Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg in Europa vorbei. In Österreich wird dieser Tag oft als „Befreiung vom Nationalsozialismus“ gefeiert. Klar – das Ende von Terror, Krieg und Konzentrationslagern war für viele Menschen eine echte Befreiung. Doch Österreich war nicht nur Opfer, sondern auch aktiver Teil des nationalsozialistischen Systems.
Der „Anschluss“ – erzwungen und gefeiert
Im März 1938 kündigte Bundeskanzler Schuschnigg eine Volksabstimmung über Österreichs Unabhängigkeit an. Hitler reagierte mit einem Ultimatum: Die Abstimmung müsse abgesagt und der Nationalsozialist Seyß-Inquart zum Kanzler ernannt werden – andernfalls drohe ein Einmarsch. Schuschnigg trat zurück, und am 12. März marschierten deutsche Truppen ein – ohne Widerstand.
Am 13. März wurde der „Anschluss“ per Gesetz verkündet. Trotz der erzwungenen politischen Eingliederung war die Zustimmung in weiten Teilen der Bevölkerung spürbar. In Wien jubelten Zehntausende Hitler am Heldenplatz zu, Hakenkreuzfahnen hingen von Balkonen und es kam zu Übergriffen auf jüdische Mitbürger:innen und Einrichtungen. Allerdings wurden die systematischen Zerstörungen von Synagogen, insbesondere in Wien, während der Novemberpogrome am 9. und 10. November 1938 verübt. In Wien wurden dabei 42 Synagogen und Bethäuser in Brand gesteckt und verwüstet. Allein in den ersten Wochen nach dem „Anschluss“ traten über 500.000 Österreicher freiwillig der NSDAP bei – so viele, dass bald ein Aufnahmestopp verhängt wurde. Bis Kriegsende zählte die Partei mehr als 700.000 österreichische Mitglieder – prozentual deutlich mehr als im Deutschen Reich.
Mittäter statt Zuschauer
Viele glauben, die schlimmsten NS-Verbrecher seien ausschließlich „die Deutschen“ gewesen – doch das stimmt so nicht. Eine ganze Reihe zentraler Figuren des NS-Regimes stammte aus Österreich oder war dort politisch sozialisiert. So etwa Adolf Eichmann, der in Linz aufwuchs und maßgeblich an der Organisation der Deportationen und der Ermordung der europäischen Juden beteiligt war. Ernst Kaltenbrunner, geboren in Ried im Innkreis, war Leiter des Reichssicherheitshauptamtes. Arthur Seyß-Inquart, ursprünglich aus dem damaligen Österreich-Ungarn, spielte eine führende Rolle bei Repression, Zwangsarbeit und Deportationen, vor allem als Reichskommissar in den Niederlanden. Auch in den Konzentrationslagern waren österreichische SS-Männer und Wachleute überdurchschnittlich stark vertreten – besonders im KZ Mauthausen, das für seine extreme Brutalität und tausendfache Morde durch Zwangsarbeit, Hunger und Gewalt berüchtigt war.
Wie Nachbarn zu Tätern wurden
Vor dem „Anschluss“ lebten ca. 200.000 Jüdinnen und Juden in Österreich, vor allem in Wien. Nach 1938 wurden sie entrechtet, vertrieben und ermordet – oft nicht nur durch die Gestapo, sondern auch durch Nachbarn, Hausbesitzer oder Kollegen.
Viele Österreicher profitierten von der sogenannten ‚Arisierung‘: Wohnungen, Betriebe und Geschäfte, die jüdischen Familien unter Zwang genommen wurden, gingen in ihren Besitz über. Zeitzeugenaufnahmen zeigen Jüdinnen, die unter dem Spott lachender Passanten gezwungen wurden, Gehsteige auf offener Straße zu schrubben.
