Über die Aufnahme von Geflüchteten in Riace und das laufende Gerichtsverfahren.

Unter dem Titel „Dorf des Willkommens in Gefahr“ berichtete der Rabe Ralf im Dezember 2021, wie das kalabrische Bergdorf Riace für die solidarische Aufnahme von Geflüchteten seit 1998 bekannt wurde. Die Riacesi und ihr ehemaliger Bürgermeister Domenico „Mimmo“ Lucano schufen ein beispielhaftes solidarökonomisches Projekt, in dem Schutzsuchende nach den Strapazen der Flucht freundlich aufgenommen wurden und – zumindest für eine Zeit – im Dorf leben und arbeiten konnten. Gleichzeitig wurde das Dorf, das durch Abwanderung schon die Hälfte seiner Bevölkerung verloren hatte, wiederbelebt.

Riace setzte nicht nur ein Zeichen gegen die tödliche Flüchtlingspolitik Italiens und der EU, sondern widersetzte sich auch der kalabrischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta und zahlte keine Schutzgelder. Es gab Preise und weltweite Anerkennung für dieses Willkommensmodell, aber auch Angriffe und Repression. Nach dem Rechtsruck mit den Wahlen in Italien 2018 wurde Lucano als Bürgermeister abgesetzt und in einem offensichtlich politisch motivierten Verfahren von einem Gericht im kalabrischen Locri am 30. September 2021 zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Damit ging das Gericht weit über die von der Staatsanwaltschaft geforderten 7 Jahre und 11 Monate hinaus.

Ein inquisitorischer Prozess

Für die Beschuldigungen, er sei der Kopf einer kriminellen Vereinigung, habe sich Amtsmissbrauch, Dokumentenfälschung und Betrug zuschulden kommen lassen und öffentliche Mittel veruntreut, gab es keine oder nur gefälschte Beweise. 17 Mitstreiter*innen erhielten ebenfalls teils langjährige Haftstrafen. Hunderttausende Euro Fördermittel sollen zurückgezahlt werden. Die Verurteilten legten Berufung ein und bleiben auf freiem Fuß, solange das Verfahren läuft. Das für den 20. September erwartete Urteil des Berufungsgerichts in Reggio Calabria soll jetzt nach einer weiteren Anhörung am 11. Oktober 2023 gesprochen werden. Die Staatsanwaltschaft fordert nun 10 Jahre und 5 Monate für Lucano.

Der bedeutende Rechtsphilosoph Luigi Ferrajoli kritisierte am 19. September in der Tageszeitung „Il Manifesto“ die Schaffung einer neuen strafrechtlichen Figur: „die des Solidaritätsverbrechens“. Dies beträfe Riace ebenso wie diejenigen, die Migrant*innen auf See retten. Es sei aufschlussreich, dass in der Begründung des erstinstanzlichen Urteils sogar das Fehlen von Beweisen für die Bereicherung Lucanos gegen ihn ausgelegt würde. Dass es darum ginge, die Hypothese der Anklage zu bekräftigen und nicht darum, die Wahrheit herauszufinden, sei charakteristisch für jeden inquisitorischen Prozess.

Das „Virus der Menschlichkeit“

In einem Brief an die Berufungsrichter beschrieb Domenico Lucano, dass er sich während des jahrelangen Gerichtsverfahrens als Privatperson ganztägig der Aufnahme von Geflüchteten im Villaggio Globale in Riace gewidmet habe – unabhängig von öffentlichen Ämtern und staatlichen Geldern. „So viel zur kriminellen Vereinigung“. Er lud die Berufungsrichter ein, nach Riace zu kommen, sie seien willkommen. Einer seiner Anwälte ist der ehemalige Bürgermeister von Mailand, Giuliano Pisapia. Sein Plädoyer beendete er mit den Worten: „Wenn die Politik in die Gerichtssäle eindringt, fliegt die Gerechtigkeit schaudernd zum Fenster hinaus.“ (Gazzetta del Sud online, 20.09.2023).

