Das kalabrische Dorf Riace wurde gefeiert für seine Politik gegenüber Geflüchteten. Heute sind die Einwohner tief verfeindet.
Walter Aeschimann für die Online-Zeitung INFOsperber
Im staubigen Hinterhof, zwischen Brennnesseln und gewöhnlichem Knäuelgras, verrostet das alte Dorfschild, der Schriftzug ist bald verblasst: «Riace – paese dell’accoglienza» (Riace – eine Stadt, die alle willkommen heisst). Heute grüsst ein neues Schild am Dorfeingang: «Benvenuti a Riace – Il paese dei santi medici e martiri Cosimo e Damiano» (Willkommen in Riace, der Stadt der heiligen Mediziner und Märtyrer Cosimo und Damiano).
Zwischen beiden Werbespots trug sich eine Geschichte zu, die erst utopisch schien, dann real geworden war und schliesslich von der rechtsnationalen Regierung vernichtet wurde. Sie passiert in einer Zeit, in der Hilfs-Organisationen daran gehindert werden, Ertrinkende aus dem Meer zu retten, in der die italienische Regierung Geflüchtete in die Folterlager ihrer Heimatländer schickt oder sie als Ackersklaven verelenden lässt. Die Geschichte ist nicht neu, verdient es aber, nacherzählt zu werden.
Auf der Via Roma sind kaum Menschen unterwegs
Riace ist ein kleines Bergdorf, wie es in Kalabrien viele gibt. Die Jungen gingen in den Norden, die Schule und die Apotheke haben geschlossen, der Alimentari kämpft um die letzten Kunden. Der alte Dorfkern verfällt, die Häuser stehen leer, und an den Wänden bröckelt die Fassade, bis die Mauern still in sich zusammenfallen. In den 1990er Jahren lebten noch ein paar hundert Riacesi hier.
Wir sind auf unserer Reise durch Süditalien in Riace angekommen, sieben Kilometer landeinwärts und 300 Meter über dem Ionischen Meer gelegen. Auf der Via Roma, die von der Piazza in die engen Gassen führt, sind kaum Menschen unterwegs. Ein paar ältere Männer sitzen auf der Veranda vor der «Meeting Bar». Sie stützen sich auf den Stock, beklagen, dass zu wenig Regen komme, oder schweigen vor sich hin. «Vor ein paar Jahren war hier jeden Tag ein Fest. Tische und Stühle standen auf der Piazza und die Menschen sprachen miteinander. Jetzt ist es schwieriger geworden», sagt Alessio Fulco, der Barman, und zieht die Augenbrauen hoch.
«Vor ein paar Jahren» begann am 1. Juli 1998. Ein Segelschiff mit 218 kurdischen Flüchtlingen strandete an der Riace Marina. Es gab noch kaum Strukturen für die Aufnahme von Geflüchteten in Italien. Domenico Lucano, den sie hier nur Mimmo nennen, damals Lehrer und Menschenrechtsaktivist, fuhr zum Hafen, um die Menschen, darunter viele Kinder, zu empfangen. Mit anderen Aktivisten brachte er sie bei sich zu Hause oder in den verlassenen Häusern seiner Verwandten unter. Er griff zum Telefon und fragte andere Besitzer von leerstehenden Häusern in Riace, ob er die verfallenden Objekte benutzen dürfe.
Viele Riacesi erhielten eine Arbeit
Mit jedem Schiff, das in Riace strandete, kamen neue Menschen, Menschen aus Nordafrika, Schwarzafrika und Asien. Die unterschiedlichen Kulturen trafen aufeinander, ohne dass es Probleme gab. Lucano erkannte das Potential der Situation. Er gründete mit anderen Aktivisten den Verein «Città Futura» (Stadt der Zukunft) und wurde Teil von «Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati», eines staatlichen Schutzsystems für Asylbewerber und Flüchtlinge. Es gab Fördermittel für die Aufnahme. Dem Verein reichte ein Tagessatz von 35 Euro pro Flüchtling, was weit unter dem nationalen Durchschnitt lag. Im Gegensatz zu anderen Organisationen brachte Città Futura die Geflüchteten in kleinen Wohnungen und Häusern unter. Dafür halfen sie, die Häuser zu renovieren oder die umliegenden Olivenhaine zu unterhalten. Der Verein kümmerte sich um Verpflegung, medizinische Versorgung, Sprachkurse, Schule und Ausbildung. So wurden in Riace etwa 25 Wohnungen und Häuser gemietet.
