Russlands Rückhalt in der Welt ist sehr gering, jener des Westens aber auch nicht gross.

Markus Mugglin für die Online-Zeitung INFOsperber

Der Westen hat in der UNO erreicht, was er sich für die Ukraine-Debatte offenbar zum Ziel gesetzt hatte. Wie schon im März und im Oktober letzten Jahres forderten auch jetzt wieder mehr als 140 Länder in einer Resolution Russland zum Rückzug aus der Ukraine auf. Fast drei Viertel der Staatengemeinschaft verurteilte den Verstoss gegen das Völkerrecht. Nur eine kleine Minderheit von sechs Ländern schloss sich dem Nein von Russland an. Dass die Staatengemeinschaft damit auch hinter der Ukraine steht, wie der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell überschwänglich meinte, trifft trotzdem nicht zu.

Globaler Süden in Skepsis vereint

Die Verurteilung Russlands ist nicht mit einem Votum für das Vorgehen des Westens gegen Russlands Angriffskrieg gleichzusetzen. Selbst hinter den 141 Ja-Stimmen verbirgt sich Skepsis vieler Länder. Vielstimmig drückte es sich in den Stellungnahmen aus Lateinamerika aus. Brasilien, Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexiko, Peru, Uruguay. Alle stimmten ja, meldeten aber gleichzeitig deutliche Vorbehalte an. Es wurde ein Waffenstillstand gefordert, die Fokussierung auf Waffen bedauert, die Bereitschaft der beteiligten Parteien zu einem substanziellen Dialog gefordert. Eskalation sollte vermieden, auf die friedliche Lösung des Konfllikts gesetzt werden, beide Seiten sollten Gewalt bedingungslos stoppen, die Anstrengungen für dauernden Frieden müssten verdoppelt werden.

Auch aus Asien und Afrika war in den Voten zustimmender Länder Skepsis wahrnehmbar. Indonesien vermisste die Aufforderung an die Parteien, direkte Friedensverhandlungen aufzunehmen. Thailand wandte sich gegen das Prinzip «winner takes all» und appellierte an die beteiligten Parteien, von Maximalforderungen abzurücken.

Mehrere Länder aus dem globalen Süden beklagten sich über das Geringschätzen der Folgen, die der Krieg über Europa hinaus hat. Ägyptens Vertreter kritisierte die internationale Gemeinschaft, weil sie vernachlässige, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen in den Entwicklungsländern zu adressieren.

Die UNO-Debatte bestätigte, was schon in der Woche zuvor an der Münchner Sicherheitskonferenz offenkundig wurde. «Westliche Plädoyers für die Ukraine überzeugen afrikanische und südamerikanische Politiker nicht», titelte die «Financial Times» (19. Februar 2023). Brasiliens Aussenminister Mauro Vieira meinte, man könne nicht immer nur von Krieg reden, Kolumbiens Vizepräsidentin Francia Marquez wollte nicht weiter darüber diskutieren, wer der Gewinner oder der Verlierer eines Krieges sein wird. Wir seien alle Verlierer. Namibias Ministerpräsidentin Saara Kuugongelwa-Amadhila gab zu verstehen, ihr Land wolle sich auf die Lösung des Problems konzentrieren und nicht auf die Abwälzung der Schuld.

Mehr – als nur – auf den globalen Süden hören

Der Westen müsse mehr auf den globalen Süden hören, äusserte selbst der neue Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Christoph Heusgen. Länder, die bisher wenig Mitspracherecht hatten, sollten besser eingebunden werden. Es gelte dafür zu sorgen, dass die bestehende Ordnung allen gleichermassen zugutekommt, plädiert der «Munich Security Report 2023».

Es tönt gut, nur bleibt das Bekenntnis vage. Die Nöte in Afrika, Asien und Lateinamerikas sind aber sehr konkret. Es geht um Leben und Überleben. Zuerst im Gefolge der Covid-Pandemie und seit einem Jahr mit dem Krieg in der Ukraine hat sich die Lage dramatisch verschlechtert.

Die Pandemie hatte die Armutsbeseitigung um mehr als vier Jahre zurückgeworfen und allein 2020 fast 100 Millionen Menschen mehr in die extreme Armut getrieben. Der Krieg in der Ukraine hat Nahrungsmittel-, Brennstoff- und Düngerpreise in die Höhe schnellen lassen, Versorgungsketten und den Welthandel beeinträchtigt, Finanzmärkte in Aufruhr versetzt und die Gefahr einer globalen Nahrungsmittelkrise weiter gesteigert. Mehr als die Hälfte der allerärmsten 69 Länder befinden sich am Rande der Zahlungsunfähigkeit, jedes vierte der Länder mit mittleren Einkommen ist am Rande einer Finanzkrise. Die Zinserhöhungen der Zentralbanken im globalen Norden provozierten einen abrupten Kapitalabfluss aus dem Süden.

Hinzu kommen Hitzewellen, Dürren, apokalyptische Naturbrände und Überschwemmungen mit enormen Kosten. Das UN-Hilfsprogramm für die notleidende Bevölkerung Yemens ist massiv unterfinanziert. Das UN-Welthungerprogramm sah sich soeben gezwungen, wegen fehlender Mittel die Rationen für annähernd eine Million Angehörige der Rohingya in den grossen Flüchtlingslagern in Bangladesch zu kürzen.