Der große Mythos nach dem Krieg
Nach 1945 stellte sich Österreich gerne als das „erste Opfer“ Hitlers dar – ein Narrativ, das auf die Moskauer Deklaration von 1943 zurückgeht. In Bezug auf Österreich erklärte die Deklaration den „Anschluss“ von 1938 für null und nichtig und bezeichnete Österreich als das erste Opfer der nationalsozialistischen Aggression. Gleichzeitig wurde betont, dass Österreich für seine Beteiligung am Krieg auf der Seite des Dritten Reiches Verantwortung trägt und zur eigenen Befreiung beitragen sollte.
Die Deklaration diente somit sowohl als Grundlage für die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs als auch als Aufruf an die österreichische Bevölkerung, sich aktiv gegen das NS-Regime zu stellen.
Aber genau das tat man nicht. Der Mythos vom „unschuldigen Opfer“ hielt sich hartnäckig – praktisch, wenn man sich nicht entschuldigen oder zahlen wollte.
Der Wendepunkt in der Erinnerungspolitik
Erst in den 1980er-Jahren begann Österreich, sich intensiver mit seiner Rolle im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Bis dahin hatte sich das Land seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem als „erstes Opfer“ Hitlers inszeniert und die eigene Mitverantwortung für NS-Verbrechen weitgehend ausgeblendet. Ein Wendepunkt war das Jahr 1986: Im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfs wurde bekannt, dass der Kandidat Kurt Waldheim, früher Generalsekretär der Vereinten Nationen, Teile seiner Vergangenheit in der Wehrmacht verschwiegen hatte – darunter seine Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen und Einsätze auf dem Balkan. Die Enthüllungen lösten international heftige Kritik aus. Waldheim selbst verteidigte sich mit der Aussage, er habe lediglich seine soldatischen Pflichten erfüllt. Der Vorfall, später als „Waldheim-Affäre“ bekannt, führte der Öffentlichkeit schlagartig vor Augen, wie tief die Verdrängung der NS-Zeit in Österreichs politischem Selbstbild verwurzelt war.
Thomas Klestil hat in seiner Rede vor der israelischen Knesset am 15. November 1994 deutlich gemacht, dass auch Österreicher zu den Tätern des Nationalsozialismus gehörten. Er sagte:
„…..manche der ärgsten Schergen der NS-Diktatur waren Österreicher“
Die Geschichte – besonders die leidvolle – ist nicht dazu da, Schuld zuzuweisen, sondern um zu erkennen, unter welchen Bedingungen der Mensch handelt und wie sich diese Bedingungen verändern lassen. Wahrheit beginnt dort, wo man bereit ist hinzusehen, wo man anerkennt: „Auch wir waren Teil davon.“ Und Frieden entsteht dort, wo aus dieser Erkenntnis Konsequenzen gezogen werden – gewaltfrei, offen, mitfühlend und wachsam gegenüber jeder Form von Diskriminierung, Ausgrenzung oder Geschichtsverzerrung.
Quellen:
Florian Freund / Bertrand Perz / Karl Stuhlpfarrer (Hrsg.): Arisierungen. Die wirtschaftliche Enteignung der Juden in Wien 1938–1945, Umfassende Studie zur „Arisierung“ von Wohnungen, Geschäften und Unternehmen in Wien.
Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, StudienVerlag, 2008.
Evan Burr Bukey: Hitler’s Austria: Popular Sentiment in the Nazi Era 1938–1945, University of North Carolina Press, 2000.
DÖW – Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes:
https://www.doew.at
Haus der Geschichte Österreich (hdgö):
Thema Waldheim-Affäre, NS-Aufarbeitung:
https://www.hdgoe.at/waldheim_affaere_1986
Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus:
https://www.nationalfonds.org
Demokratiezentrum Wien – Waldheim-Debatte und Erinnerungspolitik:
https://www.demokratiezentrum.org
Yad Vashem – Datenbank ermordeter österreichischer Juden und Dokumente:
https://www.yadvashem.org