Und viele Riacesi erhielten eine Arbeit: bei der Renovation der Häuser und weil lange vergessene Lokaltraditionen wieder auflebten, etwa die Herstellung von Textilien aus Ginster, die Stickerei, Töpferei oder Glas- und Holzverarbeitung. In den Werkstätten arbeiteten sie im Tandem – jemand aus dem Dorf mit einem Zugezogenen. Verkauft wurden die Produkte in kleinen Läden im Zentrum des Bergdorfs, dem «Villaggio Globale» (Globales Dorf). Die Zugereisten hatten auch Kinder, so konnten Kita und Schule in Riace wieder öffnen.
Riace wurde in der ganzen Welt gefeiert
«Natürlich waren am Anfang viele skeptisch. Aber die Riacesi haben schnell gemerkt, dass es auch ihnen zugutekommt, das Dorf für Flüchtlinge zu öffnen. Und nach fast 20 Jahren haben selbst die kritischsten Dorfbewohner festgestellt: Das sind ganz normale Menschen», liess sich Lucano 2016 zitieren. Er war damals auf dem Höhepunkt der internationalen Popularität, wurde zu einem der weltweit besten Bürgermeister gewählt und erhielt den Dresdener Friedenspreis. Die Medien schickten Reporter nach Riace, damit sie das glückliche Modell beschrieben. Wim Wenders drehte den Kurzfilm «Il Volo» (Der Flug) und sagte an einer Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls vor laufenden Kameras, nicht der Mauerfall sei die «wahre Utopie», sondern das, was in Riace geschehe. Das Magazin «Forbes» zählte Lucano 2015 zu den 50 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt und der Papst begrüsste ihn im Vatikan.
Aber die Rechte in Italien beäugte das Projekt mit Ablehnung. Lucano wurde 2004 Bürgermeister. Kurz nach seiner Wiederwahl 2009 beschoss ihn vermutlich die Mafia durch das Fenster in einem Restaurant und vergiftete zwei seiner Hunde. Inspektoren und Ermittler begannen, seine Buchhaltung zu sezieren, studierten Ausschreibungen oder hörten gar Telefonate ab. Dabei enthüllten sie, dass Lucano die Regeln nicht immer eingehalten hatte. Er hat das auch nie bestritten. Ihm sei das Schicksal der Menschen immer wichtiger gewesen als die Bürokratie. Als im Juni 2018 Matteo Salvini, bis anhin leitender Parteifunktionär der rechtsnationalen Partei Lega, Innenminister von Italien wurde, war die Zeit von Lucano abgelaufen. Salvini beschimpfte ihn als «Null» und stellte ihn unter Hausarrest. Lucano durfte das Dorf zwischenzeitlich nicht mehr betreten. Polizisten fuhren auf die Piazza, verhafteten die Migranten, schoben sie ab oder verteilten sie in Flüchtlingslager. Viele hatten das Dorf schon zuvor verlassen. Das Geld aus Rom floss nicht mehr. Die Spendenflut versiegte. Manchmal gab es weder Strom noch Wasser.
Der einst gefeierte Bürgermeister: verurteilt.
Im April 2019 wurde Lucano zusammen mit 26 weiteren Personen wegen Machtmissbrauchs und Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagt. Im selben Monat kam eine Untersuchung wegen angeblich falscher öffentlicher Erklärungen und Betrugs hinzu. Im September 2021 verurteilte ihn das Tribunal von Locri in erster Instanz wegen Beihilfe zur illegalen Migration und anderen Gesetzesverstössen zu 13 Jahren Haft. Die Urteilsbegründung ist 913 Seiten lang. Bildung einer kriminellen Vereinigung, Amtsmissbrauch, Betrug, Veruntreuung öffentlichen Geldes und Begünstigung illegaler Einwanderung, warfen ihm die Richter vor. Die verhängte Strafe war fast doppelt so hoch wie jene, die die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Man durfte getrost von einem Skandalurteil sprechen.