Wie Europa nicht verstehen mag, warum sich der Globale Süden nicht den Sanktionen gegen Russland anschliesse, könne der globale Süden umgekehrt die Erwartungen Europas nicht verstehen, charakterisierte der uruguayische Journalist und Entwicklungsaktivist Roberto Bissio das Verhältnis. Europa stelle sich bei internationalen Entscheidungsfindungen meist aktiv gegen grundlegende Forderungen des globalen Südens. Bissio erinnerte an den monatelangen Streit um den Patentschutz für die Covid-19-Impfstoffe, an die Versuche der EU, in den WTO-Verhandlungen über Fischerei ausgerechnet die Subventionen für einkommensschwache FischerInnen in Entwicklungsländern einzuschränken, an die doppelten Standards bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine und aus anderen Weltregionen.

Gegen bi- und gegen unipolare Ordnung

Der Kampf Westen gegen Russland weckt auch schlechte Erinnerungen an die Zeit des Kalten Krieges. Die nach Blockfreiheit strebenden Länder gerieten oft zwischen die Mühlen der Grossmächte. In deren Interesse wurden Militärregimes gerechtfertigt und Kriege geführt.

«Bipolarität ist kein ideales Szenario für die Länder in der Peripherie, aber zwei um die Vormacht konkurrierende Staaten sind immer noch besser als eine unipolare Welt ohne Gegengewicht zu derjenigen Macht, die am Ende alles dominiert», begründet Roberto Bissio den skeptischen Blick des globalen Südens auf den Krieg in der Ukraine. Der Süden wünsche sich weder den Rückfall in einen neuen Kalten Krieg noch eine unipolar geprägte internationale Ordnung, fürchte aber, dass die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland dazu führe.

Deshalb drängt der globale Süden auf Frieden. Deshalb war ihm die Überschrift der neuen Resolution für einen «umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden» so wichtig und wendet sich im Titel nicht mehr nur gegen die Aggression in der Ukraine im März letzten Jahres oder verlangt wie im letzten Oktober die territoriale Integrität der Ukraine. Sowohl China und Indien, die sich der Stimme enthielten, als auch Brasilien, Indonesien und viele andere Länder des Südens, die der Resolution zustimmten, drängen auf ein Ende der Waffengewalt in Europa und auf Verhandlungen für eine Friedenslösung. Offen ist, ob der globale Süden auch den Willen und die Kraft aufbringt, entscheidend auf ein Ende des Krieges einzuwirken.

Gespaltenes Afrika

Von den 55 Ländern Afrika hat etwas mehr als die Hälfte der UNO-Resolution einem umfassenden, gerechten und dauernden Frieden in der Ukraine zugestimmt, ein knappes Drittel hat sich enthalten, Mali und Eritrea stimmten nein und die sechs Staaten Äquatorial Guinea, Burkina Faso, Eswatini, Guinea Bissau, Kamerun und Senegal nahmen an der Abstimmung nicht teil.

Die Abwesenheit Senegals steht symbolisch für die Spaltung des afrikanischen Kontinents. Denn Senegal stellt mit ihrem Präsidenten Macky Sall den Vorsitz der Afrikanischen Union. Das Land fühlte sich offensichtlich ausserstande, Stellung zu beziehen. Mit einem Ja hätte es die grosse Minderheit der afrikanischen Länder verärgert, die sich enthalten hat, mit einer Enthaltung umgekehrt die Mehrheit brüskiert.

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine wird Afrika umworben wie selten zuvor.  Russlands-Aussenminister Lawrow hat seither vier Reisen auf den Kontinent gemacht. Die USA haben erstmals seit mehreren Jahren wieder zu einem Afrika-Gipfel eingeladen. Aussenminister Antony Blinken reiste im letzten August in verschiedene Länder Afrikas. Die EU bemüht sich um neue Zusammenarbeitsformen mit Afrika. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist soeben zu einer weiteren Afrika-Reise mit den Stationen Gabun, Angola, Kongo und Demokratische Republik Kongo aufgebrochen. Nach dem Rauswurf seiner Soldaten aus Mali und Burkina Faso verspricht er einen Neubeginn und will weniger auf militärische Präsenz setzen.

Der Westen ist in Afrika in der Defensive. Russland hingegen ist zum weitaus grössten Waffenlieferanten Afrikas aufgestiegen. Sein Anteil an den gesamten Waffeneinfuhren Afrikas übertraf in der Periode 2017 bis 2021 deutlich jene aus den USA, China und Frankreich zusammengerechnet. Russland schloss seit 2014 mit 19 Ländern Afrikas Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit. China hat Europa über umfangreiche Infrastrukturprojekte und über den Handel mit Rohstoffen als bedeutendster Partner des Kontinents verdrängt.

Afrika droht erneut zum Spielball des West-Ost-Konflikts zu werden. Auch wurde es am stärksten von den durch den Krieg in die Höhe getriebenen Nahrungsmittelpreise getroffen. Immerhin einmal hat es geeint auf den Krieg reagiert. Der senegalesische Präsident hat als Vorsitzender der Afrikanischen Union über Kontakte mit Russland, dem Westen und über die Vermittlung der UNO und der Türkei erreichen können, dass die Schwarzmeer-Getreide-Initiative zu Stande kam. Sie hat die Lage auf den internationalen Nahrungsmittelmärkten zumindest ein wenig entspannt.