Argentiniens Fussballteam besiegte Frankreich im Finale der Weltmeisterschaft 2022. In einem atemberaubenden Fussballspiel, welchem es weder an spektakulären Emotionen noch Fussballtalenten fehlte, errangen die Albicelestes einen wohlverdienten Sieg gegen ein Team, welches vorher als einer der Hauptfavoriten für den Titel gehandelt worden war. Aber die Leidenschaft und die gemeinsamen Anstrengungen der Elf, die von Leonel Scaloni neben dem Feld gecoacht und Lionel Messi auf dem Feld geführt wurde, war mehr als genug.

In gleicher Weise hat die überwältigende Unterstützung von all den im Stadion Anwesenden sowie der Support eines grossen Teils der Bewohner des Globalen Südens den notwendigen Energieschub für Argentinien aufgebracht, um die goldene Trophäe im Namen aller Verarmten und Erniedrigten, der Ausgeplünderten und der in der Welt Diskriminierten zu erheben.

Multikulturalismus oder koloniale Immigration?

Als Symbol für die uns heute als normal erscheinenden Gegensätze waren es diejenigen, die das französische Trikot trugen, welche durch ihr Aussehen und ihre Erinnerung am besten die Vergangenheit (und Gegenwart) der kolonialen Ausbeutung repräsentieren.

Nach den durch ihren Trainer vorgenommenen Veränderungen sah man den Spielern auf dem Feld bis auf wenige Ausnahmen an, dass sie Kinder der starken Einwanderung aus Gebieten waren, die früher unter dem Joch des französischen Imperialismus standen.

Im Gegensatz zu vorher, als wirtschaftlich starke Länder talentierte Spieler aus dem Süden für ihre Nationalmannschaften rekrutierten, indem sie ihnen eine Identitätskarte ausstellten, waren die Spieler bei dieser Weltmeisterschaft, welche blaue Trikots trugen, fast alle in Frankreich geboren. Das ist richtig, in einem Frankreich am Rande, gekennzeichnet durch Armut und Diskriminierung.

Ein Zustand, der sich nicht gross von dem vieler ihrer argentinischen Rivalen unterscheidet, die während ihres Traums von Ruhm auf einer steilen Leiter aus den Slums oder der unteren Mittelklasse in die Fussballelite hinaufgeklettert sind.

Was das französische Team anbelangt, so muss man sich jedoch fragen, ob dessen Integration ein Zeichen für Multikulturalismus ist, der sich heute auf den ganzen Planeten bezieht oder, ob es nach wie vor eine Erinnerung an die schmerzhafte Biografie all derer ist, die gewaltsam aus ihren Heimatländern emigrieren, um bessere Lebensbedingungen zu finden. Oder ist es vielleicht beides? Sicher ist, dass es möglicherweise ein Zeichen für den Widerstand darstellt, welcher darin besteht, zu akzeptieren, dass junge Leute mit schwarzer Hautfarbe heute die ehemals revolutionäre Hymne La Marseillaise mit einer ähnlichen Begeisterung singen wie ihre weißhäutigen Landsleute.

Möglicherweise kann man auch, wenn man die Grenzen der Wahrnehmung allein überschreitet, bei den argentinischen Spielern eine vergleichbare kulturelle Mischung erahnen. Oder stellen Hochmut und Einigkeit nicht ein Erbe unserer einheimischen Völker dar und Leidenschaft sowie Dramatik einen Beitrag jener leidgeprüften italienischen Einwanderer gegen Ende des 19. Jahrhunderts? Sind nicht Technik und Planung ein wichtiges Erbe unserer Landsleute nordischer Abstammung, während Widerstandskraft und eine gewisse Sturheit unbestreitbar Hinterlassenschaften des spanischen Einflusses sind? Während Edelmut und Loyalität unbestreitbar Merkmale der arabischen Kultur in diesen Ländern sind, gehören die Liebe zum Wissen und ein gewisser messianischer Geist zu dem, was die jüdische Einwanderung dem argentinischen Volk mitgegeben hat. In gleicher Weise stellt die Pikareske das Erbe der Andalusier dar, die sich in diesem Gebiet niedergelassen haben.

Wenn es etwas gibt, das als „typisch argentinisch“ bezeichnet werden kann, dann ist es nicht der Mate-Tee oder der Brauch, Fleisch zu grillen, sondern die Kombination all dieser Tugenden und Fähigkeiten, die einen Erfindungsreichtum und eine bemerkenswerte Vielfalt an Möglichkeiten zur Überwindung von Problemen hervorbringt. Genau das haben die Fussballer einmal mehr unter Beweis gestellt.