Lucano verstand nicht viel von Bürokratie, oder sie kümmerte ihn kaum. Als mit den Geldern auch mehr Begehrlichkeiten kamen, verlor er wohl den Überblick. Das Projekt war ihm entglitten und lief aus dem Ruder. Und dem Dorf wurde mehr abverlangt, als es leisten konnte. Aber die Ermittler fanden keinen Euro, den Lucano für sich entwendet hätte. Das sieht selbst Richter Fulvio Accurso in milderen Passagen seiner Begründung so: Lucano habe, getrieben von «purer Leidenschaft», «das lobenswerte Inklusionsprojekt für Migranten realisiert», das als sogenanntes «Modell Riace in der ganzen Welt beneidet und zum Vorbild genommen wurde». Als Lucano verhaftet wurde und das Dorf nicht mehr betreten durfte, schlief er vorübergehend im Auto. Auf seinem Konto waren 1000 Euro.
Es sind wohl gegen 6000 Flüchtlinge durch das Dorf gekommen. Aus ganz Italien schickte man Migranten her. Um das zu bewältigen, erhielt Riace mehr Geld, als nötig gewesen wäre, und eigentlich hätte überschüssiges Geld zurückgezahlt werden müssen. Aber das Geld wurde in neue Projekte investiert und für alles Mögliche ausgegeben, nicht immer für die Migranten und auch nicht immer zum allgemeinen Wohl des Dorfes. Für internationale Festivals und Konzerte etwa, zeitweise kam auf einen Migranten ein «Sozialarbeiter». Alle wollten bezahlt werden. Lucano winkte Häuser durch, deren Papiere noch nicht in Ordnung waren, etwa das Zertifikat für die Statik. Den Mülltransport in Riace vergab er zwei Kooperativen im Dorf, ohne den Auftrag auszuschreiben. Eine von ihnen arbeitete mit einem Esel. In drei Fällen soll er Scheinehen vermittelt haben, damit der zugewanderte Partner nicht ausgeliefert werden konnte. Viele Rechnungen wirken fragwürdig. Für eines der Häuser wurden 87 Matratzen und 13 Kopfkissen erworben, ein Schreibwarengeschäft verkaufte Möbel. Und für einen Fiat Doblò wurde Benzin im Wert von 695 Euro pro Tag erstattet. Am 30. August 2016 kassierte eine 32-jährige Ghanaerin einen Scheck über 10’591 Euro für zwei Monate Arbeit. Sie flocht Braids, afrikanische Zöpfe. Auffallend viele Einheimische besassen plötzlich eine Geländelimousine, hat der Italienkorrespondent der deutschen TAZ aufgelistet.
Das Dorf hat sich nicht mehr erholt
Am 11. Oktober 2023 hob ein Berufungsgericht in Reggio di Calabria die hohen Strafen gegen Lucano auf und reduzierte das Strafmass auf eine Bewährungsstrafe von anderthalb Jahren. Übrig blieb die Fälschung eines Papiers für ein kleines Kind. Lucano ist nach Riace zurückgekehrt. Das Dorf hat sich nicht mehr erholt.
Wir spazieren durch die Gassen. Zahlreiche Murales schmückten die Wände mit bunten Akzenten, die an vergangene Jahre erinnern, das Aufeinandertreffen der Kulturen zelebrieren oder den Desaparecidos, den Opfern der chilenischen Diktatur oder der Mafia, gedenken.
Manche sind übermalt, verblassen oder blättern ab. Auf dem Platz im Villaggio Globale, dem Zentrum der Zukunftsstadt, steht das Segelschiff als Symbol der Zugereisten noch da. Es soll bald verschwinden, sagt Carla.
Carla kommt aus Deutschland und hat ein Leben als «Aktivistin» zugebracht, wie sie sagt, und will nicht aufs Foto oder mit vollem Namen genannt werden. Sie war überall dort, wo sie gegen Ungerechtigkeit und für Menschlichkeit kämpfen konnte. Riace war für sie ein Modell, das sie immer bewundert hatte: «Warum ist so etwas in Deutschland nicht möglich, wenn es in Italien klappt?», hat sie sich stets gefragt. Als Lucano verhaftet wurde, ist sie hierhin gereist und geblieben.
