Wacquant untersucht die Ausweitung des Strafrechtsstaat und zeigt, dass Gefängnisse vor allem dazu dienen, die Überflüssigen der neoliberalen Gesellschaft verschwinden zu lassen.
Loïc Wacquant, Soziologieprofessor in Berkeley und Wissenschaftler am Centre de Sociologie Européenne in Paris, untersucht in einem neuen Werk die transatlantisch explodierende Ausweitung des Strafrechtsstaats und dessen untrennbarer Zusammenhang zum Abbau des Sozialstaats und Ausweitung sozialer Unsicherheit.
Der Autor, der bereits mit Armut hinter Gittern (Universitätsverlag Konstanz, 2000) einen beeindruckenden Einblick in ein Panoptikum einer überbordenden Gefängnispopulation in den USA lieferte, bezieht diesmal Europa mit ein, wozu er als Franzose, der auf beiden Seiten des Atlantiks forscht, natürlich prädestiniert ist. Die Zahlen der Inhaftierungen stiegen seit den 1970er Jahre kontinuierlich, um schliesslich nach der Reform des Sozialstaats durch die Clinton-Regierung 1996, welche starke Einschnitte für die Ärmsten zur Folge hatte, bei gleichzeitiger Verschärfung des Strafrechts, bis hin zur Ausgangssperre für Jugendliche, Kriminalisierung von Bagatelldelikten wie z.B. das öffentliche Urinieren bei Obdachlosen, regelrecht aus den Fugen zu geraten.
Sicherheitsfirmen, private Gefängnisse und ein florierender Gefangenen-Import-Export zwischen den Bundesstaaten seien die Folge. Manpower sei heute der grösste Arbeitgeber des Landes. All diese staatliche Massnahmen – der Autor benennt sie ausdrücklich und analysiert ihre Auswirkungen auf die einzelnen Länder – tragen den Geist der späteren Hartz-Gesetze (Agenda 2010) der Schröder-Regierung in Deutschland. Sie implizieren ausdrücklich die Unterscheidung in einen „würdigen“ und „unwürdigen Armen“, erinnern durch ein komplexes Sanktionssystem nicht ohne Grund an Skinners Drillphantasien. Eine wachsende Unsicherheit mache sich auch in Frankreich breit, wo diese Wegsperrmentalität besonders grob kopiert wurde:
„So stieg der Anteil der Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen – Beschäftigte mit Kurzzeitverträgen, Zeitarbeitskräfte, Beschäftigte auf subventionierten Stellen und in staatlich finanzierten Ausbildungsprogrammen – von eins zu elf im Jahre 1990 (oder 1,98 Millionen Menschen) auf eins zu sieben im Jahre 1999 (3,3 Millionen).“ (S.250)
Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen von 19,9% auf 25,6%, die derer aus den verschämt als „sensibel“ bezeichneten Stadtbezirken gar von 28,5% auf fast 40%. Entsprechend hätte 2003 die Zahl der Gefängnisinsassen die 60.000-Marke – bei 48.000 vorhandenen Plätzen – überschritten, die höchste seit Ende des zweiten Weltkriegs. Dies könne auch als Grund für die hohe Selbstmordrate dort, Häftlingsrevolten und die aktuellen Streiks des Gefängnispersonals gelesen werden. Hier hätte man gerne auch eine Schallplatte nennen können, was allerdings nicht Aufgabe einer soziologischen Studie wäre: Johnny Cash at San Quentin etwa, mit seinem eindringlichen Folsom Prison Blues . Oder Ghosts …of the Civil Dead (1989), ein Film der im Hochsicherheitsgefängnis Marion, Illinois spielt, einem Knast in der Wüste. Nick Cave führt einen Gefangenenaufstand an, die Filmmusik stammt ebenfalls zum Teil von ihm.
Wacquant legt dagegen an Hand von Statistiken dar, dass das Wegsperren mit den tatsächlichen Zahlen der Kriminalitätsstatistiken rein gar nichts zu tun habe, sondern politisch gewollt sei. Diese Wegsperr-Verirrungen seien in den USA, in England wie auch à la française flankiert von reisserischen Fernsehprogrammen, die in Serien zu besten Vorabendzeiten dem voyeuristischen Zuschauer wahre Höllenszenarien liefern, die mit der Realität rein gar nichts zu tun haben. Die auch in Europa so begeistert aufgenommene Broken-Windows -Theorie, die besagt, dass jedes zerbrochene Fenster unwillkürlich ein neues nach sich ziehe, sei in Wahrheit eine populistische Polizei-Mythologie, was in den USA von ihren Protagonisten längst eingeräumt wurde. Sie wirke allerdings wie eine „weltweite Abschussrampe für einen intellektuellen Schwindel und eine Übung in politischen Taschenspielertricks, die, indem sie einem extensiven Polizeiaktivismus eine pseudo-akademische Beglaubigung erteilen, massiv zur Legitimierung der Wende zum strafrechtlichen Management der sozialen Unsicherheit beitragen, die der Staat durch seinen sozialen und ökonomischen Rückzug allerorts erzeugt.“ (S. 273)
Loïc Wacquant wäre kein guter ehemaliger Schüler und Co-Autor von Pierre Bourdieu gewesen, wenn er nicht noch als theoretischen Schlusspunkt einen „Abriss des neoliberalen Staates“ formulieren würde, die ausführlich auf die zum Teil verkürzten, manchmal oberflächlichen, meist aber linken Interpretationen des modernen Staates eingeht. „Der Staat zieht sich zurück“, allerdings nur bei seiner ureigensten Aufgabe einer gerechten Sozialpolitik und bei der Ahndung der zunehmenden Wirtschaftskriminalität. Für aufmüpfige Arme dagegen gibt es einen hochaufgerüsteten Polizeistaat. Mit das Beste, was die letzen Jahre an soziologischen Studien geliefert wurde.
Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2009. 368 Seiten ca. 34.00 SFr., 978-3-86649-188-5.
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