Weit über Italien hinaus hatte das Urteil der ersten Instanz Entsetzen hervorgerufen und es gab unzählige Solidaritätsbekundungen. Anfang Juni 2022 fuhren die Europa-Abgeordneten Rosa D’Amato (Grüne, Italien), Damien Carême (Grüne, Frankreich) und Cornelia Ernst (Linke, Deutschland) nach Riace und bekundeten Mimmo Lucano „unsere uneingeschränkte Solidarität und unsere politische Unterstützung“. Dieser bekräftigt immer wieder, dass er alles noch einmal tun würde, denn: „Durch ein absurdes Zusammentreffen, durch eine Laune des Windes, ist die Geschichte auf ein Dorf gestoßen, das mit dem ‚Virus der Menschlichkeit‛ infiziert war, einen Ort, an dem es möglich war, sich vorzustellen, dass wir alle Menschen sind. Das hat eine tiefe Spur hinterlassen, das ist das Erbe, das wir weitergeben, der Traum, dessen Verwirklichung noch aussteht.“ So schrieb er es 2021 in seinem Buch „Das Dorf des Willkommens“ (Rabe Ralf Februar 2022, S. 23).

In diesem Sinne macht er weiter, nun ohne die Bürde des Amtes. Bürgermeister von Riace ist seit Mai 2019 Antonio Trifoli. Er steht der rechten Partei Lega nahe und hätte eigentlich nicht gewählt werden dürfen, weil er zum Zeitpunkt der Wahl als Aushilfspolizist in Riace tätig war. Trotzdem hat er das Amt seither inne.

Für gegenseitige Hilfe und den Schutz der Natur

Um weiterhin die Aufnahme von Geflüchteten in Riace zu ermöglichen, sammeln Freund*innen und verschiedene Vereinigungen Spenden. Auch Gelder, die ursprünglich gesammelt wurden, um eventuelle Strafzahlungen zu übernehmen, werden nun auf Wunsch von Mimmo Lucano für Geflüchtete eingesetzt. Etwa 40 schutzsuchende Familien leben derzeit in Riace.

Im August dieses Jahres fand der zweiwöchige „Sommer im Villaggio Globale“ in Riace statt. Das Globale Dorf ist das Ortszentrum mit seinen Werkstätten und Läden, wo viele Versammlungen abgehalten werden. Das Festival versteht sich als „eine Gelegenheit, sich mit der Geschichte des Global Village zu befassen, das seit über 20 Jahren ein Labor der Menschlichkeit ist“ und möchte einen „neuen globalen Pakt der friedlichen Koexistenz, der gegenseitigen Hilfe, des Respekts und des Schutzes der Natur definieren, der realistischerweise der einzige Weg ist, der die Bewohnbarkeit der Erde und die Zukunft der Menschheit gewährleisten kann“. In diesem Sinne stellte Luigi Ferrajoli seinen Entwurf einer „Verfassung der Erde“ als weltweite „Agenda für den kulturellen und politischen Kampf von unten“ vor.

Digital schaltete sich der Berliner Filmemacher Wim Wenders dazu, der seinen Riace-Film „Il Volo“ (der Flug) zeigte. Wenders kündigte an, er werde „die Hölle loslassen“, wenn Mimmo Lucano verurteilt würde, und versprach, dann die Zelle mit ihm zu teilen.

Die Veranstaltung wollte daran erinnern, was Riace in der Welt ist: „Eine Ikone der Utopie einer anderen möglichen Welt. Ein Mikrokosmos des globalen Südens, der bewusst dissonant und alternativ ist.“

Der Artikel von Elisabeth Voß wurde bei der Freitag vorab veröffentlicht und er wird im Oktober in der Berliner Umweltzeitung Der Rabe Ralf erscheinen.

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Weitere Informationen zu Riace: www.riace.solioeko.de
Sommer im Villaggio Globale (italienisch): www.riacestoriasbagliata.org
Sehr schöne Bilder aus Riace im Video zur „Bella ciao“-Version der Gruppe Marlene Kuntz auf der Seite der italienischen Zeitung Repubblica: https://video.repubblica.it/spettacoli/-/332891