Pascal Derungs für die Online-Zeitung INFOsperber
«Wenn Demokratie zum Kampf wird, werden Fakten zu Waffen.» Das postulierte der britische Politologie- und Soziologieprofessor William Davies in seinem Buch «Nervous States: Democracy and the Decline of Reason» schon 2018, vor dem Krieg in der Ukraine und vor dem Terrorakt der Hamas. Infosperber greift im Folgenden die wesentlichsten seiner Aussagen daraus auf.
«Ein gutes Indiz für die schwindende Gesundheit des Liberalismus ist das zunehmende Profil des Militärs in der Innenpolitik», statuierte William Davies in seinem Buch. Dabei bezog er sich auf den Umstand, dass der damalige Präsident Trump den Ausnahmezustand ausgerufen und amerikanische Truppen mobilisiert hatte, wegen einer «angeblichen Krise» an der mexikanischen Grenze. Davies verwies auch auf den damaligen Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, der immer wieder Militärs in Schlüsselpositionen seiner Regierung gebracht habe.
Kampfmetaphern untergraben den Common Sense
In seinem Text konstatiert Davies «das Eindringen kriegerischer Mobilisierung und Propaganda in unsere Demokratien». So hätten sich im öffentlichen Diskurs Kriegsmetaphern («Kulturkrieg», «Kämpfer für soziale Gerechtigkeit» etc.) gehäuft. Diese implizierten jeweils einen Zusammenbruch der politischen Gemeinsamkeiten.
Alarmismus verlangt nach raschen Entscheidungen
Die Bedingungen, die sich am besten für militärisches Agieren eigneten, seien diejenigen, in denen die Zeit knapp werde. «Ein Problem als Notfall darzustellen, bei dem angeblich die Zeit drängt, ist ein Mittel, um die viel langsamere, zivile Welt der Beratungen und Fakten zu umgehen», konstatiert Davies in seiner Studie.
Die Zivilgesellschaft ist ein Kind der Aufklärung
«Der Grundsatz der Trennung von militärischen und zivilen Operationen ist ein Grundpfeiler liberaler Politik, seit Mitte des 17. Jahrhunderts Religions- und Bürgerkriege Europa erschütterten», analysiert Davies. Die moderne Trennung zwischen Armee und ziviler Polizei habe ihren Ursprung im England des späten 17. Jahrhunderts, als frühe Formen der öffentlichen Verwaltung begonnen hätten, beide unabhängig voneinander zu behandeln und zu finanzieren. «Seither wird Rechtsstaatlichkeit von gewaltsamer Herrschaft unterschieden» unterstreicht Davies.
In der Zivilgesellschaft hätten die Fakten, die von Ökonomen, Statistikern, Journalisten und akademischen Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt werden, insofern eine friedensfördernde Qualität, als sie eine gemeinsame Realität darstellten, auf die man sich einigen könne. Das Ideal der unabhängigen Expertise, die sich weder von Geld noch von Macht beeinflussen lässt, habe entscheidend dazu beigetragen, dass sich politische Gegner auf bestimmte Grundzüge der Realität einigen konnten. «Fakten entziehen Wahrheitsfragen aus dem Bereich der Politik», konstatiert Davies in seiner Analyse.
Wenn Besonnenheit als Schwäche abgetan wird
Es gebe jedoch eine gegensätzliche Vision des modernen Staates, die ebenfalls eine lange Geschichte habe. Nach diesem alternativen Ideal sei die Spaltung zwischen ziviler Regierung und Militär ein «pazifistischer Dünkel», der überwunden werden müsse. Es sei kein Zufall, dass Nationalisten besonders gerne die Rhetorik der Kriegsführung einsetzten. Dabei gehe es nicht nur um militärische Angelegenheiten, sondern auch um die Massenmobilisierung von Politikern, Zivilisten und Infrastruktur. Seit den Napoleonischen Kriegen hätten Nationalisten auf den Krieg gesetzt, um nationale Solidarität und Sinnhaftigkeit zu erzeugen.
Ein weiteres charakteristisches Merkmal dieser Militarisierung sei das Versprechen einer sofortigen Reaktion, ohne die Verzögerungen, die mit demokratischer Entscheidungsbildung oder Expertenanalyse einhergingen, scheibt Davies. «In Konfliktsituationen ist das wertvollste Merkmal von Wissen nicht, dass es einen öffentlichen Konsens erzeugt, sondern dass es auf dem neuesten Stand ist und eine schnelle Entscheidungsfindung ermöglicht». Dazu müssten die öffentlich gemachten Informationen darauf zugeschnitten sein, «Massenbegeisterung und Feindseligkeit zu schüren – und nicht Objektivität».
Die Informationstechnologie verstärkt Manipulation
«Aufgrund des technologischen Wandels der letzten 30 Jahre, zunächst in unserem Finanzsystem, später aber auch in unseren Medien, haben politische Entscheidungsträger zunehmend wenig Zeit und müssen sofort auf einen konstanten Datenfluss reagieren», schreibt Davies. Viele der Ängste vor «postfaktischen» und «Fake News» seien in Wirklichkeit Symptome einer Öffentlichkeit, die sich – von Informationen überflutet – zu schnell bewege. Bis zu dem Punkt, «an dem wir entweder unseren Instinkten vertrauen oder uns an die Instinkte anderer klammern». Es gebe einen Grund, warum Twitter (heute X) die Nutzer dazu einlade, sich gegenseitig zu «folgen»: Diese Metapher impliziere, «dass inmitten einer Flut von Daten die Wahrheit letztendlich von der Führung bestimmt» werde.
«Social Media» hätten Strategiespiele in den öffentlichen Diskurs eingeführt, wobei Täuschung und Geheimhaltung – Informationskriegsführung – zu normalen Bestandteilen der Auseinandersetzung geworden seien.
Der Entscheidungsdruck verdrängt den Liberalismus
Die Kultur einer «überbeschleunigten Öffentlichkeit», die vor allem durch Technologien hervorgerufen wird, sei zum Teil dafür verantwortlich, dass sich Demokratie allmählich wie ein Kampf anfühle. Politische Spaltungen rund um Klasse und Identität provozierten nun schnelle, unvorhersehbare neue Bewegungen, die durch die sozialen Medien befeuert würden. Der Liberalismus sei für diese Art von Herausforderung nicht geschaffen, analysiert Davies: «Das liberale Ideal der Höflichkeit ist eines, in dem sich Argumentation und Forschung in ihrem eigenen Tempo bewegen können und Entscheidungen getroffen werden, nachdem die Beweise vorliegen».
Unbestreitbar gebe es eine Dringlichkeit in Bezug auf viele der Probleme und Bedrohungen, mit denen liberale Demokratien heute konfrontiert sind, wie die Erderwärmung und die zunehmende wirtschaftliche Prekarität gefährdeter Bevölkerungsgruppen, räumt Davies ein. Doch wenn Nationalisten Metaphern und Symbole des Krieges einführten, schürten sie ein reales Gefühl, dass die Zeit davonlaufe.
William Davies ist Soziologe und politischer Ökonom an der Goldsmiths University of London und Autor des Buches «Nervous States: Democracy and the Decline of Reason», das diesem Artikel zugrunde liegt.