Wir wurden nicht dazu geboren zu leiden

Die unterschiedlichen Umstünde des Spiels haben die argentinischen Fans durch ein Wechselbad der Gefühle geschickt. Von der Angst vor der ersten undenkbaren Niederlage gegen die Mannschaft aus Saudi-Arabien über die zwingend notwendigen Siege gegen Mexiko und Polen, um nicht aus dem Turnier auszuscheiden, bis hin zum Triumph gegen Australien, dem quälenden Sieg gegen die Niederlande und dem etwas entspannteren Ergebnis gegen Kroatien, war der gemeinsame Glaube an die fussballerischen Fähigkeiten der Nationalmannschaft zeitweise der Mast, der die erschütterten Herzen inmitten des Sturms von Toren hielt.

Und was soll man über das entscheidende Spiel gegen Frankreich sagen, in welchem das Ergebnis zweimal schon festzustehen schien! Zunächst zehn Minuten vor Schluss, als der Vorsprung von zwei Toren scheinbar zum Titelgewinn reichte, und dann drei Minuten vor Ende der Verlängerung, als niemand es für möglich hielt, Frankreich noch das 3:2 ausgleichen konnte. Gegen Ende des Spiels setzte bei einem gefährlichen Angriff, durch den ein Stürmer mit dem argentinischen Torhüter Angesicht zu Angesicht kam, das Herz für einen Moment aus. Emiliano „Dibu“ Martinez konnte jedoch mit einer unglaublichen Parade das Elfmeterschießen einleiten.

Das Gebetsbild von „San Dibu, dem Beschützer des Tores“, welches kurz vor dem Finale in den sozialen Medien verbreitet wurde, war die offensichtlichste Demonstration der Religiosität in der Stadt. Weit über den von den formalen Konfessionen oder ihrem Säkularismus vorgegebenen Rahmen hinaus zündeten Millionen Argentinier Kerzen an, verbrannten Weihrauch, wiederholten Mantras, bezeichneten einen ehemaligen Präsidenten als Unheilsbringer („mufa“, „yeta“, im Slang von Buenos Aires), wandten sich an die verschiedensten Kabalen und beriefen sich auf Versprechen, um für den Triumph Argentiniens zu beten.

Endlich wurde der lang ersehnte Traum wahr und zollte dem Eifer des Volkes, dem inneren Glauben und den Fähigkeiten eines jungen Mannes Tribut, der sich nicht um Konventionen scherte, der frech und unverschämt Hierarchien trotzte und der seine Auszeichnung als bester Torhüter des Turniers wie einen erigierten Penis vor den Augen von Scheichs, Emirs und anderen Exzellenzen zur Schau stellte.

Argentinien war zum Weltmeister 2022 gekürt worden. Trotz des nicht in Worte zu fassenden Glücks sowie vielleicht überwältigt vom emotionalen Sturm, den sie durchmachen mussten und den auch Millionen ihrer Landsleute erlebten, behaupteten dennoch viele: „Wir wurden geboren, um zu leiden“. Mit diesem Satz haben sie die Geschichte eines Landes zusammengefasst, welches von zahlreichen Formen der Gewalt zerrissen worden war.

Trotz der Freude, der Anerkennung und der Dankbarkeit für das Fußballergebnis sind wir mit diesem unglücklichen Satz nicht einverstanden. Vielmehr betrachten wir diesen Aphorismus als Paradebeispiel für künftige und wiederkehrende Niederlagen – als ein wahres Amulett des Unglücks.

Oder müssen wir uns weiterhin damit abfinden, dass die Existenz so vieler Menschen nicht standardgemäß menschenwürdig ist? Die Wiederholung des Slogans, dass das Leiden zum Leben gehört, stellt eine Beleidigung gegen die Option dar, die gegebenen Bedingungen zu verändern, in dem man sich gegen die Naturalisierung weitergegebener Regeln auflehnt, die nicht zur Verbesserung unseres Lebens beitragen.

Wir wurden nicht geboren, um zu leiden – weder Argentinier, noch Franzosen, noch irgendein anderer Mensch auf dieser Erde. Wir sind genau für das Gegenteil geboren: um uns immer mehr von allem Schmerz und Leid zu befreien, indem wir die Welt vermenschlichen. Das sollte das zentrale Ziel unserer Existenz darstellen.

Hoffen wir, dass der Beitrag jedes Einzelnen uns dem näher bringen wird, so dass wir alle gemeinsam das Glas erheben können.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Chris Hoellriegl vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!