Wenn unsere Nachrichten von unsäglicher Gewalt überquellen, werden wir von Emotionen ergriffen und sind vor Fassungslosigkeit gelähmt. Was soll man denken, was soll man sagen? Der Terror, ob er nun von ideologischen oder staatlichen Gruppen ausgeht, verdient uneingeschränkte Verurteilung. Jedes Leben ist es wert, gelebt zu werden. Jedes Leben, das missbraucht, vergewaltigt und gequält wird, ist beklagenswert. Aber Emotionen und Fassungslosigkeit müssen dennoch dem Denken und der Vernunft Platz machen.

Dem richtigen Denken und der vernünftigen Vernunft, die es uns ermöglichen, gerechte und vernünftige Handlungen ins Auge zu fassen. Handlungen, die dem Morden und der Gewalt jegliche Legitimität absprechen. Obwohl dieser Text nur wenige Stunden nach dem Mord am Lehrer Dominique Bernard geschrieben wurde, dem ich – nach seiner Ermordung von einem radikalisierten Jugendlichen – meine Hochachtung zolle, bezieht er sich im Wesentlichen auf die Ereignisse im Nahen Osten.

„Auge um Auge, und die Welt wird blind werden“, sagte Gandhi und fügte, nicht zutreffender, hinzu: „Gewalt ist Selbstmord“. Es ist der Selbstmord von Kriminellen, die sich auf diese Weise entmenschlichen; ein Selbstmord auch derer, die „zurückschlagen“ und sich so unweigerlich selbst entmenschlichen; und vor allem ist es ein Selbstmord dieser Sache, aller Sachen, die durch Morden, Massaker und deren Rechtfertigungen bis zum Erbrechen missbraucht, pervertiert und verraten werden. Wenn Camus uns sagt, dass „der Mord die Frage ist“, geht es darum, ob wir das Recht zu töten haben, auch für eine gerechte Sache. Auf diese Frage müssen wir eine kategorische Antwort geben, wie Camus dies zu seiner Zeit tat. „Die extremste Freiheit“, schreibt er in ‚Der Mensch in der Revolte‘’, „nämlich die Freiheit zu töten, ist nicht mit den Gründen der Revolte vereinbar. (…) Die Konsequenz der Revolte besteht darin, dem Mord seine Legitimität abzusprechen, da sie in ihrem Prinzip ein Protest gegen den Tod ist.“[1] Mord ist nicht zu rechtfertigen und illegitim, da er dem Geist der Revolte widerspricht. Man kann sich nicht gegen den Tod auflehnen und nicht gegen den Mord aufbegehren.

Heutzutage kennen die Raffinesse der Instrumente der Gewalt und ihre zerstörerische Kraft keine Grenze. Dennoch ist die Grenze des Unsagbaren der Gewalt in den Konzentrationslagern von Auschwitz, aber auch in Hiroshima und Nagasaki, den Städten, die unter dem Atombombenabwurf litten, ganz offenbar bereits erreicht worden. Die Zustimmung zum Massenmord und zur Massenvernichtung bleibt ein menschliches Rätsel, um so mehr, da sie unsere unergründliche, freiwillige Unterwerfung zum eigenen Selbstmord signalisiert. „Die Instrumente der Gewalt“, schreibt Hannah Arendt in ihrem Essay ‚Über die Gewalt‘, „haben inzwischen einen solchen Punkt der technischen Perfektion erreicht, dass es unmöglich geworden ist, sich ein politisches Ziel vorzustellen, das ihrer Zerstörungskraft entsprechen könnte oder das ihren Einsatz in einem bewaffneten Konflikt rechtfertigen könnte“[2]. Wann werden die Völker es wagen, sich gegen die Herstellung von Massenvernichtungswaffen aufzulehnen, die kein anderes Ziel haben als die Ermordung von Millionen Unschuldiger? Wann werden sie die Staatsräson ablehnen, die von Generation zu Generation den Einsatz von Krieg und Massenmord legitimiert?