Sie erzählt, wie das Dorf heute tief gespalten ist zwischen jenen, welche den neuen, rechtsnationalen Bürgermeister unterstützen, und den anderen, die noch zu Lucano halten. Die beiden Lager sprechen kaum mehr miteinander. Sie führt uns durch das Dorf und zeigt einige Projekte, die nun brachliegen oder nur noch halbwegs funktionieren. In der Bibliothek gibt es eine Sammlung von Migrationsliteratur und Fotos erinnern an das Unglück am Strand von Steccato di Cutro, 100 Kilometer nordöstlich.
In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 2023 blies ein starker Wind, die Wellen vor Kalabriens Küste stiegen zweieinhalb Meter hoch. Das Boot in der Bucht von Steccato manövrierte schräg, gegen 4.15 Uhr alarmierten die Fischer die Carabinieri. In diesen Minuten zerbirst der hölzerne Rumpf an einer Sandbank unweit eines Ufers, mehr als 180 Menschen stürzen ins kalte Wasser. Als es dämmert, hat das Ionische Meer schon einige leblose Körper an den Strand gespült. Man muss von mindestens 105 Toten ausgehen, 34 davon Kinder. La Repubblica und Il Corriere della Sera fanden Anhaltspunkte, dass das Desaster vermeidbar gewesen wäre. Carla reiste einen Tag später hin und war «erschüttert». Für sie ist klar, dass von irgendwo der Befehl gekommen sei, diese Menschen «ertrinken zu lassen». Die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Guardia di Finanza und die Küstenwachen hätten nichts unternommen oder viel zu spät.
Die Ölmühle und die Schulhorte gibt es noch
Carla zeigt uns die alte Ölmühle, die gerade eine Inspektion überstanden hat. Bei unserem Besuch wird das frisch gepresste Öl in Kanister abgefüllt und wir helfen, diese mit einem Gütesiegel «extra vergine» zu bekleben.
Die historisch alte Mühle im Dorfkern ist eines der Projekte, in die Città Futura viel Geld investierte und wo sich manch einer fragte, ob dieses Projekt denn nötig sei. Die Mühle ist in Betrieb und hat Kunden. Gerettet wurden auch Initiativen wie der Kindergarten am Vormittag, Schulhorte mit Schularbeitenhilfe im Palazzo Pinnarò oder Italienisch-Unterricht und Mensa für die Kinder in der Taverna.
Anderes ist im Palazzo Pinnarò, dem schönsten Gebäude im Dorf, ebenfalls mit Hilfsgeldern erworben und renoviert, nur noch Erinnerung. In der Eingangshalle dominiert ein eindrückliches Grossbild, das die Verschiedenheit von Menschen symbolisiert.
An den Wänden hängen Plakate von Che Guevara und anderen Revolutionären. Riace-Geld, eine eigene Währung, um vorübergehende Finanzierungslücken zu überwinden, liegt noch herum.
Wie viele migrantische Flüchtlinge noch in Riace wohnen, vermag Carla nicht zu sagen. Vielleicht ein paar Dutzend. Geblieben ist Princia aus Nigeria, die mit Gloria, die hier geboren wurde, Tischgarnituren webt. Ali, der aus Afghanistan kommt und auf der letzten Etappe auf dem Schiff viele Menschen sterben sah, verkauft Schmuck. Andere sind in der Abfallentsorgung tätig. Niemand weiss, was aus den Tausenden geworden ist, die einst hier gewesen sind.
Während wir durch die Gassen schlendern, kreuzt Lucano unseren Weg und verspricht ein Treffen am späten Nachmittag. Der Himmel ist bedeckt, eine kühle Brise dringt durch die leichten Kleider, als wir mit ihm auf der Piazza zusammenkommen. Einigen signiert er sein bei Feltrinelli publiziertes Buch. Der italienische Grossverlag hat an Lucanos Ruhm auch gut verdient. Lucano unterzeichnet mit «da un ex Sindaco ‘fuorilegge’» (vom ehemaligen ‘gesetzlosen’ Bürgermeister) und schliesst die Widmung mit der revolutionären Parole «hasta siempre».
