Umfassende Landesverteidigung“. Verteidigungsministerium, Republik Lettland.
[vi] Maciej Bartkowski, „An Activist’s Guide to Fighting Foreign Disinformation Warfare“, Minds of the Movement, November 2018, Internationales Zentrum für gewaltfreien Konflikt.
[vii] Die integrierte nationale Strategie des US-Außenministeriums für Lettland.