Die Frage nach den Mitteln bleibt in der Politik zentral. Lange nach Gandhi, der den inneren Zusammenhang zwischen Zweck und Mitteln aufgezeigt hatte, bestätigte Hannah Arendt die Einsichten des Befreiers Indiens in Bezug auf gewalttätiges Handeln. Ihr Hauptmerkmal, so betonte sie, ist, dass „die Mittel dazu neigen, eine Bedeutung anzunehmen, die in keinem Verhältnis zu dem Zweck steht, der sie rechtfertigen soll und der ohne sie nicht erreicht werden kann“[3]. Die Mittel der Gewalt verraten und – vor allem – pervertieren letztlich immer den besten Zweck. Der russische Schriftsteller und „Dissident“ Leo Tolstoi, einer der allerersten, hatte dies erkannt, als er die Revolutionäre seiner Zeit ermahnte, sich vom Weg der Gewalt abzuwenden.

Jahrzehnte später, angesichts des angeblich unumstößlichen Sowjetimperiums, bekräftigten die Dissidenten in den osteuropäischen Ländern, ihre Absage an die Lüge der Gewalt, und schlugen den Weg der Wahrheit ein. Ihre gewaltfreie, entschlossene und ausdauernde Aktion, die zuerst mit Einzelnen und später als Massenaktion begann, wurde bereits vergessen und führte zum Fall der Berliner Mauer und zum Zusammenbruch des totalitären Systems. Sie haben uns ein Erbe hinterlassen, in dem sich eine wesentliche Wahrheit findet: Wenn das theoretische politische Projekt dazu kommt, das Opfer menschlichen Lebens in Erwägung zu ziehen, „liegt genau darin die potenzielle Gefahr einer neuen Versklavung“[4]. Befreit von der Versuchung der Gewalt, die selbstmörderisch gewesen wäre, haben sie geduldig einen ethischen und politischen Widerstand aufgebaut, der mit ihren demokratischen Idealen im Einklang steht.

Die Ereignisse der letzten Tage im Nahen Osten veranschaulichen auf tragische Weise die Sackgassen der Gewalt, ganz gleich, woher sie kommt. Die Sackgasse der terroristischen Gewalt wie die der staatlichen Gegengewalt, werden – wie die Köpfe der Hydra – zerschmettert und immer wieder neu erstehen, und den Völkern, die sie zu verteidigen vorgeben, nur eine Zukunft der Zerstörung, des Unglücks und des Todes bieten. Die Spirale des Hasses, der Rache und des Massenmords ist nun in Gang gesetzt. Nach den israelischen Zivilisten, die Opfer eines ebenso feigen wie absurden Terrorismus wurden, muss nun die palästinensische Bevölkerung die Sintflut aus Feuer, Blut und Tränen über sich ergehen lassen. Auf den Terrorismus der Hamas antwortet der Terrorismus des Staates Israel. Sie sind – der eine wie der andere – durch nichts zu rechtfertigen.

In Gaza spielt sich eine riesige Tragödie ab. Die Gewissen der Menschheit müssen sich nun vereinen, um sie zu beenden. Die Rettung von Menschenleben hat absolute Priorität. Aber es wird unweigerlich, wenn es nicht zu spät ist, die Zeit der Gerechtigkeit unter Achtung der Rechte eines jeden Volkes kommen müssen.

Die Übersetzung aus dem Französischen wurde von Walter L. Buder vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


[1] In: Albert Camus, L’homme révolté, Gallimard, Folio-Essais, 1985, S. 32. (Dt.: Der Mensch in der Revolte. Übersetzt von Justus Steller. Reinbek; (Rowohlt Verlag) 2021, 34. Auflage.)
[2] Hannah Arendt, Du mensonge à la violence (Von der Lüge zur Gewalt), Calmann-Lévy, 1972, S. 105. (Dt.: Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München (Piper-Verlag), 2013.
[3] (3) Ibid.
[4] Vaclav Havel, Le pouvoir des sans pouvoirs, in Essais politiques, Calmann-Lévy, 1990, S. 126. (Dt.: Die Macht der Ohnmächtigen. Rowohlt, Reinbek 1978.)

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