«Mimmo, wie geht es Ihnen?»
«Riace liegt im Sterben», sagt er und wir fragen nicht weiter nach dem Befinden. Man sieht, wie es ihn fast zerreisst bei diesen Worten. Lucano wurde zum Symbol des Aufschwungs stilisiert. Jetzt ist er das Symbol des Niedergangs. Jene, die seinen Glanz genossen, haben ihn verlassen, als kein Geld mehr kam. Lucanos Gesicht strahlt aber mit milder Zärtlichkeit, wenn er von früher spricht, und man ahnt, dass er diese Zeit nicht ganz hinter sich gelassen hat. Er erzählt von Wim Wenders und zeigt uns auf dem Mobilgerät das Interview, in dem der weltbekannte Filmemacher über Riace spricht.
Am 1. Juni 2024 wird der Bürgermeister von Riace neu gewählt.
«Wirst du wieder als Bürgermeister kandidieren?»
«Ja», sagt er mit fester Stimme. «Zuerst dachte ich, dass ich nicht mehr kandidiere. Anklage, Verhaftung, Verurteilung, Berufung, das war eine schwere Zeit. Nun denke ich, dass es eine moralische Pflicht von mir ist, wieder zu kandidieren. Und viele haben mich dazu ermuntert.»
«Angenommen, du gewinnst die Wahl. Wie willst du gegen eine rechtsnationale Regierung in Rom, die dich bekämpft, hier als Bürgermeister tätig sein?» Ich will die Frage präzisieren, aber Lucano legt die Hand auf meinen Arm, schliesst die Augen und denkt lange nach: «Ich habe die Frage verstanden. Was hat Riace gemacht, dass die Rechte so grosse Angst vor uns hat? Wir haben ein Projekt der Menschlichkeit begonnen. Die Menschlichkeit macht dem Neoliberalismus Angst! Was hat die Rechte in den letzten fünf Jahren für Riace gemacht? Sie hat ein Blumenbeet angelegt.» Er zeigt auf eine kleine, bunte Rabatte am Rand des Platzes und lächelt spöttisch. Beobachter glauben, dass er wenig Chancen hat, als Bürgermeister gewählt zu werden. Der rechtsnationale Druck auf die Dorfbewohner sei zu gross geworden. Sie sehen ihn jedoch auf europäischer Ebene. Vom 6. bis 9. Juni 2024 findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Ein Bündnis von linken Gruppierungen in Italien will ihn weit oben auf die Liste setzen und versucht, den subversiven Glanz seines Namens auszunutzen. Von Missbrauch möchte man nicht sprechen. «Ich will Riace nach Europa bringen. Ich will, dass in vielen Kommunen auf der ganzen Welt geschieht, was wir angefangen haben», sagt Lucano. Ob ein Doppelmandat denn möglich sei. Er verwirft die Hände, lächelt und scheint zu sagen: Was kümmern mich Paragrafen und Gebote, die nur eines wollen: die Menschlichkeit verhindern.
Das andere «Integrationsmodell»
Zum Schluss ein Kontext nebenbei: Die Ermittlungen gegen Lucano wurden vom damaligen Präfekten in Reggio Calabria, Michele Di Bari, eingeleitet. Di Bari machte dank seines Verfolgungseifers gegen das «Modell Riace» Karriere. 2019 beförderte ihn der damalige Innenminister Salvini zum Leiter der «Abteilung für Bürgerfreiheiten und Immigration» im Ministerium. Das ist wichtig, weil Di Bari im Herbst 2021 überstürzt zurückgetreten ist. Seine Frau unterhält einen grossen Landwirtschaftsbetrieb in Apulien, in dem sie migrantische Erntehelfer aus Osteuropa oder Afrika beschäftigt. Sie nutzte immer wieder die Dienste von sogenannten Caporali, die ihr migrantische Erntehelfer vermittelten. Sie zahlte einen Hungerlohn, die Abende verbrachten die Menschen im Elend aus Wellblech, Pappe oder Plastikplanen. Di Bari schien im «Integrationsmodell» seiner Frau kein Problem zu sehen. Den Skandal sah er in Riace.